T 0101/16 () of 25.10.2018

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2018:T010116.20181025
Datum der Entscheidung: 25 October 2018
Aktenzeichen: T 0101/16
Anmeldenummer: 05104926.0
IPC-Klasse: B60R 21/01
B60T 7/22
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Vorrichtung zur Auslösung einer Notbremsung
Name des Anmelders: ROBERT BOSCH GMBH
Name des Einsprechenden: Conti Temic Microelectronic GmbH
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Neuheit - (nein)
Zulassung in das Verfahren - Hilfsantrag 1 (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts, die am 5. November 2015 zur Post gegeben wurde und mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1625979 aufgrund des Artikels 101 (2) EPÜ zurückgewiesen worden ist.

II. Am 25. Oktober 2018 wurde mündlich verhandelt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereichten Hilfsantrag 1.

III. Der Anspruch 1 wie erteilt lautet wie folgt:

Verfahren zur Auslösung einer Notbremsung eines Fahrzeugs zur Vermeidung einer Kollision bzw. zur Verminderung der Kollisionsschwere, wobei das Fahrzeug mindestens einen Objektdetektionssensor (3,4) aufweist, dass in Abhängigkeit der erkannten Objekte eine Kollisionswahrscheinlichkeit ermittelt wird, und dass in Abhängigkeit der Kollisionswahrscheinlichkeit eine Notbremsung auslösbar ist (19)

dadurch gekennzeichnet, dass

in Abhängigkeit der momentanen Umgebungssituation eine Gefährdung des eigenen Fahrzeugs im Falle einer Notbremsauslösung ermittelt wird (15), und die Auslöseschwelle für die Notbremsung in Abhängigkeit der ermittelten Gefährdung veränderbar (17) ist.

IV. Anspruch 1 gemäß dem Hilfsantrag 1 lautet:

Verfahren zur Auslösung einer Notbremsung eines Fahrzeugs zur Vermeidung einer Kollision bzw. zur Verminderung der Kollisionsschwere,wobei das Fahrzeug mindestens einen Objektdetektionssensor (3,4) aufweist, dass in Abhängigkeit der erkannten Objekte eine Kollisionswahrscheinlichkeit ermittelt wird, und dass in Abhängigkeit der Kollisionswahrscheinlichkeit eine Notbremsung auslösbar ist (19), wobei

in Abhängigkeit der momentanen Umgebungssituation eine Gefährdung des eigenen Fahrzeugs im Falle einer Notbremsauslösung ermittelt wird (15), und die Auslöseschwelle für die Notbremsung in Abhängigkeit der ermittelten Gefährdung veränderbar (17) ist,

dadurch gekennzeichnet, dass die Veränderung der Auslöseschwelle für die Notbremsung derart erfolgt, dass wenn eine berechnete Gefährdung (15) durch die Notbremsung gering ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlauslösung erhöht wird, und dass wenn eine berechnete Gefährdung (15) durch die Notbremsung höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlauslösung verringert wird, wobei eine Fehlauslösung eine Auslösung der Verzögerungseinrichtungen (19) ist, in deren Verzögerungsverlauf keine Kollision erfolgte.

V. Die Argumente der Beschwerde­führerin - soweit sie für die Entscheidung wesentlich waren - lauteten wie folgt:

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber Dokument A7.

Insbesondere offenbare A7 den Zusammenhang von Ergebnissen der Umfelderfassung und der Auslöseschwelle (vgl. Anspruch 19) zur Reduzierung der von einer Notbremsung ausgehenden Gefahr, siehe dazu Paragraph [0006] der A7.

Dies sei auch dem Paragraph [0024] zu entnehmen. Auch sei beschrieben, dass der Schwellwert in Abhängigkeit der Fahrbahnsteigung verändert werde. Dabei sei es unerheblich, ob der Begriff ,,Gefährdung" in A7 explizit genannt werde, denn letztlich sei die Auslöseschwelle ein Maß für die Gefährdung.

Die Patentinhaberin solle keine Unterbrechung der Verhandlung zur Vorbereitung eines neuen Hilfsantrags 1 gewährt werden.

Der Hilfsantrag 1 dürfe auch nicht in das Verfahren zugelassen werden, da er verspätet vorgelegt wurde. Mit der Beschwerdebegründung seien bereits die tragenden Argumente zum Mangel an Neuheit diskutiert worden. Somit hätte der Hilfsantrag 1 mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht werden müssen.

Zum anderen seien auch die Merkmale des erteilten Anspruchs 2 in Dokument A7 offenbart. So werde in Paragraph [0020] darauf hingewiesen, dass einer Fehlauslösung durch eine Anhebung des Schwellenwertes begegnet werden könne. Im Prinzip definierten die Merkmale des erteilten Anspruchs 2 eine Selbstverständlichkeit. Damit würden aber mindestens bei Zulassung des Hilfsantrags 1 in das Verfahren lange Diskussionen zum Thema Neuheit nötig sein. Somit sei der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht prima facie gewährbar und nicht in das Verfahren zuzulassen.

