European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2017:T024216.20170921 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 21 September 2017 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0242/16 | ||||||||
Anmeldenummer: | 08706828.4 | ||||||||
IPC-Klasse: | F16J 9/14 F16J 9/26 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Kolbenring | ||||||||
Name des Anmelders: | Federal-Mogul Burscheid GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | MAHLE International GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.2.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit der Druckschrift E13 (nein) Erfinderische Tätigkeit (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 137 435 zurückzuweisen.
Dabei hat die Einspruchsabteilung insbesondere die folgenden Druckschriften berücksichtigt:
E9: EP 0 605 223 A1;
E11: JP 59 200868 (Abstract);
E12: DE 30 45 871 A1;
E13: US 6,325,385 B1.
Das von der Einsprechenden verspätet eingereichte und von der Beschwerdegegnerin herausgegebene "Kolbenring-Handbuch" wurde von der Einspruchsabteilung nicht zum Verfahren zugelassen. Die Fassung dieses Handbuchs aus dem Jahr 2003 wurde dann zusammen mit der Beschwerdebegründung neu eingereicht und wird im Folgenden als Druckschrift E14 bezeichnet.
II. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer hat am 21. September 2017 stattgefunden.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Sie beantragte hilfsweise, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Fall auf Grundlage des ersten Hilfsantrags an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen bzw. das Patent gemäß dem ersten Hilfsantrag aufrechtzuerhalten.
IV. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt (die von der Einspruchsabteilung verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern angegeben):
"[M1] Kolbenring, mit einem Grundkörper, der eine im Wesentlichen umlaufende Lauffläche (2,2'), eine obere und eine untere Flankenfläche (4,4'), eine innere Umfangsfläche (3,3') sowie eine, mit einem definierten Stoßspiel (a) versehene, Stoßöffnung (5) aufweist, wobei [M2] der Übergang der Laufflächenstoßkante (6,6') in die jeweilige Stoßfläche (7,7') scharfkantig ausgebildet ist, wobei der Grundkörper [M3] aus Grau- oder [M3'] Stahlguss besteht, gekennzeichnet, dass [M4] der Grundkörper laufflächenseitig mindestens eine durch Nitrieren erzeugte Verschleißschutzschicht (9') aufweist, [M5] auf welche eine PVD-Deckschicht (8') [M6] <= 10 mym abgeschieden ist, wobei [M7] die Lauffläche (2,2') zumindest bis zur jeweiligen Laufflächenstoßkante (6,6') unter Bildung einer scharfen Kante mit der PVD-Deckschicht (8,8') versehen ist, [M8] dergestalt, dass eine erhöhte Ausbruchsicherheit der Laufflächenschicht im Stoßbereich gegeben ist."
V. Die Beschwerdeführerin hat Folgendes vorgetragen:
a) Zulässigkeit der Druckschriften E14 und E13
Die Druckschrift E14 sollte zum Verfahren zugelassen werden, da sie das allgemeine Fachwissen des Fachmanns offenbart. Die nunmehr eingereichte Druckschrift sei klar vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden.
Auch die Druckschrift E13 solle zugelassen werden. Sie sei schon im Einspruchsverfahren zitiert worden und darüber hinaus höchst relevant für die Patentfähigkeit des Gegenstands von Anspruch 1.
Auf die Frage der Kammer hin, warum sie diese Druckschrift nicht schon vor der mündlichen Verhandlung vorgelegt habe, erklärte die Beschwerdeführerin, sie sei bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erneut auf die Druckschrift E13 aufmerksam geworden, habe sie aber nicht vor der Verhandlung eingereicht, weil die Verfahrensordnung der Kammern das nicht erlaube.
b) Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand von Anspruch 1 sei nicht erfinderisch gegenüber der Druckschrift E12 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen des Fachmanns, wie es durch die Druckschrift E14 belegt sei.
Gemäß der angefochtenen Entscheidung werden die Merkmale Ml bis M3 im Dokument E12 unbestritten offenbart.
Hinsichtlich der Kombination der Merkmale M4 und M5 verwies die Beschwerdeführerin auf das Bild 28 auf Seite 56 in Verbindung mit Absatz 2 der Seite 56 der Druckschrift E14. Insgesamt werde dort eine CrN-PVD-Schicht dargestellt und beschrieben, womit die Merkmale M4 und M5 verwirklicht seien.
