T 0020/16 (OspC-Dimere/EUROIMMUN) of 11.2.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T002016.20200211
Datum der Entscheidung: 11 Februar 2020
Aktenzeichen: T 0020/16
Anmeldenummer: 08021660.9
IPC-Klasse: C07K14/20
G01N33/569
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Polypeptide und Verfahren zur spezifischen Detektion von Antikörpern bei Patienten mit einer Borrelieninfektion
Name des Anmelders: Euroimmun Medizinische Labordiagnostika AG
Name des Einsprechenden: Mikrogen GmbH
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56 (2007)
European Patent Convention Art 83 (2007)
European Patent Convention Art 123(3) (2007)
European Patent Convention R 139 (2007)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung - Hauptantrag (nein)
Änderungen - Hilfsäntrage 6 und 7Änderungen - unzulässige Erweiterung (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag 8 (nein)
Hilfsantrag 10 - zugelassen (nein)
Änderungen - Hilfsantrang 11Änderungen - unzulässige Erweiterung (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I) und der Einsprechenden (Beschwerdeführerin II) richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das europäische Patent Nr. 2 199 303 in einer geänderten Fassung gemäß Hilfsantrag I die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

II. Gemäß der Einspruchsabteilung gehe der Gegenstand des erteilten Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Die vorgenommenen Änderungen könnten auch nicht als zulässige Berichtigungen gemäß Regel 139 EPÜ anerkannt werden.

III. Die Einsprechende hatte den Widerruf des Patents im gesamten Umfang auf der Grundlage der Einspruchsgründe Artikel 100(a)EPÜ (Artikel 54 und 56 EPÜ), Artikel 100(b) EPÜ und Artikel 100(c) EPÜ beantragt.

IV. In ihrer Beschwerdebegründung behielt die Beschwerdeführerin I den Hauptantrag bei und reichte einen Anspruchssatz als Hilfsantrag 1 ein.

V. Mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin II reichte die Beschwerdeführerin I die Anspruchssätze der Hilfsanträge 3 bis 5 ein und beantragte die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Haupt- oder des ersten Hilfsantrags, die beide mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, oder auf der Grundlage des von der Einspruchsabteilung für zulässig erachteten Anspruchssatzes (Hilfsantrag 2). Alternativ sollte das Patent auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 3 bis 5 aufrechterhalten werden.

VI. Die Beschwerdeführerin II erwiderte sowohl auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin I als auch auf deren Beschwerdeerwiderung.

VII. Die Parteien wurden zur mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer geladen. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien unter anderem ihre vorläufige Auffassung mit, wonach sie in Sachen Hauptantrag die Entscheidung der Einspruchsabteilung und die dazugehörige Begründung betreffend Artikel 123(2) EPÜ und Regel 139 EPÜ für richtig halte. Zur Ausführbarkeit der Erfindung gemäß den Ansprüchen 14 und 15 des Hauptantrags (identisch mit den Ansprüchen 12 und 13 des damals anhängigen Hilfsantrags I (siehe Absatz I) teilte die Kammer den Parteien mit dass, sie der vorläufigen Auffassung war, dass dieser Gegenstand nicht den Erfordernissen des Artikels 83 EPÜ genügte.

VIII. Mit Schreiben vom 26. November 2019 wurden als Antwort auf die Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15(1) VOBK fünf weitere Anspruchssätze als Hilfsanträge 'A' zu den schon anhängigen Anträgen eingereicht.

IX. Während der mündliche Verhandlung wurden die Hilfsanträge 1 bis 5 zurückgezogen und die Hilfsanträge 'A' wurden in Hilfsanträge 6 bis 11 umbenannt. Hilfsantrag 9 wurde zurückgezogen. Am Ende der Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.

X. Die Ansprüche 1, 14 und 15 des Hauptantrags (Ansprüche der erteilten Fassung des Patents) lauten wie folgt:

"1. Protein, umfassend ein erstes OspC-Polypeptid, dadurch gekennzeichnet, dass das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfid-Brücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist, wobei die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein entsteht, das nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist.

14. Verwendung eines Proteins nach einem der Ansprüche 1 bis 9 zur Herstellung eines Impfstoffs gegen eine Borrelieninfektion.

