T 1065/16 () of 26.6.2018

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2018:T106516.20180626
Datum der Entscheidung: 26 Juni 2018
Aktenzeichen: T 1065/16
Anmeldenummer: 10752316.9
IPC-Klasse: B41J 3/407
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Vorrichtung zum Behandeln von Packmitteln
Name des Anmelders: KHS GmbH
Name des Einsprechenden: Krones AG
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention R 103(1)(a)
Schlagwörter: Rechtliches Gehör - nein
Mangelnde Ausführbarkeit - nein
Zurückverweisung an die erste Instanz - ja
Rückzahlung der Beschwerdegebühr an Beschwerdeführerin I - ja
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
G 0010/91
G 0003/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin I (Patentinhaberin) und die Beschwerdeführerin II (Einsprechende) haben am 26. April 2016 bzw. am 11. Mai 2016 gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 4. März 2016 über die Fassung, in der das europäische Patent Nr. 2 331 337 in geändertem Umfang aufrechterhalten werden kann, Beschwerde eingelegt. Die jeweiligen Beschwerdebegründungen sind am 1. Juli bzw. am 24. Juni 2016 eingegangen.

Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit, Artikel 56 EPÜ, mangelnde erfinderische Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ) angegriffen worden.

II. In den nachfolgenden Abschnitten II bis VI wird der Verlauf des Einspruchsverfahrens in Hinblick auf für das Beschwerdeverfahren relevante Aspekte zusammengefasst.

In Erwiderung auf den Einspruch beantragte die Patentinhaberin mit Schreiben vom 25. Juli 2013 die Aufrechterhaltung des Streitpatents auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 17 des Hauptantrags, dessen Anspruch 1 wie folgt lautet:

"Vorrichtung zum Behandeln von Packmitteln (1), wie Flaschen, Dosen oder dergleichen Behältern, mit einer vorrichtungsinternen Transportstrecke (5, 6, 7), auf der die Behandlung der Packmittel (1) an Bearbeitungsstationen (8) in wenigstens einem bevorzugt in wenigstens zwei Prozessschritten erfolgt, sowie mit Halte- und Zentriereinheiten (9, 9a - 9c), mit denen die Packmittel (1) zumindest während des jeweiligen Prozessschrittes in einer für diesen Prozessschritt notwendigen Orientierung an dem vorrichtungsinternen Transportsystem angeordnet sind und/oder mit denen die Packmittel (1) zumindest während eines Prozessschrittes bewegt werden, wobei das vorrichtungsinterne Transportsystem wenigstens zwei in Transportrichtung aufeinander folgende Transportelemente (5, 6, 7) derart aufweist, und dass die Halte- und Zentriereinheiten (9, 9a - 9c) von den Transportelementen (5, 6, 7) unabhängige Einheiten sind, die zusammen mit den an ihnen gehaltenen Packmitteln (1) von einem Transportelement (5, 6) an das in Transportrichtung folgende Transportelement (6, 7) weitergeleitet werden, so dass jedes Packmittel (1) während des gesamten Prozesses an ein und derselben Halte- und Zentriereinheit (9, 9a - 9c) gehalten ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Halte- und Zentriereinheiten (9, 9a - 9c) für eine hängende Halterung der Packmittel (1) ausgebildet sind und die Halte- und Zentriereinheiten (9a, 9c) für ein Einspannen der Packmittel (1) zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück, beispielsweise in Form eines Spann- oder Zentrierkegels (22), und einem Gegenlager, beispielsweise in Form eines Packmittelträgers (23, 24, 25) ausgebildet sind."

Der Wortlaut des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Beschwerdeverfahren ist die gleiche.

III. Mit Schreiben vom 3. September 2013 erhob die Einsprechende einen Klarheitseinwand unter Artikel 84 EPÜ gegen Anspruch 1 des Hauptantrags.

IV. In einem Bescheid der Einspruchsabteilung vom 24. April 2014 wurde die Patentinhaberin gebeten eine Stellungnahme einzureichen. In Punkt 1 dieses Bescheids führte die Einspruchsabteilung aus:

"Zu "den Erfordernissen dieses Übereinkommens" bzw. der Patentfähigkeit gehört das Erfordernis nach Klarheit und Stützung durch die Beschreibung (Artikel 84 EPÜ).

Die Einspruchsabteilung hat also auch zu prüfen, ob der geänderte Anspruch 1 dem Erfordernis nach Klarheit genügt, selbst wenn er wörtlich einem erteilten Anspruch entspricht."

V. In einer Mitteilung vom 1. Juni 2015, die als Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung beigefügt war, wurde auf die in der Verhandlung zu erörternden Punkte hingewiesen:

"Einleitend wäre darauf hinzuweisen, dass nach der Entscheidung G3/14 eine Prüfung des geltenden Anspruchs 1 hinsichtlich Klarheit (Artikel 84 EPÜ), eingereicht per Telefax am 25.07.2013, nicht zu erfolgen hat.