Die Seiten 56 und 57 der Druckschrift E14 würden die beiden relevanten Techniken (PVD-Schichten bzw. Nitrieren und Nitrocarburieren) behandeln. Die Druckschrift lege dar, dass PVD-Schichten aufgrund ihrer Härte ausgezeichnete Verschleißschutz-schichten bilden, aber den Nachteil hätten, dass bei Schichtdicken über 50 mym Eigenspannungen auftreten, die die Rissbildung begünstigen. Gewisse Spannungen würden beim Übergang vom Grundmaterial zum Schichtmaterial auftreten. Die in der Druckschrift E14 beschriebenen CrN-Systeme würden Stickstoff in der Oberfläche enthalten, sodass der Fachmann, der beide Techniken nebeneinander offenbart sehe, ein Nitrieren vor dem Aufbringen der Oberfläche in Betracht ziehen würde. Es liege daher für den Fachmann durchaus nahe, beide Techniken zu kombinieren.
Die Tatsache, dass im letzten Absatz auf Seite 56 Grenzen bezüglich der (im Jahr 2003) maximalen Dicke von PVD-Schichten angegeben werden, müsse als Hinweis darauf angesehen werden, dass die PVD-Deckschicht entsprechend dem Merkmal M6 dünn ausgebildet sein sollte.
Gemäß Absatz [0024] diene die geringe Dicke der PVD-Schicht dazu, die Größe des Stosskantenabbruchs zu minimieren. Es sei dem Fachmann aber klar, dass der Stosskantenabbruch klein gehalten werden müsse, da sonst die Undichtigkeit erhöht werde. Es liege für den Fachmann also auf der Hand, dass die Schicht nur so dick sein solle, dass sie ausreichend halte. Er würde also eine möglichst dünne Schicht vorsehen. Die Angabe von 10 mym habe keine besondere Wirkung; ohne eine solche Wirkung könne das Merkmal aber keine erfinderische Tätigkeit begründen.
Hinsichtlich des Merkmals M7 verwies die Beschwerdeführerin auf die Druckschrift E12 (Seite 9, Absatz 2 Zeilen 3-4 von unten), in der offenbart sei, dass sich das Verschleißband 39 "unverändert" bis zur äußeren Kante 62 an der Zunge 50 erstreckt. Im Übrigen würden auf Seite 19 [sic], Zeile 6 Beschichtungskanten 62 und 80 erwähnt. Letztere seien in allen Figuren, insbesondere in Figur 8, scharfkantig dargestellt.
Darüber hinaus zeige die Druckausgabe des Kolbenring-Handbuchs im Abschnitt "Theoretische Beziehungen" ausschließlich Kolbenringe mit scharfen Kanten an den Übergängen zwischen den Stoßflächen und der Außenumfangsfläche.
Zwar fehle im Dokument E12 ein ausdrücklicher Hinweis darauf, das vorgenannte Verschleißband als PVD-Schicht auszubilden bzw. damit zu bedecken, jedoch werde auf Seite 7, Absatz 3, Zeile 4 mit der Offenbarung des "Plasmasprühauftrags" auf eine Beschichtung mit einem als Plasma vorliegenden und dementsprechend ionisierten Material verwiesen. Darin dürfe für einen Fachmann zumindest ab dem Jahr 2003 ein Hinweis auf eine mögliche Beschichtung mittels PVD-Verfahren gesehen werden, zumal aus Seite 56, Zeile 3 des Handbuchs hervorgehe, dass das Beschichtungsmaterial verdampft und ionisiert wird. Ein weiterer Hinweis auf PVD-Verfahren werde durch die Angabe "keramische Materialien" auf Seite 12, Zeile 8, der Druckschrift E12 gegeben, denn PVD-Schichten hätten gemäß Druckschrift E14 einen "keramischen Charakter". In Kenntnis dieser Tatsache müsse ein Fachmann die Ausführungen auf Seite 12 des Dokumentes E12 als Anregung zum Einsatz von PVD-Beschichtungen ansehen.
