T 1217/16 () of 18.9.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T121716.20190918
Datum der Entscheidung: 18 September 2019
Aktenzeichen: T 1217/16
Anmeldenummer: 09090012.7
IPC-Klasse: B61C 17/04
B60K 37/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Führerstand eines spurgebundenen Fahrzeuges, Insbesondere eines Schienenfahrzeugs
Name des Anmelders: Bombardier Transportation GmbH
Name des Einsprechenden: Siemens Aktiengesellschaft
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 111
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz - (ja)
Beweisaufnahme - Zeugenvernehmung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts, die am 22. März 2016 zur Post gegeben wurde und mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2163451 aufgrund des Artikels 101 (2) EPÜ zurückgewiesen worden ist.

II. Die Einspruchsabteilung hat im Wesentlichen entschieden, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 im Hinblick auf den im Verfahren befindlichen druckschriftlichen Stand der Technik auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

In Bezug auf die behauptete offenkundige Vorbenutzung BERNMOBIL (V1), angeblich belegbar durch die Dokumente D10 bis D25 (vgl. Entscheidung der Einspruchsabteilung, Seiten 1 und 2) und den Zeugen Daniel Sturm (vgl. Schriftsatz der Einsprechenden/Beschwerdeführerin zur Begründung des Einspruchs, Seiten 7 bis 9), hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass die vorgelegten Dokumente D10 bis D25 in Zusammenschau nicht die strittige Erfindung offenbaren. Der Zeuge wurde nicht gehört.

III. Am 18. September 2019 wurde mündlich vor der Beschwerdekammer verhandelt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Basis des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 (datiert 18. September 2019) oder eines der mit Schreiben vom 15. Februar 2016 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3, die als Hilfsanträge 2 bis 4 umnummeriert wurden.

IV. Der Anspruch 1 wie erteilt lautet wie folgt:

Führerstand eines spurgebundenen Fahrzeuges, insbesondere eines Schienenfahrzeugs, mit:

- einer Anzeigevorrichtung zur Darstellung von Informationen, die von einem Fahrer des Fahrzeugs während der Fahrt visuell erkennbar sind, wobei die Anzeigevorrichtung zumindest einen Bildschirm (11) aufweist,

- einem ersten Bedienelement(6) zur Steuerung des Antriebssystems und/oder des Bremssystems des Fahrzeugs, insbesondere ein Fahr-/Bremshebel,

einer Vielzahl von weiteren Bedienelementen (100,110, 112) zur Betätigung von Funktionen des Fahrzeugs, die nicht unmittelbar die Größe der Antriebskraft und der Bremskraft steuern,

wobei

a) die Anzeigevorrichtung in Fahrtrichtung vor dem Ort eines Fahrersitzes (25) angeordnet ist, sodass ein auf dem Fahrersitz (25) sitzender Fahrer (27) über die Anzeigevorrichtung hinweg durch eine Frontscheibe des Fahrzeugs blicken kann,

b) das erste Bedienelement (6) seitlich des Ortes des Fahrersitzes (25) oder seitlich vor dem Ort Fahrersitzes (25) auf einer ersten Seite des Ortes und auf einer Höhe angeordnet ist, in der die Hand des Fahrers (27) bei angewinkeltem und auf eine erste Armlehne (5) aufgelegtem Arm liegt, wenn der Fahrer (27) auf dem Fahrersitz (25) sitzt,

dadurch gekennzeichnet, dass

c) die weiteren Bedienelemente (100,110,112) in zwei Gruppen unterteilt sind, die jeweils in einem gemeinsamen Bedienbereich (2.23) angeordnet sind, wobei eine erste der zwei Gruppen Bedienelemente (110, 112) aufweist, die der Fahrer (27) während der Fahrt wiederholt zu betätigen hat, und wobei die zweite der zwei Gruppen Bedienelemente (100) aufweist, die der Fahrer (27) während der Fahrt nicht oder selten zu betätigen hat,

d) der erste Bedienbereich (23), in dem die erste Gruppe von Bedienelementen (110,112) angeordnet ist, auf einer zweiten Seite des Ortes des Fahrersitzes (25) angeordnet ist, wobei die zweite Seite des Ortes der ersten Seite des Ortes bezüglich einer in Fahrtrichtung (F) verlaufenden Längsachse des Fahrzeugs gegenüberliegt, sodass die erste Gruppe von Bedienelementen (110.112) von der anderen Hand des Fahrers (27), die nicht das erste Bedienelement (6) bedient, bei auf eine zweite Armlehne (140) aufgelegtem Unterarm erreichbar ist, während der Fahrer (27) auf dem Fahrersitz (25) sitzt,

e) der zweite Bedienbereich (2), in dem die zweite Gruppe von Bedienelementen (100) angeordnet ist, auf der ersten Seite des Ortes des Fahrersitzes (25) und aus Sicht des Fahrersitzes (25) weiter seitlich entfernt als das erste Bedienelement (6) von dem Fahrersitz (25) angeordnet ist.