Es sind also nur folgende Punkte zu erörtern:

Neuheit und erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des Patentanspruchs 1 im Hinblick auf den vorliegenden druckschriftlich belegten Stand der Technik."

Die Einsprechende beantragte zu Beginn der Verhandlung vor der Einspruchsabteilung die Frage der Ausführbarkeit auf der Grundlage der Entscheidung G 3/14 (Seite 88) ex officio zu prüfen, siehe Punkt 2 der Niederschrift vom 4. März 2016. Die Patentinhaberin entgegnete darauf, dass dieser Einwand nach Artikel 83 EPÜ früher hätte geltend gemacht werden müssen, und beantragte, die Zulässigkeit dieses Einwands zu prüfen.

Nach einer kurzen Unterbrechung der mündlichen Verhandlung(9:44 bis 9:57 Uhr) teilte die Vorsitzende der Einspruchsabteilung den Beteiligten mit, dass die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Antrag der Einsprechenden zulässig ist und dass der Gegenstand des Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse vom Artikel 83 EPÜ nicht erfüllt, siehe Niederschrift, Punkt 3, Seite 2, erster Absatz.

VI. Die Einspruchsabteilung hat in der angefochtenen Entscheidung zur Zulässigkeit des Antrags der Einsprechenden, die Ansprüche hinsichtlich des Einspruchsgrundes "Ausführbarkeit" (Artikel 83 EPÜ) ex officio zu prüfen Folgendes ausgeführt:

"Diesem Antrag wurde stattgegeben, da bei einer Prüfung "ex officio" hinsichtlich des Vorliegens von seitens der Einsprechenden bisher noch nicht aufgegriffenen Einspruchsgründen aufgrund eines augenscheinlichen Verstoßes gegen die Klarheit (Artikel 84 EPÜ) das von der Patentinhaberin vorgebrachte Argument des verspäteten Vorbringens nicht greift" (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 3).

Zum Einwand der mangelnder Offenbarung führte die Einspruchsabteilung in der Entscheidung Folgendes aus (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 4.2):

"4.2 Der Anspruch 1 definiert Varianten, die nicht ausführbar sind.

Diese nicht ausführbaren Varianten weisen eine Halte- und Zentriereinheit auf, die einerseits, wie der Anspruch 1 zu interpretieren ist, selbst für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet sind, andererseits jedoch für ein Einspannen der Packmittel zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück, beispielsweise in Form eines Spann- oder Zentrierkegels, und einem Gegenlager, beispielsweise in Form eines Packmittelträgers ausgebildet sind.

Die Halte- und Zentriereinheiten 9a und 9c dieser Ausführungsbeispiele sind deutlich erkennbar selbst nicht für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet, sondern sind lediglich für ein Einspannen der Packmittel zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück, nämlich in Form eines Spann- oder Zentrierkegels (22), und dem zugeordneten Gegenlager in Form des Packmittelträgers (23, 25) ausgebildet.

Der gesamten Patentschrift ist kein Hinweis darauf entnehmbar, wie bei Ausführungsformen, bei denen die Behälterunterseite auf einem der Halte- und Zentriereinheit lediglich zugeordneten Packmittelträger aufsitzt gleichzeitig eine hängende Halterung der Packmittel durch die Halte- und Zentriereinheiten selbst erreicht werden kann.

Auch aufgrund üblicher fachlicher Überlegungen erschließt sich dem Fachmann nicht, wie dies erreicht werden kann.

Folglich fehlt es diesen Varianten an der Ausführbarkeit im Sinne des Artikels 83 EPÜ."

Die Einspruchsabteilung war ferner der Auffassung, dass die Änderungen in den jeweiligen Ansprüchen 1 der während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträge I bis III den Erfordernissen des Artikels 123 (2) nicht genügten (siehe Entscheidungsgründe, Punkte 5 bis 7), aber dass der während der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag IV den Erfordernissen der Artikel 54, 56, 83 und 123 (2) EPÜ genügte (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 8).

VII. In einer Mitteilung vom 26. Januar 2018 führte die Kammer unter anderem Folgendes aus:

"1. Rechtliches Gehör (Artikel 113 (1) EPÜ)

[...]

1.4 Im vorliegenden Fall hatte die Einsprechende bis zur mündlichen Verhandlung den beantragten Widerruf des Patents lediglich auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) gestützt. [...]

1.5 Um dem Erfordernis des Artikels 113 (1) EPÜ im vorliegenden Fall zu genügen, hätte die Patentinhaberin vor dem Erlass der Entscheidung auch von den wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründen unterrichtet werden müssen, die das Patent nach Ansicht der Einspruchsabteilung in seinem Rechtsbestand gefährden und zum Widerruf führen könnten. Danach hätte die Patentinhaberin auch ausreichend Gelegenheit erhalten müssen, sich zu diesem neuen Grund zu äußern [...].