Bei dem Merkmal M8 handle es sich lediglich um die Stellung einer Aufgabe, die zwangsläufig durch vorangehende Merkmale, insbesondere das Merkmal M4, gelöst werde. Auf Seite 57, Absatz 3 der Druckschrift E14 werde aufgezeigt, dass Nitrierschichten auf Gusswerkstoffen eine "Verbindungsschicht" ausbilden, die aus Eisennitriden und Eisencarbonnitriden besteht und von einer "darunter befindlichen Diffusionsschicht geprägt" wird. Dies bedeute zwangsläufig, dass eine "erhöhte Ausbruchsicherheit" gemäß dem Aufgaben-Merkmal M8 gegeben sei.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat Folgendes vorgetragen:
a) Zulässigkeit der Druckschriften E14 und E13
Die Beschwerdegegnerin hatte im schriftlichen Verfahren Einwände gegen die Zulassung der Druckschrift E14 vorgebracht, zog diese aber während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zurück.
Sie beantragte, die Druckschrift E13 nicht in das Verfahren zuzulassen. Die Beschwerdeführerin hätte diese Druckschrift schon mit der Beschwerdebegründung, spätestens aber als Reaktion auf den Ladungsbescheid einreichen müssen. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, der sich auf die Druckschrift E13 stützt, sei komplett neu und überraschend; die Beschwerdegegnerin sei darauf nicht vorbereitet. Das Vorgehen der Beschwerdeführerin komme einem Verfahrensmissbrauch gleich. Sollte die Kammer die Druckschrift E13 zulassen, benötige die Beschwerdegegnerin Zeit, um Argumente bzw. neue Anträge vorzubereiten. Eine Vertagung der mündlichen Verhandlung sei daher erforderlich. Die Beschwerdegegnerin bestritt darüber hinaus die Relevanz der Druckschrift E13.
b) Erfinderische Tätigkeit
Die Druckschrift E12 offenbare nur die Merkmale M1 bis M3.
Die fehlenden Merkmale seien auch in der Druckschrift E14 nicht offenbart: Die Beschwerdeführerin verkenne die tatsächliche Offenbarung von Bild 28. Gezeigt und beschrieben sei kein System aus zwei übereinanderliegenden Schichten, sondern eine einzige PVD-Schicht aus dem Material CrN.
Der Fachmann könne also selbst dieser Offenbarung höchstens das grundsätzliche Aufbringen einer PVD-Schicht als Verschleißschicht entnehmen und den Hinweis, dass die maximale Schichtdicke von 50 mym nachteilig wäre.
Auf Seite 57 der Druckschrift E14 werde allgemein das Nitrieren von Kolbenringen beschrieben.
Der Fachmann könne aus diesen beiden unabhängigen Abschnitten des Kolbenringhandbuchs höchstens Vor- und Nachteile verschiedener Beschichtungsmethoden erfahren und würde dann womöglich entweder eine PVD-Schicht aufbringen oder die Oberfläche nitrieren, also entweder Merkmal M4 oder Merkmal M5 verwirklichen; es gebe aber keinerlei Lehre in diesem Handbuch, eine erste Verschleißschutzschicht mit einer zusätzlichen Deckschicht in Form einer PVD-Schicht zu versehen, um gezielt die Ausbruchsicherheit im Stoßbereich zu erhöhen.
Ebenso sei keine Deckschicht mit weniger als 10 mym Dicke (Merkmal M6) offenbart oder nahegelegt, weder in der Druckschrift E12, noch im Handbuch E14.
Schließlich sei der Druckschrift El2 kein Hinweis zu entnehmen, wie bzw. dass für eine erhöhte Ausbruchssicherheit der Laufflächenschicht (Verschleißschicht in der Nut) an der Stoßkante gesorgt werden sollte. Damit sei auch das Merkmal M8 nicht offenbart.
Mehrere Ausführungen zum Stand der Technik seien technisch falsch. So werde der Plasmasprühauftrag in der Druckschrift El2 von der Einsprechenden mit dem PVD-Verfahren gleichgesetzt, obwohl beide Verfahren grundsätzlich verschieden seien. Beim Plasmaspritzen werde pulverförmiges Material in einem Plasmastrahl erhitzt und auf die Oberfläche geschleudert; beim PVD-Beschichten werde Material aus der Dampfphase auf Oberflächen abgeschieden. Die bloße Tatsache, dass bei beiden Verfahren Ionen auftreten, sei irrelevant.