V. Die Argumente der Beschwerdeführerin - soweit sie für die Entscheidung wesentlich waren - lauteten wie folgt:

Der im Einspruchsverfahren angebotene Zeuge Daniel Sturm hätte gehört werden müssen. Letztlich stelle der Zeuge ebenfalls ein Beweismittel dar, insbesondere für die Merkmale, die zwar nicht explizit den Zeichnungen der Vorbenutzung D10 bis D14 entnehmbar sind, in der Darstellung der Einspruchsbegründung aber im Detail ausgeführt seien. Dazu seien sämtliche Beweise zur Vorbenutzung gemeinsam zu würdigen. So sei mit dem Einspruchsschriftsatz insbesondere vorgebracht, dass die Funktionen der Tasten auf der Armlehne mit ,,Sanden", ,,Totmann", ,,Schienenbremse" belegt seien, dass die Armlehne rechts am Fahrersitz angebracht sei, dass es einen Fahrersitz und einen Bildschirm gebe und dass das hebelartige Bedienelement auf der linken Seite ein Fahr-/Bremshebel sei. Da diese Merkmale nicht alle aus den Zeichnungen D10 bis D14 erkennbar seien, sei zum Beleg der Aussagen ein Zeuge benannt worden. Somit habe auch der Zeuge Sturm nicht etwa Lücken füllen müssen, wie es die Einspruchsabteilung behauptet hat, sondern lediglich bestätigen müssen, was im Einspruchsschriftsatz dargelegt worden sei.

Ausgehend von D1 sei der Gegenstand des strittigen Anspruchs 1 nahegelegt. Insbesondere sei es nicht plausibel, dass es im Bereich des Monitors 14 und der Armauflage 13 (vgl. Figur 1) keine Bedienelemente geben solle. In der Figur 1 seien dort Schalter oder Knöpfe zur Betätigung von Funktionen vorgesehen.

Es entspreche nun allgemeinen ergonomischen Gestaltungsrichtlinien, die Bedienelemente mit hoher Bedienhäufigkeit zusammen zu gruppieren und diese Gruppe dann dorthin zu positionieren, wo sie mit der linken Hand einfach zu erreichen sei. Schließlich sei die rechte Hand für die Bedienung des Fahr-/Bremshebels vorgesehen.

Allgemeine ergonomische Gestaltungsregeln könnten auch den Dokumenten D2, D4, D8 und D9 entnommen werden.

Einer Zurückverweisung in die erste Instanz werde zugestimmt.

VI. Die Beschwerdegegnerin begegnete diesen Argumenten wie folgt:

Die behauptete offenkundige Vorbenutzung sei nicht ausreichend substantiiert. Zumindest hätte die Einsprechende/Beschwerdeführerin weitere Dokumente vorlegen müssen, aus denen z.B. hervorgehe, wie die Schalter der Armlehne gemäß D11 belegt seien. Insgesamt ergäben die Dokumente D10 bis D25 kein konsistentes und vollständiges Bild der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung. Stellenweise widersprächen sich auch die Darstellungen in den Figuren.

Letztlich reiche es nicht, wenn die fehlenden oder widersprüchlichen Informationen durch eine Zeugenaussage ergänzt würden.

Es sei aber korrekt, dass - wenn die Ausführungen der Beschwerdeführerin im Einspruchsschriftsatz, die anspruchsrelevanten Merkmale betreffend, vom Zeugen glaubhaft bestätigt werden würden - die behauptete offenkundige Vorbenutzung hoch relevant sei.

Ausgehend von Dokument D1 beruhe die strittige Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Bereich zwischen dem Monitor 14 und der Armauflage 13 in Figur 1 mit Bedienelementen ausgestattet sei, so wären mindestens zwei Schritte nötig, um zur strittigen Erfindung zu gelangen. Es wären zunächst Bedienelemente gemäß ihrer Bedienhäufigkeit zu gruppieren und in einem zweiten Schritt wäre dann diese Gruppe im Bereich der linken Hand anzuordnen. So sei für den zweiten Schritt kein Stand der Technik angeführt worden, aus dem sich ein Naheliegen herleiten könne, insbesondere sei keine ergonomische Gestaltungsrichtlinie angezogen worden, die ein Naheliegen erklären könne.