1.6 Da nichts dergleichen erfolgte scheint die Einspruchsabteilung gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoßen zu haben, so dass und das Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet ist. Die Kammer ist aus den oben dargestellten Gründen der Meinung, dass die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben ist und die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen ist und die Beschwerdegebühr zurückzuerstatten ist."

Ferner war die Kammer der vorläufigen Auffassung, dass die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Erfindung so deutlich und vollständig offenbart zu sein scheint, dass ein Fachmann sie ausführen kann, siehe Punkt 2.4 der Mitteilung. In Punkt 3 führte die Kammer Folgendes aus:

"Aufgrund der Mitteilung könnte die Kammer die Angelegenheit ohne mündliche Verhandlung vor der Kammer an die Einspruchsabteilung zurückverweisen.

Den Parteien werden gebeten zu erklären, ob sie damit einverstanden sind."

VIII. Die Beschwerdeführerin I hat ihr Einverständnis mit der von der Kammer vorgeschlagenen Vorgehensweise erklärt. Sie hat ihren Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 EPÜ zurückgenommen und beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurück zu verweisen.

IX. Die Beschwerdeführerin II hat erklärt, dass sie mit einer Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden ist.

Sie hat folgende Verfahrensanträge gestellt:

"(1) Die Beschwerdekammer entscheidet die Frage, ob die Lehre gemäß den Patentansprüchen des Hauptantrags ausführbar ist oder nicht.

(2) Sollte die Beschwerdekammer entgegen dem Antrag (1) keine Entscheidung dahingehend treffen, ob die Lehre gemäß den Patentansprüchen des Hauptantrags ausführbar ist oder nicht, verweist sie die Angelegenheit an die erste Instanz zur Diskussion der Frage der Ausführbarkeit der Lehre gemäß der Patentansprüche des Hauptantrags unter der Klarstellung zurück, dass die Einspruchsabteilung nach weiterem Vortrag und weiterer Diskussion beider Parteien objektiv zu entscheiden hat ohne die Ausführungen zur Ausführbarkeit in der Mitteilung der Beschwerdekammer vom 26.01.2018 zu berücksichtigen."

X. Am 26. Juni 2018 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.

XI. Die Beschwerdeführerin I beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags, oder eines der Hilfsanträge 9 bis 15 oder I bis VIII aufrechtzuerhalten, alle eingegangen am 1. Juli 2016. Weiterhin beantragte sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.

Die Beschwerdeführerin II beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

XII. Die Beschwerdeführerin I hat im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Liegt in der angefochtenen Entscheidung ein wesentlicher Verfahrensmangel vor?

Innerhalb der Einspruchsfrist sei der Einspruch ausschließlich darauf gestützt gewesen, dass der Gegenstand des Streitpatents nicht neu sei und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Im Schriftsatz vom 3. September 2013 habe die Einsprechende zum ersten Mal den Einwand mangelnder Klarheit (Artikel 84 EPÜ) in Bezug auf Anspruch 1 des Hauptantrags erhoben. In dem der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 2015 beigefügten Bescheid sei seitens der Einspruchsabteilung ausgeführt worden, dass basierend auf der Entscheidung G 3/14 eine Prüfung des Anspruchs 1 des Hauptantrags hinsichtlich Klarheit nicht zu erfolgen habe. Es seien lediglich die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands dieses Anspruchs im Hinblick auf den druckschriftlich belegten Stand der Technik zu erörtern.

Zu Beginn der mündlichen Verhandlung habe die Einsprechende erstmalig den Antrag gestellt, die Ansprüche hinsichtlich des Einspruchsgrundes "Ausführbarkeit" (Artikel 83 EPÜ) ex officio zu prüfen. Zudem sei anzumerken, dass dieser neue Einspruchsgrund völlig überraschend für die Patentinhaberin eingeführt wurde und diese damit keine Gelegenheit hatte, diesen Einspruchsgrund eingehend zu prüfen. Im gesamten Verlauf des schriftlichen Verfahrens sei weder von der Einsprechenden noch von der Einspruchsabteilung die Ausführbarkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags in Frage gestellt. Dies wiege um so schwerer, da dieser Anspruch 1 sich ausschließlich aus Merkmalen der erteilten Patentansprüche 1 bis 3 zusammensetze und damit die Einsprechende die Möglichkeit gehabt hätte, die mangelnde Ausführbarkeit bereits innerhalb der Einspruchsfrist zu beanstanden.

Der Antrag der Einsprechenden, den Einspruchsgrund mangelnder Ausführbarkeit von Amts wegen in der mündlichen Verhandlung zu ermitteln, sei aus Sicht der Patentinhaberin unzulässig.

Artikel 114 (1) EPÜ gebe dem Europäischen Patentamt die Möglichkeit, einen Sachverhalt von sich aus von Amts wegen zu ermitteln. Der Antrag der Einsprechenden auf Amtsermittlung laufe dem zuwider, da hier nicht von Amts wegen die Ermittlung aufgenommen werde, sondern der Antrag der Einsprechenden den Auslöser dafür gegeben habe.