Ebenso werde die Angabe von keramischen Materialien in der Druckschrift E12 als "Hinweis" darauf verstanden, eine PVD-Schicht zu verwenden; der genannte Argumentationsweg sei völlig undurchsichtig und sprunghaft. Wie der Fachmann von der grundsätzlichen Erwähnung eines keramischen Materials als Füllung für eine vertiefte Nut darauf kommen sollte, eine Oberfläche mit einer Schicht durch Gasphasenabscheidung zu versehen, sei nicht ersichtlich.
Bereits im Einspruchsverfahren sei festgestellt worden, dass der Fachmann aus dem Stand der Technik keinen Anlass habe, die verschiedenen grundsätzlich bekannten Beschichtungsvarianten (Nitrierung, PVD-Schicht) miteinander auf die beanspruchte Weise zu kombinieren. Auch in der Beschwerde habe die Einsprechende keine Begründung dafür angegeben, warum der Fachmann eine solche Kombination in Erwägung ziehen würde. Ebenso sei kein Aufgabe-Lösungs-Ansatz vorgebracht worden, der auf irgendeine Weise zum beanspruchten Gegenstand führen würde, sondern die Einsprechende versuche, auf völlig willkürliche Weise Einzelmerkmale und Verfahren aus dem Stand der Technik in rückschauender Betrachtungsweise zum Erfindungsgegenstand zusammenzusetzen.
Die Tatsache, dass das Kolbenringhandbuch E14 die Alternativen PVD-Beschichtung und Nitrieren auf zwei aufeinanderliegenden Seiten beschreibe, sei für den Fachmann kein Anreiz, mit diesen Techniken hergestellte Schichten übereinander aufzubringen. Es handle sich um ganz verschiedene Verfahren. Dass in beiden Schichten Stickstoff vorliege, sei nicht relevanter als dass beide Schichten Metalle beinhalten.
Im Hinblick auf Anspruch 4 hat die Beschwerdegegnerin vorgebracht, die Argumente der Beschwerdeführerin seien nicht haltbar. Die Beschwerdeschrift verweise jetzt wieder auf die bereits im Einspruchsverfahren nicht zugelassene Online-Ausgabe des Kolbenringhandbuchs, das 2014 abgerufen wurde, und nicht auf die Druckausgabe von 2003. Die beiden Ausgaben würden sich in dem genannten Absatz unterscheiden, so dass gerade nicht davon ausgegangen werden könne, dass dieses Wissen bereits vor dem Anmeldetag des Patents zum Stand der Technik gehörte.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Druckschriften E14 und E13
Da die Beschwerdegegnerin ihre Einwände gegen die Zulassung der Druckschrift E14 während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zurückgezogen hat, besteht kein Grund für die Kammer, von ihrer im Ladungsbescheid dargelegten Auffassung zur Zulässigkeit der Druckschrift abzugehen. Die Druckschrift E14 wird daher in das Verfahren zugelassen.
Die Druckschrift E13 war im Einspruchsverfahren diskutiert worden, ist aber nicht Teil des Beschwerdeverfahrens im Sinne von Artikel 12 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK). Die Beschwerdeführerin hat sich im Beschwerdeverfahren erstmals im Laufe der mündlichen Verhandlung auf die Lehre der Druckschrift E13 berufen. Dies stellt eine Änderung des Vorbringens nach Artikel 13 (3) VOBK dar.
Gemäß dieser Bestimmung werden Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.
Die Kammer hat Verständnis dafür, dass eine Partei bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung angesichts des Ladungsbescheids der Kammer erneut auf eine Druckschrift aufmerksam werden kann, die zwar im erstinstanzlichen Verfahren vorlag, die aber bislang nicht in das Beschwerdeverfahren eingeführt wurde. In einem solchen Fall wären die Druckschrift und die auf ihr beruhenden Argumente aber unverzüglich der Kammer und der Gegenpartei vorzulegen, damit sie sich entsprechend auf die mündliche Verhandlung vorbereiten können und nicht durch die Vorlage der Druckschrift und der darauf beruhenden Argumente während der mündlichen Verhandlung überrascht werden. Dies hat die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall unterlassen. Die Lehre der Druckschrift E13 und ihre Kombination mit der Lehre der Druckschriften E12 und E14 werfen technisch komplexe Fragen auf, deren Behandlung der Kammer und der Beschwerdegegnerin somit ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten war. Daher hat die Kammer beschlossen, die Druckschrift E13 in Anwendung von Artikel 13 (3) VOBK nicht in das Verfahren zuzulassen.