15. Impfstoff gegen eine Borrelieninfektion, umfassend ein Protein nach einem der Ansprüche 1 bis 9."

Anspruch 1 der Hilfsanträge 6 und 7 lautet:

"1. Protein, umfassend ein erstes OspC-Polypeptid, dadurch gekennzeichnet, dass das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfid-Brücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist, wobei die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein entsteht, das nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist, wobei das erste und das zweite OspC-Polypeptid eine Aminosäureidentität von mindestens 70% mit SEQ ID NO: 3, SEQ ID NO: 6 oder SEQ ID NO: 9 aufweisen."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 8 lautet:

"1. Protein, umfassend ein erstes OspC-Polypeptid, dadurch gekennzeichnet, dass das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfid-Brücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist, wobei die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein entsteht, das nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist, wobei das erste und das zweite OspC-Polypeptid eine Aminosäureidentität von mindestens 70% mit SEQ ID NO: 3 aufweist."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 10 lautet:

"1. Protein, umfassend ein erstes OspC-Polypeptid, dadurch gekennzeichnet, dass das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfid-Brücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist, wobei die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein entsteht, welches im Wildtyp-OspC acyliert ist und das nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist, wobei das erste und das zweite OspC-Polypeptid eine Aminosäureidentität von mindestens 70% mit SEQ ID NO: 3 aufweisen und das erste und/oder das zweite OspC-Polypeptid keine Erkennungssequenz für eine Acylierung aufweist."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 11 lautet:

"1. Protein, umfassend ein erstes OspC-Polypeptid, dadurch gekennzeichnet, dass das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfid-Brücke mit einem zweiten

OspC-Polypeptid verbunden ist, wobei die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein entsteht, das nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist, wobei das erste und das zweite OspC-Polypeptid eine Aminosäuresequenz gemäß SEQ ID NO: 3 und keine Erkennungssequenzen für eine Acylierung aufweisen."

XI. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:

D1: Rauer et al., 1996, Journal of Spirochetal and

Tick-Borne Diseases, 3(2), 105-108.

D5: WO 2007/065098

D6: WO 97/49812

D17: WO 00/78966

D18: WO 94/25596

XII. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen argumentierte die Beschwerdeführerin I im Wesentlichen wie folgt:

Hauptantrag - Ansprüche 14 und 15

Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100(b) EPÜ)

Das Patent offenbare eindeutig die Fähigkeit von

OspC-Dimeren, bei Mäusen eine bessere Immunantwort hervorzurufen als das Monomer (siehe Tabellen 1, 2 und Beispiel 6). Die Eignung als Impfstoff gegen eine Borrelieninfektion gehe aus der Immunogenität hervor. Der Fachmann wisse, dass immunogene Verbindungen inhärent auch als Impfstoff geeignet seien, da spezifische Antikörper über ihren Fc-Teil das adaptive Immunsystem, z. B. Komplement, aktivieren könnten.

Hilfsanträge 6 bis 11 - Zulassung in das Verfahren (Artikel 13(1) VOBK)

Die Hilfsanträge seien in das Verfahren zuzulassen. Die Einspruchsabteilung habe das Patent in geänderter Form aufrechterhalten; somit habe es im Verfahren vor der Einspruchsabteilung keinen Anlass gegeben, weitere Hilfsanträge zu stellen. Die Hilfsanträge seien als eine angemessene Reaktion auf die in einer Mitteilung verkündete vorläufige und nicht bindende Auffassung der Kammer zu betrachten und beträfen lediglich die Streichung der beiden bemängelten Ansprüche, die auf Impfstoffe gerichtet waren. Die Anträge dienten der Verfahrensökonomie und seien nicht komplex, da sie von der Beschwerdeführerin II geltend gemachte Mängel durch bloße Streichungen beseitigten.

Hilfsanträge 6 und 7 - Anspruch 1

Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ) und

Berichtigung von Mängeln in den beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen (Regel 139 EPÜ)

Der Anspruch genüge den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ. Die Fehler in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung seien im Rahmen der Gesamtoffenbarung offensichtlich und die Korrekturen für den verständnisvollen Fachmann ebenso zweifelsfrei und eindeutig ersichtlich gewesen. Die Anzahl der Korrekturen sei hierbei entscheidungsunerheblich.

Aus der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung gehe hervor, dass der Gegenstand der Erfindung "von OspC (Outer surface Protein C) aus Bakterien des Genus Borrelia abgeleitete Polypeptide ..." sei (siehe Seite 1, Absatz 1). Seite 7, Zeilen 9 bis 13 in Verbindung mit Figur 1 offenbare die im Stand der Technik bekannten, nativen OspC-Sequenzen der Stämme VS46l, 20047 und B31 und deren Aminosäureidentitäten.