Gemäß der Entscheidung G 10/91 könnten Einspruchsgründe, die durch die Erklärung nach Regel 76 (2) c) EPÜ nicht gedeckt seien, ausnahmsweise von Amts wegen geprüft werden, wenn sie prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenzustehen scheinen. Eine solche augenscheinliche mangelnde Ausführbarkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags liege aber offensichtlich nicht vor, da ansonsten die Einspruchsabteilung nicht erst durch den Hinweis der Einsprechenden sondern von sich aus auf diesen bestehenden Einspruchsgrund aufmerksam geworden wäre.

Die Patentinhaberin hätte in dieser späten Phase des Verfahrens, nämlich erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, nicht damit rechnen müssen, mit einem neuen Einspruchsgrund konfrontiert zu werden, zu dem eine umfangreiche, inhaltliche Einarbeitung erforderlich gewesen wäre, um ad hoc in der mündlichen Verhandlung zu dem Einspruchsgrund inhaltlich Stellung nehmen zu können. Die Einsprechende versuche diese überraschende Einführung des neuen Einspruchsgrundes damit abzutun, dass die Klarheit des Anspruchs 1 des Hauptantrags bereits frühzeitig im Verfahren diskutiert worden sei und dass eine Nähe zwischen "Klarheit" und "Ausführbarkeit" bestehe. Zudem hätte die Patentinhaberin gefasst sein müssen, dass die Einsprechende die Entscheidung G 3/14 genau analysieren würde, um diese im Verfahren zu ihrem Vorteil einzusetzen.

Die Kriterien, ob ein Anspruch Artikel 83 EPÜ bzw. Artikel 84 EPÜ erfülle, seien vollkommen unterschiedlich zueinander. Bei ersteren gehe es darum, ob ein Fachmann die Erfindung basierend auf der Gesamtoffenbarung unter Hinzuziehung des Fachwissens nacharbeiten könne, bei der Beurteilung der Klarheit hingegen gehe es darum, ob der Patentanspruch klar formuliert sei, da der Schutzbereich des europäischen Patents oder der europäischen Anmeldung durch die Patentansprüche bestimmt werde. Lediglich zu Auslegungszwecken könne die Beschreibung herangezogen werden.

Damit verfolgten Artikel 83 EPÜ und Artikel 84 EPÜ vollständig unterschiedliche Rechtszwecke und es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Patentinhaberin "vorbeugend" mit der Möglichkeit auseinandergesetzt habe, dass möglicherweise der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit im Rahmen der mündlichen Verhandlung geltend gemacht werde. Auch habe die Einspruchsabteilung der Patentinhaberin keine Gelegenheit gegeben, sich eingehend mit dem neuen Einspruchsgrund zu beschäftigen. Für den Fall, dass die Einspruchsabteilung für sich im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zur Auffassung gelangt wäre, dass die Ausführbarkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags fraglich sei, hätte der Einsprechenden ausreichend Zeit gegeben werden müssen, diesen Einspruchsgrund zu prüfen, und zwar durch eine Zurückverweisung ins schriftliche Verfahren. Da dies nicht erfolgt sei, wurde gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen.

Ferner erscheine es unrealistisch, dass sowohl eine Prüfung der Zulässigkeit eines völlig neuen Einspruchsgrundes als auch eine sachlich fundierte Prüfung dieses Einspruchsgrundes durch die Einspruchsabteilung in einer Verhandlungsunterbrechung von 13 Minuten, die auch das Betreten und das Verlassen des Sitzungsraums durch die Parteien einschließe, erfolgen konnte, so dass auch aus diesem Grunde die Einführung des neuen Einspruchsgrundes unzulässig sei. Es sei höchst zweifelhaft, wie in einer derart kurzen Zeit die Ausführbarkeit inhaltlich geprüft werden konnte. Hierzu hätte die gesamte Offenbarung des Streitpatents dahingehend geprüft werden müssen, ob diese den Fachmann in die Lage versetze, den beanspruchten Gegenstand nachzuarbeiten. Die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung aufgrund eines wesentlichen Verfahrensmangels und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sei damit vollauf begründet.

Einwand mangelnder Ausführbarkeit

Zur Ausführbarkeit führe die Einspruchsabteilung aus, dass Anspruch 1 gemäß Hauptantrag Varianten definiere, die nicht ausführbar seien. Diese nicht ausführbaren Varianten wiesen eine Halte- und Zentriereinheit auf, die einerseits für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet seien, andererseits Varianten bei denen die Behälterunterseite auf einem Packmittelträger aufsitze, siehe Figur 16, Positionen a und c.

Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lege eindeutig fest, dass die Halte- und Zentriereinheit sowohl zur hängenden Halterung als auch zum Einspannen des Packmittels zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück und einem Gegenlager ausgebildet sei. Demgemäß weise eine solche Halte- und Zentriereinheit Mittel auf, die sowohl die hängende Halterung als auch das Einspannen des Packmittels bewirken.