2. Hauptantrag
2.1 Anspruchsauslegung
Das Kürzel "PVD" steht für Physical Vapour Deposition, also das Verfahren der physikalischen Gasphasenabscheidung (siehe Absatz [0013] des Streitpatents).
Eine "PVD-Deckschicht <= 10 mym" wird gedeutet als eine PVD-Deckschicht, deren Schichtdicke kleiner oder gleich 10 mym ist. Diese Deutung ist im Einklang mit der Beschreibung des Streitpatents (siehe z.B. Absatz [0023]).
Das Merkmal M8 beschreibt die Wirkung eines erfindungsgemäßen Kolbenrings und beschränkt den Anspruch auf Kolbenringe, die tatsächlich diese Wirkung aufweisen.
2.2 Erfinderische Tätigkeit
Zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit verwendet die Kammer den Aufgabe-Lösungs-Ansatz.
2.2.1 Nächstliegender Stand der Technik
Es besteht Einigkeit darüber, dass die Druckschrift E12 den nächstliegenden Stand der Technik darstellt.
2.2.2 Unterschiede
Die Parteien sind sich einig, dass die Druckschrift E12 nur die Merkmale M1 bis M3 unmittelbar und eindeutig offenbart. Demnach unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von der Offenbarung der Druckschrift E12 durch die Merkmale M4 bis M8.
a) Merkmal M4
Gemäß diesem Merkmal weist der Grundkörper laufflächenseitig mindestens eine durch Nitrieren erzeugte Verschleißschutzschicht auf. Der Grundkörper der Druckschrift E12 weist zwar ein Verschleißband 38 auf, aber es handelt sich um ein Molybdänband, das z.B. durch Plasma-Sprühauftrag hergestellt wurde (siehe Seite 7, Zeilen 20-23), also nicht durch Nitrieren.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
b) Merkmale M5 bis M8
Dass auf die Verschleißschutzschicht eine PVD-Deckschicht abgeschieden ist, wird in der Druckschrift E12 nicht offenbart. Das durch Plasma-Sprühauftrag hergestellte Molybdänband ist keine PVD-Schicht. Da von einer PVD-Schicht nicht die Rede ist, wird natürlich auch nicht offenbart, wie dick sie ist und wo genau sie vorgesehen ist bzw. welche Wirkung sie hat.
2.2.3 Technische Wirkungen der Unterscheidungsmerkmale
a) Merkmal M4
Das Streitpatent nennt keinen Vorteil der Herstellung der Verschleißschutzschicht durch Nitrieren gegenüber den anderen genannten Herstellungsverfahren (galvanischer oder thermischer Spritzprozess; siehe Absätze [0003] und [0017]). Wie aber aus der Druckschrift E14, Seite 57, Abschnitt "Nitrieren und Nitrocarburieren", hervorgeht, weiß der Fachmann, dass das Nitrieren zu einer signifikanten Härtesteigerung des vorhandenen Materials und damit zu geringerem Abrasions- bzw. Adhäsionsverschleiß führt.
b) Merkmal M5
Gemäß Merkmal M5 ist eine PVD-Deckschicht auf die Verschleißschutzschicht abgeschieden.
Der Fachmann weiß, dass PVD-Schichten in der Regel sehr dünn und hart sind (siehe Druckschrift E14, Seite 56, Abschnitt "PVD-Schichten"). Wie das Streitpatent selbst lehrt (siehe z.B. Absatz [0017]), könnte die PVD-Schicht selbst als Verschleißschutzschicht dienen. Die PVD-Schicht trägt somit zu geringerem Abrasions- bzw. Adhäsionsverschleiß bei. Da eine PVD-Schicht zwangsläufig sehr dünn ist, beeinträchtigt sie die Schärfe der Kanten an den Stoßenden des Kolbenrings nicht, was sich positiv auf die Ausbruchsicherheit der Laufflächenschicht auswirkt (siehe Absatz [0016] des Streitpatents).