Die Änderung von SEQ ID NO: 7 auf SEQ ID NO: 6 und SEQ ID NO: 11 auf SEQ ID NO: 9 genügten den Vorschriften für eine Berichtigung nach Regel 139 EPÜ. Der Fachmann hätte aus einem Vergleich mit dem ursprünglich eingereichten Sequenzprotokoll (engl. Sequence Listing) ohne Zweifel erkannt, dass die Angaben zu den SEQ ID NOs: 7 und 11 fehlerhaft seien, da sie keine nativen OspC-Sequenzen seien.

SEQ ID NO: 11 sei zudem eine DNA-Sequenz und keine Aminosäuresequenz. Weiterhin hätte der Fachmann unmittelbar und eindeutig erkannt, dass die korrekten Sequenzen SEQ ID NO: 6 statt SEQ ID NO: 7 und

SEQ ID NO: 9 statt SEQ ID NO: 11 seien. Diese Erkenntnis gehe aus der Beschreibung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hervor. Auf Seite 7, Zeilen 1 bis 4, sei zu lesen, dass die in Bezug genommenen Aminosäuresequenzen ausschließlich die nativen Sequenzen sein müssten, da ansonsten die Offenbarung technisch sinnlos wäre. Außerdem gehe aus dem Aufbau des Sequenzprotokolls hervor, dass der Gegenstand der Erfindung ein von Borrelien abgeleitetes Polypeptid sei, bei dem ein erstes OspC-Polypeptid über eine Disulfidbrücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden sei (vgl. Seite 1 der Beschreibung). Somit kämen für den Gegenstand der Erfindung nur die von Borrelien abgeleiteten Aminosäuresequenzen gemäß

SEQ ID NO: 2 (Borrelia afzelii VS461), SEQ ID NO: 5 (Borrelia garinii 20047) und SEQ ID NO: 8 (Borrelia burgdorferi B31) unmittelbar und eindeutig infrage. Folglich sei es für den Fachmann trivial, nicht nur die Nummerierungsfehler im Text der Anmeldung ohne Zweifel zu erkennen, sondern auch unmittelbar und eindeutig die notwendigen Korrekturen ungeachtet der Anzahl der Korrekturen zu erkennen. Es folge, dass die in Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen nach Regel 139 EPÜ zulässig seien.

Hilfsantrag 8 - Anspruch 1

Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

Die Einspruchsabteilung habe richtig geurteilt, dass Dokument D5, das chimäre OspC-Polypeptide enthaltend Epitope aus bestimmten Regionen des Proteins zur Verwendung als Impfstoff offenbare, den nächstliegenden Stand der Technik darstelle. Dokument D1 komme hierfür nicht in Frage, da es von der Verwendung von Dimeren abrate (siehe Seite 107, linke Spalte, letzter Absatz).

Unter der Annahme, dass die beanspruchten Proteine als Impfstoff geeignet seien, sei die zu lösende technische Aufgabe unabhängig davon, ob man von der Offenbarung in Dokument D1 oder D5 als dem nächstliegenden Stand der Technik ausgehe, "die Bereitstellung alternativer OspC-Polypeptide, die als Impfstoff verwendet werden können".

Die Einspruchsabteilung habe nicht an der Eignung der beanspruchten Verbindungen als Impfstoff gezweifelt. Aus den zur Offenbarung der Erfindung genannten Gründen bezüglich der Ansprüche 14 und 15 des Hauptantrags (siehe oben) müsse diese Eignung auch weiterhin berücksichtigt werden.

Um die oben genannte technische Aufgabe zu lösen, wäre der Fachmann ausgehend von der Offenbarung in Dokument D5 im Bereich der Lehre dieses Dokuments geblieben. Es habe keinen Hinweis im Stand der Technik gegeben, der den Fachmann motiviert hätte, die Position der Disulfidbrücke zu ändern. Der Fachmann hätte eher die Art der Verbindung der verschiedenen Epitope oder die Art der Epitope selbst variiert. Ausgehend von Dokument D5 hätte der Fachmann auch nicht die Lehre des Dokuments D1 herangezogen, da dort klar von der Verwendung von Dimeren abgeraten werde.