Die Einspruchsabteilung scheine anzuerkennen, dass die Halte- und Zentriereinheiten gemäß Figur 16, linke und rechte Abbildung (Bezugszeichen 9a, 9c) keine hängende Halterung der Packmittel zeigen. Es erscheine aber nicht nachvollziehbar, wieso dann offenbarte Ausführungsformen, bei denen die Behälterunterseite auf einem Packmittelträger aufstehe, zu einer mangelnden Ausführbarkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags führen sollte, wenn diese Ausführungsformen keine hängende Halterung des Behälters implementieren und damit nicht dem Anspruch 1 unterfallen.

Figur 1 des Patents zeige (siehe Absatz [0012] des Patents) eine Halte- und Zentriereinheit 9, an dem eine Flasche hängend gehalten werde (vgl. auch die Kurzbeschreibung der Figur 1 in Absatz [0008]). Die Halte- und Zentriereinheit weise ein Flascheneinspannelement in Form eines Greifers oder einer Spanngabel 11 auf, an der die Flasche an ihrem Mündungsbereich durch Einspannen gehalten ist. Die Spanngabel bewirke das Einspannen des Packmittels (der Flasche). Auch die Figur 4 offenbare eine an der Halte- und Zentriereinheit hängend gehaltene Flasche, siehe die Kurzbeschreibung der Figur 4 in Absatz [0008].

Figur 16, mittlere Abbildung, zeige (siehe Absatz [0034]) eine Halte- und Zentriereinheit 9b, bei der der das Flascheneinspannelement oder Gegenlager bildende Behälterträger 24 in die Halte- und Zentriereinheit 9b integriert sei.

Aus der genannten Offenbarungsstellen erkenne der Fachmann ohne Weiteres, dass in der Patentschrift unterschiedliche Ausführungsbeispiele offenbart seien, wobei ein Teil der Ausführungsbeispiele der Halte- und Zentriereinheiten zur hängenden Halterung der zu behandelnden Behälter ausgebildet sei, d. h. der zu behandelnde untere Teil des Behälters hängt während der Behälterbehandlung frei und der Behälter werde ausschließlich im Mündungsbereich (ohne unterseitige Unterstützung) "eingespannt" gehalten.

Die Beschwerdeführerin II führe aus, dass Anspruch 1 des Hauptantrags offensichtlich nicht ausführbare Varianten in Form von Halte- und Zentriereinheiten umfasse, die einerseits für ein Einspannen der Packmittel zwischen einem Spannstück und einem Gegenlager, das in Form eines Behälterträgers ausgebildet sein könne, auf dem der Boden des Packmittels aufsitze, und anderseits für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet seien. Dies sei unzutreffend. Dieser Anspruch enthalte kein Merkmal, das angebe, dass der Boden des Packmittels auf dem Gegenlager (beispielsweise gebildet durch einen Packmittelträger) aufsitze. In ihrer allgemeinsten Form geben die Merkmale des Anspruchs 1 des Hauptantrags an, dass die Halte- und Zentriereinheit das Packmittel hängend halten und dabei gleichzeitig zwischen einem gegen die Packmitteloberseite (d.h. dem Mündungsbereich) anliegenden Spannstück und einem Gegenlager einspanne.

Damit seien in der Patentschrift eindeutige Ausführungsbeispiele aufgezeigt worden, anhand derer es für den Fachmann möglich sei, die Erfindung auszuführen.

XIII. Die Beschwerdeführerin II hat im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Liegt in der angefochtenen Entscheidung ein wesentlicher Verfahrensmangel vor?

Gemäß der Entscheidung G 3/14, auf die von der Einspruchsabteilung in ihrer Ladung verwiesen wurde, können bei geänderten Patentansprüchen die anderen Einspruchsgrunde ex officio geprüft werden, siehe Entscheidungsgründe, Punkt 80 h). Hierauf habe die Beschwerdeführerin II in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hingewiesen. Der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit sei auf Antrag der Einsprechenden auf der Grundlage der Entscheidung G 3/14 und G 9/91 und G 10/91) ex officio geprüft worden. Es handele sich somit nicht um einen Einspruchsgrund, der zu einem späten Zeitpunkt von der Beschwerdeführerin II ins Verfahren eingeführt wurde, mit der Konsequenz, dass die Ausführungen in den Entscheidungen G 9/91 und G 10/91, auf die sich die Beschwerdekammer in ihrer Mitteilung beziehe, hier nicht greifen.

Anspruch 1 des Hauptantrags umfasse offensichtlich nicht ausführbare Varianten in Form von Halte- und Zentriereinheiten, die einerseits für ein Einspannen der Packmittel zwischen einem Spannstück und einem Gegenlager, das in Form eines Behälterträgers ausgebildet sein könne, auf dem der Boden des Packmittels aufsitze, und anderseits für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet seien. Somit liege klar ein Fall vor, in dem im Sinne der G 3/14 ein ex officio Prüfung angebracht sei. Ob eine solche ex officio Prüfung auf Antrag einer Partei erfolgt oder nicht sei irrelevant.