c) Merkmal M6
Das Streitpatent offenbart keinen besonderen Vorteil einer Schichtdicke der PVD-Schicht von <= 10 mym. Der Fachmann würde den Vorteil solch geringer Dicken wohl darin sehen, dass der Verschleißschutz mit kleinem Materialaufwand bzw. geringen Kosten und ohne signifikante Änderung der Abmessungen des Kolbenrings erreicht werden kann.
d) Merkmal M7
Gemäß Merkmal M7 ist die Lauffläche zumindest bis zur jeweiligen Laufflächenstoßkante unter Bildung einer scharfen Kante mit der PVD-Deckschicht versehen. Die technische Wirkung dieses Merkmals besteht darin, dass die scharfe Kante erhalten und durch die harte PVD-Schicht gegen Verschleiß geschützt wird.
e) Merkmal M8
Das Merkmal M8 drückt die zu erreichenden Wirkung aus, nämlich eine erhöhte Ausbruchsicherheit der Laufflächenschicht im Stoßbereich.
f) Zusammenschau
Die Merkmale M4 und M5 tragen jeweils dazu bei, den Verschleiß des Kolbenrings zu verringern. Von einer Synergie, d.h. dem Erreichen einer Wirkung, die die Summe der Einzelwirkungen übersteigt, ist nicht auszugehen.
Das Merkmal M6 erlaubt es, den verringerten Verschleiß bei nur geringen Änderungen der Abmessungen des Kolbenrings zu erreichen.
Die Wirkung des Merkmals M7 ist im Merkmal M8 beschrieben, nämlich die Erhöhung der Ausbruchsicherheit der Laufflächenschicht im Stoßbereich.
2.2.4 Objektive technische Aufgaben
Aus dem unter Punkt 2.2.3 f) Gesagten geht hervor, dass die Erfindung zwei Teilaufgaben löst:
- Verringerung des Verschleißes des Kolbenrings ohne nennenswerte Änderungen seiner Abmessungen (Merkmale M4-M6);
- Erhöhung der Ausbruchsicherheit der Laufflächenschicht im Stoßbereich (Merkmale M7 und M8).
2.2.5 Naheliegen
Es stellt sich die Frage, ob der Fachmann, der von der Offenbarung der Druckschrift E12 ausgeht und sich die unter Punkt 2.2.4 genannten Teilaufgaben stellt, unter Berücksichtigung des vorgelegten Standes der Technik sowie seines allgemeinen Fachwissens zu einem Gegenstand gemäß Anspruch 1 gelangt.
a) Erste Teilaufgabe
Der Fachmann kennt verschiedene Verschleiß-Schutzschichten. Die Druckschrift E14 nennt insbesondere verchromte Laufflächen (Seiten 51-52), thermische Spritzbeschichtungen (Seiten 53-55) PVD-Schichten (Seite 56) und Nitrieren bzw. Nitrocarburieren (Seite 57). Die Verwendung solcher Schichten allein kann also keine erfinderische Tätigkeit rechtfertigen.
Die Druckschrift E14 offenbart auch, dass "[d]ie für Kolbenringe bevorzugt eingesetzten PVD-Schichten ... auf dem CrN-System [basieren]" und zeigt in diesem Zusammenhang das Bild 28:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Hier besteht die PVD-Schicht selbst aus CrN. Dies offenbart aber nicht die Kombination der Merkmale M4 und M5, da sich hier keine PVD-Schicht auf einer nitrierten Schicht befindet.
Die Tatsache, dass in der Druckschrift E14 PVD-Beschichtung und Nitrieren aufeinanderfolgend beschrieben werden, würde den Fachmann nicht dazu anregen, beide Techniken zu verwenden und die entsprechenden Schichten übereinander aufzubringen. Auch die Feststellung, dass die in der Druckschrift E14 beschriebene PVD-Schicht Stickstoff beinhaltet, legt nicht nahe, sie auf einer nitrierten Schicht aufzubringen.
Die Druckschrift E14 (Seite 56, zweiter Absatz) offenbart auch, dass die Schichtdicke von PVD-Schichten verhältnismäßig gering ist, nämlich höchstens 50 mym. Eine Beschränkung auf höchstens 10 mym ist dadurch allerdings nicht nahegelegt, zumal die Druckschrift die Beschränkung auf relativ dünne Schichten als den größten Nachteil des PVD-Verfahrens darstellt. Dass der Fachmann, wie von der Beschwerdeführerin dargelegt, die PVD-Schicht so dünn wie möglich ausführen würde, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar.