VI. Die Beschwerdegegnerin begegnete diesen Argumenten wie folgt:

Der Gegenstand des Anspruchs 1 wie erteilt sei neu gegenüber A7.

Insbesondere offenbare A7 keine Bestimmung einer Gefährdung. Die Bestimmung der Gefährdung sei wesentlich, da damit keine Einzelfälle mehr auf eine zu bestimmende Auslöseschwelle abzubilden seien, wie dies in A7 geschehe. Dort würden verschiedene Einzelfälle betrachtet werden und in jedem der Einzelfälle eine Auslöseschwelle definiert werden. Im Streitpatent hingegen werde zunächst die Gefährdung errechnet aus den Umgebungsdaten und zwar für den Fall, dass eine Notbremsung ausgelöst werde. Die Gefährdung sei dabei ein Wahrscheinlichkeitswert für eine weitere Kollision oder kritische Verkehrssituation nach der automatischen Notbremsung. Was erfindungsgemäß als Gefährdung zu verstehen sei, sei in Paragraph [0007] definiert. Ausgehend von der Gefährdung werde dann gemäß dem letzten Merkmal des Anspruchs 1 die Auslöseschwelle bestimmt. Letztlich sei es das Ziel der Erfindung, die Auswirkungen einer Notbremssituation zu bewerten und dann zu entscheiden, ob es sinnvoll sei, diese auch auszuführen. Dies aber sei in A7 nicht gezeigt. Der Hilfsantrag 1 müsse in das Verfahren zugelassen werden da seine Vorlage durch die Diskussion in der mündlichen Verhandlung begründet sei. In der vorläufigen Mitteilung der Kammer sei ausgeführt worden, dass in A7 die Kollisionswahrscheinlichkeit herangezogen würde, um die Auslöseschwelle zu verändern. Diese Auffassung werde auch von der Patentinhaberin geteilt, da die Kollisionswahrscheinlichkeit eben nicht die Gefährdung durch die Notbremsung darstelle, sondern die Größe, die mit der Gefährdung verglichen werden. Daher sei davon auszugehen gewesen, dass die Kammer in der mündlichen Verhandlung überzeugt werden könne, dass das Verfahren des Anspruchs 1 wie erteilt neu sei. Des Weiteren würde durch die Merkmale des erteilten Anspruchs 2 nun deutlich gemacht, dass die Gefährdung erfindungsgemäß berechnet werde, dass diese einen Einfluss auf die Fehlauslösungswahrscheinlichkeit habe und dass diese wiederum die Auslöseschwelle verändere. Alle diese Merkmale seien der A7 nicht zu entnehmen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Das Verfahren des Anspruchs 1 wie erteilt ist nicht neu im Hinblick auf Dokument A7, Artikel 54 (2) EPÜ.

2.1 Die Merkmale des Oberbegriffs von Anspruch 1 (Merkmale i) bis iii), vgl. Merkmalsgliederung in der Entscheidung der Einspruchsabteilung, Seite 3 ff.) sind unstrittig aus A7 bekannt.

2.2 Die Kammer folgt der Beschwerdegegnerin nicht in ihrer Darstellung, dass das Verfahren gemäß A7 keine Gefährdung des Fahrzeugs in Abhängigkeit der Umgebungssituation ermittelt und in Abhängigkeit der Gefährdung die Auslöseschwelle verändert.

So offenbart A7 einen engen Zusammenhang zwischen einem Gefahrenpotential (d.h. der Gefährdung) und der Auslöseschwelle: Paragraph [0013]: "... wodurch eine gleichzeitige automatische Verzögerung erst bei einem höheren Gefahrenpotential einsetzen soll"; die Paragraphen [0019] und [0020] beschreiben den Einfluss der Fahrbahnsteigung auf die Auslöseschwelle und Paragraph [0024] beschreibt, dass mittels der Sensorik erfasste Objekte in die Schwellwertberechnung mit einfließen.

Den Zusammenhang zwischen Auslöseschwelle und Umweltfelddaten ist auch in Anspruch 19 der A7 offenbart.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass auch in A7 ein Wert errechnet werden muss, der zur Bestimmung der Auslöseschwelle führt. In Ermangelung einer spezifischen Definition des Begriffs ,,Gefährdung" im Wortlaut des Anspruchs 1 kann die Tatsache, dass diesem Wert in A7 keine Bezeichnung, insbesondere nicht die Bezeichnung ,,Gefährdung" zugewiesen ist, nicht die Neuheit des Verfahrens nach Anspruch 1 gegenüber A7 begründen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Argument der Beschwerdegegnerin nicht erfolgreich, dass der Begriff Gefährdung in der Patentschrift in Paragraph [0007] definiert sei und diese Definition damit auch dem Merkmal in Anspruchswortlaut zugrunde gelegt werden müsse.