Außerdem sei unzutreffend, dass die Beschwerdeführerin I nicht ausreichend Zeit gehabt hätte, sich mit der Frage der Ausführbarkeit auseinander zu setzen. Denn die Argumente, die schließlich dazu geführt haben, dass die Einspruchsabteilung die in Patentanspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Lehre als nicht ausführbar angesehen habe, wurden - bevor sich die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 4/13 zur Frage der Klarheit im Einspruchsverfahren geäußert habe - im schriftlichen Einspruchsverfahren unter dem Aspekt der Klarheit diskutiert. So habe die Beschwerdeführerin II bereits im Schriftsatz vom 3. September 2013 argumentiert, dass Anspruch 1 des Hauptantrags als eine Kombination von erteilten Patentansprüchen wegen der Merkmale, die nach der Entscheidung der Einspruchsabteilung zur mangelnden Ausführbarkeit geführt haben, unklar sei und dass Klarheit als solches angesichts der damaligen Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu prüfen sei. Die Beschwerdeführerin I habe in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ausreichend Gelegenheit gehabt, sich zu dem Einwand der mangelnden Ausführbarkeit zu äußern, was sie auch getan habe. Damit sei das rechtliche Gehör bereits gewährt worden. In vielen R-Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer sei bestätigt worden, dass das rechtliche Gehör gewährt sei, wenn den Beteiligten ausreichend Gelegenheit geboten wurde, sich zu dem strittigen Sachverhalt zu äußern. Wenn die Beschwerdeführerin I mehr Zeit gebraucht hätte, hätte sie eine Unterbrechung der Verhandlung beantragen können, was sie nicht getan habe.

In ihrem Bescheid vom 24. April 2014 habe die Einspruchsabteilung zu diesem Klarheitsangriff Stellung genommen und dabei die Auffassung vertreten, dass sie die Klarheit des Anspruchs 1 des Hauptantrags zu prüfen habe und dass dieser Anspruch unklar sei. Daraufhin habe die Beschwerdeführerin I in ihrem Schriftsatz vom 6. August 2014 detailliert sowohl zur Frage, ob Klarheit zu prüfen sei, als auch zur Frage, ob Anspruch 1 des Hauptantrags als solcher klar sei, Stellung genommen. In ihrer Ladung vom 1. Juni 2015 habe die Einspruchsabteilung darauf hingewiesen, dass angesichts der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung G 3/14 vom 24. März 2015 der Klarheitseinwand in der mündlichen Verhandlung nicht zu prüfen sei. Spätestens zum Zeitpunkt als die Beschwerdeführerin I diese Ladung gelesen habe, müsse ihr klar gewesen sein, dass die Beschwerdeführerin II die Entscheidung G 3/14 im Detail im Hinblick darauf hin untersuchen werde, ob sie in dieser Entscheidung irgendwelche Hinweise finde, ob und wenn, wie sie die bereits vorgetragene mangelnde Klarheit des Patentanspruch 1 des neuen Hauptantrags in dem vorliegenden Verfahren noch zu ihrem Vorteil einsetzen könne. Dies insbesondere auch da langläufig bekannt sei, dass mangelnde Klarheit auch eine mangelnde Ausführbarkeit nach sich ziehen könne. So sei in Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 8. Auflage, S. 407 ff. diesem Thema ein ganzes Kapitel, nämlich das Kapitel 11.C.7 mit dem Titel "Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84" gewidmet. Im Rahmen der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung müsste die Beschwerdeführerin I dann beim Studium der G 3/14 auch auf den Hinweis der Großen Beschwerdekammer gestoßen sein, dass eine Einspruchsabteilung bei geänderten Unterlagen einen noch nicht diskutierten Einspruchsgrund jederzeit ex officio einführen könne. Die Beschwerdeführerin I werde sich wohl deshalb auch entsprechend darauf vorbereitet haben.

Die Beschwerdeführerin I trage vor, dass der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit auf Initiative der Beschwerdeführerin II in das Verfahren eingeführt wurde und somit nach den Grundsätzen der Entscheidung G 9/91 wie ein von einem Einsprechenden eingeführter Grund (insbesondere im Hinblick auf prima facie Relevanz) hatte geprüft werden müssen. Diese Ansicht sei unzutreffend. Der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit sei von der Einspruchsabteilung ex officio eingeführt worden, wie sie dies auf in ihrer Entscheidung klar dargelegt und begründet habe (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 3). Dabei sei es völlig unbeachtlich aus welchen Beweggründen sie das getan habe, also ob aus eigenem Antrieb oder auf Antrag einer der Beteiligten hin.

Es liege deshalb kein wesentlicher Verfahrensmangel, insbesondere keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin I vor.

Einwand mangelnder Ausführbarkeit

Anspruch 1 des Hauptantrags sei eine Kombination der Ansprüche 1 bis 3 wie erteilt.