Die Kammer ist daher zum Schluss gelangt, dass die erfindungsgemäße Lösung der ersten Teilaufgabe durch das allgemeine Fachwissen nicht nahegelegt wird.
b) Zweite Teilaufgabe
Obwohl das Nicht-Naheliegen der Lösung der ersten Teilaufgabe ausreicht, um dem Gegenstand von Anspruch 1 eine erfinderische Tätigkeit zuzusprechen, geht die Kammer der Vollständigkeit halber auch auf die zweite Teilaufgabe ein.
Hierzu hat die Beschwerdeführerin auf die Druckschrift E12 verwiesen. Sie sieht in der Offenbarung, dass sich "[d]as Verschleißband 38 ... unverändert bis zur äußeren Kante 62 der Zunge 50 [erstreckt]" (Seite 9, Zeilen 15-16; vgl. Figur 9)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
sowie in der Verwendung des Begriffs "Beschichtungskanten 62 und 80" (Seite 11, Zeile 6, Hervorhebung durch die Beschwerdeführerin; vgl. Figur 8 mit scharfkantiger Darstellung)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Hinweise, die in Richtung des Merkmals M7 führen.
Die Kammer kann sich diesem Vortrag insofern anschließen, als im Ausführungsbeispiel der Figur 8 der Druckschrift E12 die Lauffläche bis zur jeweiligen Laufflächenstoßkante unter Bildung einer scharfen Kante mit dem Verschleißband 38 versehen ist. Das Vorhandensein einer PVD-Deckschicht ist hingegen nicht offenbart.
Die Beschwerdeführerin sieht in der Erwähnung der Füllung der Nut mit einem harten Material "durch Plasmasprühauftrag" (Seite 7, Zeile 20) einen Hinweis auf eine mögliche Beschichtung mittels PVD-Verfahren. Sie verweist auf das Fachwissen des Fachmanns, demzufolge im PVD-Verfahren das Beschichtungsmaterial verdampft und ionisiert wird (belegt durch Druckschrift E14, Seite 56, Zeile 3). Dieser Vortrag überzeugt die Kammer nicht, da das Plasmasprühen eine besondere Form des thermischen Spritzens ist; letzteres wird auch in der Druckschrift E14 vom PVD-Beschichten unterschieden. Auch der Hinweis auf "keramische Materialien" in der Druckschrift E12 (Seite 12, Zeile 8) führt nicht zu PVD-Beschichtungen, nur weil den PVD-Schichten in der Druckschrift E14 "keramischer Charakter" zugesprochen wird (Seite 56, Absatz 2, erste Zeile).
Die Kammer kann sich auch dem Vortrag nicht anschließen, dass sich das Merkmal M8 zwangsläufig aus dem Merkmal M4 ergibt. Das Streitpatent jedenfalls assoziiert dieses Merkmal mit sehr scharfen Kanten an den Stoßenden des Kolbenrings und mit der gering dimensionierten PVD-Deckschicht (siehe Absatz [0016]), also mit den Merkmalen M2, M6 und M7.
Ob die Ausführungen der Einspruchsabteilung in den letzten drei Zeilen des zweiten Absatzes von Blatt 5 der Entscheidungsgründe technisch richtig sind, mag dahingestellt bleiben, zumal das kritisierte Argument nicht entscheidungserheblich war, wie schon seine Einführung mit "darüber hinaus" andeutet.
Dass die Merkmale des Anspruchs 4 des Streitpatents möglicherweise vorbekannt waren, hat auf die Patentfähigkeit von Anspruch 1 bzw. die Frage, ob der Hauptantrag den Erfordernissen des EPÜ entspricht, keinen Einfluss, da Anspruch 4 ein von Anspruch 1 abhängiger Anspruch ist und demzufolge alle Merkmale von Anspruch 1 aufweist, sodass die Patentfähigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 sich auf den Gegenstand von Anspruch 4 überträgt.
2.3 Ergebnis
Die Beschwerdeführerin hat nicht überzeugend dargelegt, dass sich die Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem vorgelegten Stand der Technik ergibt.
Der Gegenstand von Anspruch 1 hat daher als erfinderisch im Sinne von Artikel 56 EPÜ zu gelten.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.