T 0670/16 (Gebührenguthaben/KAPSCH) of 17.8.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T067016.20200817
Datum der Entscheidung: 17 August 2020
Aktenzeichen: T 0670/16
Anmeldenummer: 01988918.7
IPC-Klasse: G07B15/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN ZUR ERHEBUNG VON NUTZUNGSGEBÜHREN
Name des Anmelders: Kapsch TrafficCom AG
Name des Einsprechenden: Toll Collect GmbH
Kammer: 3.5.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56 (2007)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4) (2007)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Verspätet eingereichter Antrag - Antrag hätte bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht werden können (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0115/85
T 0362/90
T 0528/93
T 0154/04
T 1186/06
T 0390/07
T 1587/07
T 1670/07
T 0361/08
T 0340/10
T 1525/10
T 2035/11
T 0140/12
T 1689/12
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent zu widerrufen, Beschwerde eingelegt.

II. Im Einspruchsverfahren hatte die Einsprechende Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) als Einspruchsgründe angeführt.

III. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung (Hauptantrag) und gemäß Hilfsanträgen 1 bis 4 nicht erfinderisch gegenüber folgendem Dokument sei:

D2: US 5 694 322

IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechthaltung des Streitpatents in der erteilten Form (Hauptantrag), oder hilfsweise gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 4, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden sind. Diese Anträge entsprechen bis auf Hilfsantrag 4 denen, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. Hilfsantrag 4 in der ursprünglichen - und jetzigen - Fassung wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zurückgenommen und durch einen anderen Hilfsantrag 4 ersetzt, der wiederum in der Beschwerde jedoch nicht weiter verfolgt wird.

V. Die Einsprechende (im Folgenden "die Beschwerdegegnerin") beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Nichtzulassung des jetzigen Hilfsantrags 4.

VI. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Die Kammer erläuterte in ihrer vorläufigen Meinung, dass der Hauptantrag und Hilfsanträge 1 bis 3 nicht erfinderisch bzw. Hilfsantrag 4 nicht zulässig erschienen. Die Beteiligte antworteten auf diese vorläufige Meinung inhaltlich nicht. Da sie aber jeweils die Anträge auf mündliche Verhandlung zurückgenommen haben, entscheidet die Kammer im schriftlichen Verfahren.

VII. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:

"Verfahren zur Erhebung von Nutzungsgebühren für die Nutzung gebührenpflichtiger Streckenabschnitte von Verkehrswegen in einem Verkehrswegenetz oder mindestens einem Teilnetz eines Verkehrswegenetzes durch Fahrzeuge mit Hilfe einer Einrichtung, die jeweils in einem die Nutzung vornehmenden Fahrzeug angeordnet ist und aufgrund von Positionsdaten, die für die aktuelle Position des Fahrzeugs repräsentativ sind, und von Streckendaten, die für den geographischen Verlauf der gebührenpflichtigen Streckenabschnitte der Verkehrswege repräsentativ sind, die jeweilige Nutzung eines gebührenpflichtigen Streckenabschnitts oder geografischen Gebiets durch das Fahrzeug ermittelt, wobei kennzeichnende Nutzungsdaten von der Einrichtung auf drahtlosem Wege zeitnah zu den Nutzungen an eine Zentralstelle zur Abrechnung der Nutzungsgebühren übermittelt werden, wobei sichergestellt wird, dass während der Nutzung die generelle Nutzungsberechtigung im Sinne einer Buchungsbereitschaft des Fahrzeugs, die geknüpft ist an das Vorhandensein eines noch ausreichend hohen unverbrauchten Teils entweder eines vorbezahlten Gebührenguthabens oder eines Gebührenkredits mit vorbestimmter maximaler Höhe, rechtzeitig durch Bewirkung eines Zahlungsvorgangs zulasten des Betreibers des Fahrzeugs unterbrechungsfrei erhaltbar ist, wobei in die Bestimmung der Nutzungsgebühren fahrzeugspezifische und/oder streckenspezifische und/oder zeitspezifische Parameter eingehen,

und wobei

die genaue Bestimmung der fälligen Nutzungsgebühren erst in der Zentralstelle anhand von Tarifdaten und der von der jeweiligen Einrichtung übermittelten Nutzungsdaten erfolgt, dadurch gekennzeichnet,