Anspruch 2 wie erteilt sei dadurch gekennzeichnet, "dass die Halte- und Zentriereinheiten (9, 9a - 9c) für eine hängende Halterung der Packmittel (1) ausgebildet sind". Die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Halte- und Zentriereinheiten seien deshalb für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet.

Anspruch 3 wie erteilt sei dadurch gekennzeichnet, "dass die Halte- und Zentriereinheiten (9a, 9c) für ein Einspannen der Packmittel (1) zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück, beispielsweise in Form eines Spann- oder Zentrierkegels (22), und einem Gegenlager, beispielsweise in Form eines Packmittelträgers (23, 24, 25) ausgebildet sind". Diese Variante beinhalte Halte- und Zentriereinheiten, die für ein Einspannen der Packmittel zwischen einem Spannstück und einem Gegenlager, das in Form eines Behälterträgers ausgebildet sein könne, auf dem der Boden des Packmittels aufsitze, und anderseits für eine hängende Halterung der Packmittel ausgebildet seien. Das fakultative Merkmal "[Gegenlager,] beispielsweise in Form eines Packmittelträgers (23, 24, 25) ausgebildet sind" umfasse Packmittelträger 23, 25 auf dem der Boden des Packmittels aufsitze, siehe die Figur 16, Positionen a und c, so dass die Packmittel nicht länger hängend gehalten werden. Das zusätzliche Merkmal des Anspruchs 3 wie erteilt widerspreche somit das zusätzliche Merkmal des Anspruchs 1 wie erteilt. Das fakultative Merkmal "[Spannstück,] beispielsweise in Form eines Spann- oder Zentrierkegels (22)" finde sich nicht weder in Figur 16, Position b noch in Figur 1, die eine hängende Halterung der Packmittel zeige. Die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Halte- und Zentriereinheiten seien deshalb für ein Einspannen der der Packmittel ausgebildet.

Es sei die Kombination des erteilten Anspruchs 2 ("Halte- und Zentriereinheiten für eine hängende Halterung der Packmittel") und des erteilten Anspruchs 3 ("Halte- und Zentriereinheiten für ein Einspannen der Packmittel"), die insbesondere in der beanspruchten Allgemeinheit nicht ausführbar sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerden sind zulässig.

HAUPTANTRAG

2. Rechtliches Gehör (Artikel 113 (1) EPÜ)

2.1 Zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 16. Februar 2016 vor der Einspruchsabteilung beantragte die Beschwerdeführerin II die Frage der Ausführbarkeit von Amts wegen zu prüfen. Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin I die Zulässigkeit dieses Antrags zu prüfen, siehe Punkt VI oben.

Nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer in den Fällen G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408, Randnummer 16 der Entscheidungsgründe) und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420, Punkt 2 des Leitsatzes) sollte in einem späten Stadium des Einspruchsverfahrens ein neuer Einspruchsgrund nur in Ausnahmefällen geprüft werden, zum Beispiel wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, dass dieser Einspruchsgrund relevant ist und der Aufrechterhaltung des Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würde. In der Entscheidung G 3/94 hat die Große Beschwerdekammer diese Praxis ausdrücklich bestätigt, siehe Entscheidungsgründe, Punkt 80, Buchstabe h).

Die Beschwerdeführerin II hat in ihrer Einspruchsschrift den beantragten Widerruf des Patents lediglich auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) gestützt und später im Einspruchsverfahren einen Einwand mangelnder Klarheit erhoben (Artikel 84 EPÜ). Bis zur mündlichen Verhandlung war der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit, Artikel 100 b) EPÜ in Verbindung mit Artikel 83 EPÜ nicht Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Es handelt sich also um einen neuen Einspruchsgrund.

In der Tatsache, dass die Einspruchsabteilung diesen neuen Einspruchsgrund im Einspruchsverfahren zugelassen hat, kann die Kammer an sich keinen Verfahrensmangel erkennen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Einspruchsabteilung diesen neuen Einspruchsgrund von Amts wegen oder auf Antrag einer der Beteiligten zugelassen hat.

2.2 In der Ladungsmitteilung der Einspruchsabteilung vom 1. Juni 2015 (siehe Punkt V oben) hat die Einspruchsabteilung ausdrücklich darauf verwiesen, dass eine Prüfung des geltenden Anspruchs 1 hinsichtlich Klarheit (Artikel 84 EPÜ) nicht zu erfolgen hat (Hervorhebung der Einspruchsabteilung) und dass nur Neuheit und erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 zu erörtern sind (Hervorhebung der Kammer).

Die Beschwerdeführerin I konnte aufgrund dieser Mitteilung davon ausgehen, dass ein Einwand unter Artikel 84 oder 83 EPÜ nicht länger Gegenstand des Einspruchsverfahrens war und in der mündlichen Verhandlung nicht zu diskutieren war. Die Einführung des neuen Einspruchsgrundes kam somit überraschend, womit die Beschwerdeführerin I nicht hätte rechnen müssen.

Es scheint, dass die Einspruchsabteilung den neuen Einspruchsgrund als nicht verspätet angesehen hat (siehe Punkt VII oben).