Die Beschreibung in Paragraph [0007] ist einem Ausführungsbeispiel der Erfindung zugeordnet und beginnt mit "Weiterhin ist es vorteilhaft...", später, "... ein Maß, das beispielsweise zwischen 0 und 1 liegen kann". Somit ist dieser Passage nicht zu entnehmen, dass sich der streitgegenständliche Begriff "Gefährdung" im Wortlaut des Anspruchs 1 auf eine eindeutige und - im Rahmen des Streitpatents - allgemein gültige Definition in der Beschreibung stützen kann.

3. Der in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag 1 wird nicht in das Verfahren zugelassen, Artikel 13 (1) VOBK.

3.1 Gemäß Artikel 13 (1) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt.

3.2 Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 besteht aus den Merkmalen der erteilten Ansprüche 1 und 2.

3.3 Die Beschwerdegegnerin legte den Hilfsantrag 1 in der mündlichen Verhandlung nach der Diskussion zum Hauptantrag vor und begründete die späte Vorlage damit, dass sich erst durch die Diskussion in der mündlichen Verhandlung ergeben hätte, dass der Begriff "Gefährdung" im Anspruchswortlaut zu breit gewählt worden sei da die Kammer nicht die in Paragraph [0007] der Beschreibung genannte Einschränkung hatte gelten lassen; auf jeden Fall sei der in der vorläufigen Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK genannte Grund, warum der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht neu sei, nach der Diskussion in der mündlichen Verhandlung nicht mehr haltbar gewesen, zumindest sei vor diesem Hintergrund die Darstellung in der Mitteilung missverständlich.

Dazu stellt die Kammer fest, dass die Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK eine vorläufige Meinung der Kammer darstellt und dass die Parteien in dieser Mitteilung auch darauf hingewiesen werden, dass darin dargelegte Auffassungen der Kammer weder bindend noch einschränkend zu verstehen sind.

3.4 So hat die Beschwerdeführerin in der Beschwerde­begründung bereits ausgeführt, dass der Anspruch 19 der A7 eine Umfelderfassung offenbare, deren Ergebnis in der Lage sei, die Auslöseschwelle zu verschieben, um die sich aus einer Notbremsung ergebenden Gefahren zu berücksichtigen, siehe Beschwerdebegründung, Seite 9, vorletzter Absatz, ff.

Da sich die in der mündlichen Verhandlung geführte Diskussion im Wesentlichen um diesen Punkt drehte und keine neuen Argumente vorgebracht oder neue Erkenntnisse gewonnen wurden (siehe oben, Punkt 2 zur Neuheit des Anspruchs 1 wie erteilt), hat sich die Situation für die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung nicht unvorhersehbar geändert.

Ein Hilfsantrag hätte damit schon im Vorfeld der mündlichen Verhandlung, idealerweise mit der Beschwerdeerwiderung (vgl. Artikel 12 (2) VOBK) vorgelegt werden müssen.

3.5 Vor allem aber ist nicht prima facie erkennbar, dass der Anspruchs 1 des Hilfsantrags die diskutierten Probleme in Bezug auf den Mangel an Neuheit löst.

Wenn ein Antrag der Patentinhaberin zu einem derart späten Verfahrensstand noch zugelassen werden soll, muss auf den ersten Blick erkennbar sein, dass dieser Antrag die Probleme löst, die zur Ablehnung der höherrangigen Anträge geführt haben, und keine neuen Fragestellungen aufwirft.

Dies ist hier nicht der Fall.

Die Merkmalskombination des erteilten Anspruchs 2, die im Hilfsantrag 1 in den erteilten Anspruch 1 aufgenommen wurde, definiert den Zusammenhang zwischen der Gefährdung und einer Fehlauslösung und deren Auswirkung auf die Auslöseschwelle.

Die Beschwerdeführerin wendet ein, dass auch in Dokument A7 das Problem der Fehlauslösung mit einer Schwellwertverschiebung gelöst werde und daher das zusätzliche Merkmal auch aus A7 bekannt sei.

Da die Merkmale des erteilten Anspruchs 2 bislang im gesamten Verfahren keine Rolle gespielt haben und auch nicht nach kurzer Diskussion in der mündlichen Verhandlung abzusehen war, ob diese Merkmalskombination den Mangel an Neuheit zu beheben in der Lage sein würde, war dieser Hilfsantrag nicht in das Verfahren zuzulassen.

3.6 Die Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin beantragte in der mündlichen Verhandlung nach der Diskussion zum Hauptantrag, diese für 30 Minuten zu unterbrechen, damit sie den vorliegenden Hilfsantrag vorbereiten kann. Die Einsprechende beantragte, diesen Antrag abzulehnen.

Die Kammer hat dem Antrag der Patentinhaberin/Be­schwerde­gegnerin stattgegeben. Da die Beschwerde­führerin letztlich in der Sache obsiegte, erübrigt sich dies weiter zu begründen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

- Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

- Das Patent wird widerrufen.

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