- dass in der fahrzeugseitigen Einrichtung wiederholt eine Abschätzung vorgenommen wird, ob der jeweils noch verfügbare Teil des Gebührenguthabens oder des Gebührenkredits ausreicht, um die zu erwartende Nutzungsgebühr für einen oder mehrere der nächsten noch nicht erreichten Streckenabschnitte des gebührenpflichtigen Verkehrswegenetzes abrechnen zu können, wobei für die Abschätzung unabhängig vom tatsächlichen Nutzungstarif ein fest vorgegebener pauschalierter Kostensatz zu Grunde gelegt wird,

- dass die Höhe des noch verfügbaren Teils des Gebührenguthabens oder Gebührenkredits von der Zentralstelle während der Fahrt an die fahrzeugseitige Einrichtung übermittelt wird und

- dass die fahrzeugseitige Einrichtung, wenn bei der Abschätzung keine Bestätigung für eine noch ausreichende Höhe des verfügbaren Gebührenguthabens oder Gebührenkredits erhalten wird, ein Signal an den Fahrer als Aufforderung zum Kauf eines neuen Gebührenguthabens ausgibt oder die Zentralstelle veranlasst, den fast erschöpften Gebührenkredit abzurechnen und einen neuen Gebührenkredit zur Verfügung zu stellen."

VIII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass der Text "oder die Zentralstelle veranlasst, den fast erschöpften Gebührenkredit abzurechnen und einen neuen Gebührenkredit zur Verfügung zu stellen" gestrichen wurde.

IX. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Änderungen unterstrichen):

"[...]

- dass der für die Abschätzung zu Grunde gelegte pauschale Kostensatz ein streckenlängenbezogener Kostensatz ist,

- dass die Höhe des noch verfügbaren Teils des Gebührenguthabens oder Gebührenkredits von der Zentralstelle während der Fahrt an die fahrzeugseitige Einrichtung übermittelt wird und

[...]"

X. Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Änderungen unterstrichen):

"[...]

- dass die von der fahrzeugsseitigen Einrichtung vorgenommene Abschätzung jeweils den Weg vom aktuellen Aufenthaltsort des Fahrzeugs bis zu der oder den in Fahrtrichtung gelegenen nächsten Automatenstationen berücksichtigt,

- dass die Höhe des noch verfügbaren Teils des Gebührenguthabens oder Gebührenkredits von der Zentralstelle während der Fahrt an die fahrzeugseitige Einrichtung übermittelt wird und

[...]"

XI. Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 wie folgt (Änderungen unterstrichen):

"[...]

- dass die von der fahrzeugsseitigen Einrichtung vorgenommene Abschätzung jeweils den Weg vom aktuellen Aufenthaltsort des Fahrzeugs bis zu der oder den in Fahrtrichtung gelegenen nächsten Automatenstationen berücksichtigt,

- dass, wenn in Fahrtrichtung des Fahrzeugs eine Verzweigung des gebührenpflichtigen Wegstreckennetzes vorliegt, für die Abschätzung jeweils die Alternative zu berücksichtigen ist, bei der die nächstgelegene Automatenstation am weitesten entfernt ist,

- dass die Höhe des noch verfügbaren Teils des Gebührenguthabens oder Gebührenkredits von der Zentralstelle während der Fahrt an die fahrzeugseitige Einrichtung übermittelt wird und

[...]"

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag und Hilfsanträge 1 bis 3 - Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

1.1 Die Kammer stimmt der angefochtenen Entscheidung und der Beschwerdegegnerin zu, dass die Unterscheidungsmerkmale des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen 1 bis 3 gegenüber D2 keinen technischen Effekt haben, damit keine objektive technische Aufgabe lösen und daher keine erfinderische Tätigkeit begründen können.

1.2 Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, dass für die Verfahrenschritte in den Unterscheidungsmerkmalen die aktuelle Position des Fahrzeugs herangezogen werde, deren Ermittlung technischen Charakter habe (was die Beschwerdeführerin einen "Messprozess" oder ein "Messverfahren" nennt). Aus der Sicht der Beschwerdeführerin verleiht diese Ermittlung allen folgenden Verfahrenschritten, die die Positionsdaten nutzen, einen technischen Charakter. Dem kann die Kammer nicht zustimmen. Die Aufgabe des Verfahrens, nämlich die Gewährleistung eines ausreichend hohen Gebührenguthabens oder Gebührenkredits für eine noch nicht erreichte Strecke, ist nicht technisch. Die Ermittlung der Positionsdaten eines Fahrzeugs ist ohne Zweifel technisch. Jedoch ist das Argument, dass sich die intrinsisch technische Natur der Ermittlung der Positionsdaten eines Fahrzeugs in die intrinsisch nichttechnische Natur dieser Aufgabe hinein ausbreitet, ein Trugschluss (siehe Punkt 9 in T 1670/07, "technical leakage fallacy").