Nachdem die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung über die Zulässigkeit des neuen Einspruchsgrundes entschieden hat (siehe Punkt VI. oben), hätte der Patentinhaberin noch Gelegenheit gegeben werden müssen zur Ausführbarkeit detaillierter vorzutragen. Denn bei der Diskussion der Zulässigkeit musste die Patentinhaberin nicht damit rechnen, dass auch schon über den Einspruchsgrund an sich entscheiden wird. Sie konnte gegen dieses Vorgehen der Einspruchsabteilung auch nicht protestieren, weil das Beratungsergebnis sowohl über die Zulässigkeit als auch über die Begründetheit in einem Satz von der Vorsitzenden der Einspruchsabteilung verkündet wurde.

2.3 Da nach Auffassung der Kammer die Beschwerdeführerin I nicht ausreichend Gelegenheit erhalten hat, sich zu diesem neuen Einspruchsgrund zu äußern, hat die Einspruchsabteilung gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoßen, so dass das Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet ist.

3. Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit, Artikel 100 b) EPÜ in Verbindung mit Artikel 83 EPÜ

3.1 Die Figur 1 der Patentschrift offenbart eine Halte- und Zentriereinheit 9, die für eine hängende Halterung der Flasche 1 ausgebildet ist. Die Halte- und Zentriereinheit 9 weist ein Flascheneinspannelement in Form eines Greifers oder einer Spanngabel 11 auf, an der die jeweilige Flasche 1 an ihrem Mündungsbereich 1.2 durch Einspannen gehalten ist, vgl. Absatz [0012] des Patents.

Auch die Figur 16, Position b, offenbart eine Halte- und Zentriereinheit 9b für das Einspannen der Flasche zwischen einem gegen eine Flaschenhalsoberseite anliegenden Spannstück (vgl. Abschnitt 24.1) und einem Gegenlager (Behälterträger 24), also für eine hängende Haltung ausgebildet ist, vgl. Absatz [0034] des Patents.

Bei diesen Ausführungsbeispielen sind also die Halte- und Zentriereinheiten sowohl für i) eine hängende Halterung der Packmittel als auch für ii) ein Einspannen der Packmittel ausgebildet.

Die Kammer hat keine Bedenken, dass der Fachmann diese Ausführungsformen verwirklichen kann.

3.2 Das zweite kennzeichnende Merkmal des Anspruchs 1 des Hauptantrags, nämlich "[dass] die Halte- und Zentriereinheiten (9a, 9c) für ein Einspannen der Packmittel (1) zwischen einem gegen eine Packmitteloberseite anliegenden Spannstück, beispielsweise in Form eines Spann- oder Zentrierkegels (22), und einem Gegenlager, beispielsweise in Form eines Packmittelträgers (23, 24, 25) ausgebildet sind", weist zwei fakultative Merkmale auf (Hervorhebung durch die Kammer).

Das erste fakultative Merkmal, ein Spannstück in Form eines Spann- oder Zentrierkegels 22, ist nur in Verbindung mit Halte- und Zentriereinheiten 9a, 9c gezeigt, die aber nicht für eine hängende Halterung des Packmittels ausgebildet sind, vgl. Figur 16, Positionen a und c. Der gezeigte Spann- oder Zentrierkegel 22 reicht in die Flaschenmündung hinein. Nach Auffassung der Kammer schließt der Begriff "Zentrierkegel" übrigens nicht aus, dass umgekehrt die Flaschenmündung in den (hohlen) Zentrierkegel hineinragt.

Dies bedeutet nicht, dass ein Fachmann ein Spannstück in Form eines Spann- oder Zentrierkegels nicht zum Beispiel bei der Halte- und Zentriereinheit 9b (siehe Figur 16, Position b) verwirklichen kann.

Das zweite fakultative Merkmal, ein Gegenlager in Form eines Packmittelträgers 24, ist bereits bei der Halte- und Zentriereinheit 9b realisiert.

Bezugszeichen in Patentansprüche dürfen nicht zu einer einschränkenden Auslegung des Patentanspruchs herangezogen werden, vgl. Regel 43 (7) EPÜ. Die Bezugszeichen "[Halte- und Zentriereinheiten] 9a, 9c" und "[Packmittelträger] 23, 25" in Anspruch 1 des Hauptantrags können daher nicht so ausgelegt werden, dass die in der Figur 16, Positionen a und c, gezeigte Ausführungsbeispiele unter dem Wortlaut dieses Anspruch fallen.

3.3 Die Kammer kommt somit zu dem Ergebnis, dass die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Erfindung so deutlich und vollständig offenbart ist, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

Nach Regel 103 (1) a) EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn der Beschwerde stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht.

Da die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels an die erste Instanz zurückzuverweisen ist und dieser Verstoß ursächlich für die getroffene Entscheidung war, wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an Beschwerdeführerin I angeordnet.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz auf der Basis des Hauptantrags zurückverwiesen.

3. Dem Antrag der Beschwerdeführerin I auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.

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