Die Argumentation der Einsprechenden/Beschwerdeführerin beruhe somit auf einer rückschauenden Betrachtungs­weise.

Es gebe keine Einwände gegen eine Zurückverweisung in die erste Instanz.

Entscheidungsgründe

1. Die behauptete offenkundige Vorbenutzung ist relevant, so dass der Zeuge Daniel Sturm, benannt von der Beschwerdeführerin, zum Beweis der behaupteten Tatsachen anzuhören ist.

1.1 Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Beschwerde­begründung gerügt, dass der Zeuge Sturm nicht im Einspruchs­verfahren gehört worden sei. Dieser sei zum Beweis der im Einspruchsschriftsatz behaupteten Tatsachen benannt worden.

1.2 Die Kammer stellt fest, dass die beschwerdeführende Einsprechende im Einspruchsverfahren im Detail ausgeführt hat, dass der Zeuge Daniel Sturm aufgrund seiner beruflichen Position zum Zeitpunkt der Offenbarung der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung in der Lage sein würde Beweis zu erbringen und dass er die behaupteten Vorgänge, die zur Veröffentlichung der Vorbenutzung geführt haben, bestätigen könne (vgl. Einspruchsschriftsatz, Seite 7, 2.2 ff.).

Weiterhin hat sie im Einzelnen dargetan (vgl. Einspruchsschriftsatz, Seite 10 ff.), an welchen Stellen der Dokumente D10 bis D14 die einzelnen Merkmale des Anspruchs 1 offenbart seien und dass der Zeuge Sturm auch dies bestätigen könne (vgl. Einspruchsschriftsatz, Seite 8, oben).

1.3 Daraus folgt, dass der Zeuge Sturm nicht etwa ,,Lücken in den von der Einsprechenden geltend gemachten Tatsachen füllen" muss, wie es die Einspruchsabteilung festgestellt hat, sondern - wie es der Sinn eines Beweismittels ist - angeboten wurde, um die von der Einsprechenden vorgebrachten Behauptungen zu erhärten.

Dabei ist es unerheblich, dass die Zeichnungen D10 bis D14 keinen Fahrersitz zeigen, die Funktion des hebelartigen Bedienelements nicht aus D10 hervorgeht, die Funktion der Taster in der Armlehne nicht aus D11 ersichtlich ist oder dass die Armlehne gemäß D11 nicht in der Übersichtszeichnung D10 zu erkennen ist.

Diese in den Zeichnungen fehlenden oder inkonsistenten Informationen hat die beschwerdeführende Einsprechende vollständig erklärt und ergänzt, so dass sich ein schlüssiges Gesamtbild der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung ergibt. Zum Beweis ihrer gesamten Darlegungen hat sie den Zeugen angeboten.

Weiter hebt die Kammer hervor, dass sich nicht notwendigerweise alle Merkmale aus den vorgelegten Dokumenten ergeben müssen. Eine Einschränkung des Zeugenbeweises auf die Authentizität der Dokumente und ggf. deren Offenkundigkeit ist nicht zulässig und dem EPÜ, das die einzelnen Arten von Beweismitteln als gleichwertig behandelt, nicht zu entnehmen.

1.4 Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin gab in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer an, dass - wenn der Zeuge in der Lage sein sollte, die Ausführungen der Beschwerdeführerin/Einsprechenden zu den einzelnen Merkmalen des Anspruchs 1 glaubhaft zu bestätigen - die behauptete offenkundige Vorbenutzung alle Merkmale des Anspruchs 1 offenbare.

Von daher weist die behauptete offenkundige Vorbenutzung unstrittig eine Relevanz auf, die eine Einvernahme des Zeugen zwingend erfordert.

1.5 Gegen die Zurückverweisung des Falls an die erste Instanz zur Zeugeneinvernahme und weiteren Behandlung wurden keine Einwände vorgebracht. Die Kammer sieht auch keine besonderen Gründe vorliegen, die gegen eine Zurückverweisung sprächen, Artikel 111 EPÜ.

2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 und das Verfahren des Anspruchs 7 beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ, gegenüber dem im Verfahren befindlichen druckschriftlichen Stand der Technik.

Die beschwerdeführende Einsprechende stützt sich im Beschwerdeverfahren im Wesentlichen auf dieselben Argumente wie im Verfahren vor der Einspruchsabteilung.

Die Kammer teilt diesbezüglich uneingeschränkt die Auffassung der Einspruchsabteilung und hat dieser nichts hinzuzufügen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur weiteren Verhandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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