1.3 Beide Beteiligten wiesen unter anderem auf Punkt 5.1.3 der Entscheidung T 2035/11 hin, wonach ein technischer Effekt durch das Zurverfügungstellen von Daten über einen technischen Prozess erzielt werden könne. T 2035/11, Punkt 5.1.3 zitiert dagegen wiederum T 1670/07, Punkt 13, und weist darauf hin, dass die Erzielung eines solchen Effekts unabhängig von der Anwesenheit des Benutzers oder der späteren Verwendung solcher Daten ist ("regardless of the presence of the user or its subsequent use"). Insofern führte die Beschwerdeführerin zutreffend aus, dass die Tatsache, dass das Verfahren gemäß Anspruch 1 aller Anträge lediglich eine Warnung an den Fahrer gibt und keine Wirkung auf das Fahrzeug hat, unerheblich sei. Jedoch gehört die erfindungsgemäße Warnung an den Fahrer nicht zu den Daten über einen technischen Prozess, die T 1670/07 und T 2035/11 in den oben zitierten Passagen erwähnen. T 1670/07 bezieht sich dabei auf den vorigen Absatz, nämlich Punkt 12, der die Rechtsprechung bezüglich der Anzeige der in einer Vorrichtung oder Anlage herrschenden technischen Bedingungen zusammenfasst, insbesondere T 362/90 und T 115/85. Das Vorhandensein eines Guthabens ist keine solche technische Bedingung.

1.4 Die Beschwerdeführerin betonte wiederholt, dass die Erfindung technisch sei, "da sich das Verfahren immer auf eine Abhängigkeit der physischen Umgebung stützt". Jedoch "gehört [es] zum Wesen jeder geschäftlichen Tätigkeit, dass sie in Wechselwirkung mit der physischen Welt erfolgt und die Auswertung diesbezüglicher Informationen umfasst" (siehe T 154/04, Punkt 20).

1.5 Aus diesen Gründen beruhen der Hauptantrag und Hilfsanträge 1 bis 3 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).

2. Hilfsantrag 4 - Zulassung, Art. 12(4) VOBK 2007

2.1 Die Beschwerdeführerin hatte während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung Hilfsantrag 4, der mit Schreiben vom 16. Oktober 2015 eingereicht worden war, mit einem neuen Hilfsantrag 4 ersetzt. Sie hat jedoch mit ihrer Beschwerdebegründung den bereits ersetzten Antrag erneut als Hilfsantrag 4 zur Entscheidung gestellt.

2.2 Die revidierte VOBK 2020 ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten (Artikel 24(1) VOBK 2020). Allerdings ist Artikel 12(4) bis (6) VOBK 2020 auf Beschwerdebegründungen, die, wie im vorliegenden Fall, vor dem 1. Januar 2020 eingereicht wurden, nicht anzuwenden. Stattdessen ist weiterhin Artikel 12(4) VOBK 2007 anzuwenden (Artikel 25(2) VOBK 2020).

2.3 Artikel 12(4) VOBK 2007 stellt es in das Ermessen der Kammer, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Dies gilt umso mehr für Anträge, die im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht und anschließend wieder zurückgenommen - oder, wie hier, ersetzt - wurden, weil ein solches Vorgehen zeigt, dass der betreffende Antrag im erstinstanzlichen Verfahren hätte zur Entscheidung gestellt werden können. Der Zweck der Beschwerde besteht in der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung und, als logische Folge, nicht darin zu überprüfen, was dort nicht entschieden worden ist (siehe T 528/93, T 1186/06, T 390/07, T 1587/07, T 361/08, T 340/10, T 1525/10, T 140/12, T 1689/12).

2.4 Aus diesen Gründen übt die Kammer ihr Ermessen dahin aus, Hilfsantrag 4 nicht in das Verfahren zuzulassen (Artikel 12(4) VOBK 2007).

3. Da mithin kein gewährbarer Antrag vorliegt, bleibt die Beschwerde ohne Erfolg.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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