Auch wenn man die Eignung als Impfstoff nicht berücksichtige, sei der beanspruchte Gegenstand ausgehend von Dokument D1 als nächstliegendem Stand der Technik erfinderisch. Unter den in Dokument D1 offenbarten natürlich vorkommenden Proteinen aus Borrelia burgdorferi sei ein 50-KD-Protein auf einem Western Blot zu erkennen, das möglicherweise ein Thiol-verbundenes Dimer sei (siehe Seite 107, linke Spalte). Da es sich um ein natürlich vorkommendes OspC-Molekül handele, befinde sich die Disulfidbrücke nicht am N-terminalen Ende des Moleküls. Ausgehend von Dokument D1 sei damit die technische Aufgabe, die der Erfindung zugrunde liege, die Bereitstellung gut charakterisierter, immunogener OspC-Dimere.

Dokument D1 gebe keinen Hinweis darauf, die beiden OspC-Monomere in der im Anspruch definierten Weise zu verbinden. Darüber hinaus sei dem Fachmann bekannt, dass jede strukturelle Änderung wie z. B. die Veränderung der Position der Disulfidbrücke unvorhergesehene Auswirkungen auf die Sekundär- und Tertiärstruktur des Proteins und somit negative Auswirkungen auf die Immunogenität des Proteins haben könnte. Daher sei die beanspruchte Erfindung für den Fachmann nicht naheliegend.

Der Nachweis im Patent, dass die Disulfidbrücke aus ihrer natürlichen Position an eine bestimmte Position in der Nähe des N-Terminus des OspC-Polypeptids verschoben werden konnte (siehe Beispiel 6: His-Cys-m-OspCVS461), sei für den Fachmann überraschend und habe es ihm plausibel gemacht, dass die Disulfidbrücke an jeder beliebigen N-terminalen Position liegen könne, ohne dass das Protein seine Immunogenität verliere, und somit die oben formulierte Aufgabe von allen unter den Anspruch fallenden Ausführungsformen gelöst werde.

Hilfsantrag 11 - Anspruch 1 - Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)

Die vorgenommenen Änderungen seien direkt und eindeutig in der eingereichten Anmeldung offenbart. Sie basierten auf dem Hauptantrag 5 und seien in der Beschreibung auf Seite 9, Absatz 2 zu finden.

XIII. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen argumentierte die Beschwerdeführerin II im Wesentlichen wie folgt:

Hauptantrag - Ansprüche 14 und 15

Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100(b) EPÜ)

Weder im Stand der Technik noch im angefochtenen Patent sei nachgewiesen worden, dass OspC und insbesondere die beanspruchten OspC-Dimere für die Herstellung von Impfstoffen geeignet seien. Die Beispiele im Patent bezögen sich nur auf die Immunogenität der getesteten Verbindungen; dies sei aber kein Beweis für ihre Eignung als Impfstoff. In einem solchen Fall liege die Beweislast bezüglich der Eignung als Impfstoff bei der Patentinhaberin.

Hilfsanträge 6 bis 11

Zulässigkeit - Artikel 13(1) VOBK

Die Hilfsanträge seien als Antwort auf eine Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15(1) VOBK eingereicht worden. Dieser Zeitpunkt sei zu spät, um der Beschwerdeführerin II ausreichendes rechtliches Gehör zu gewähren. Die Streichung der Ansprüche auf die Verwendung eines Proteins zur Herstellung eines Impfstoffes bzw. auf Impfstoffe gegen eine Borrelieninfektion hätte früher im Verfahren erfolgen müssen, da die relevanten Einwände bereits seit Beginn des Einspruchsverfahrens erhoben worden seien.

Hilfsanträge 6 und 7 - Anspruch 1

Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ) und

Berichtigung von Mängeln in den beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen (Regel 139 EPÜ)

Die Entscheidung der Einspruchsabteilung und deren Begründung, dass der Anspruch 1 des Streitpatents (Hauptantrag) die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ nicht erfülle, weil für den Fachmann nicht mit der erforderlichen Zweifelsfreiheit erkennbar sei, in welche Richtung die Korrekturen durchgeführt werden müssten, sei richtig, denn nach Regel 139 EPÜ müsse offensichtlich sein, wie die Korrektur aussehen soll. Somit habe der Anspruch weder die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ noch die Erfordernisse der Regel 139 EPÜ erfüllt.

Hilfsantrag 8 - Anspruch 1

Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

Durch Einreichen der Hilfsanträge 6 bis 11 habe die Beschwerdeführerin I eingestanden, dass der Gegenstand der Ansprüche, die sich auf eine medizinische Verwendung bezogen, im Patent nicht ausreichend offenbart war. Da dieser Aspekt aber der Grund für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit war, könne diese nun nicht weiter anerkannt werden.

In Dokument D1, das als nächstliegender Stand der Technik angesehen wurde, heiße es auf Seite 107 (linke Spalte) unter der Überschrift "Discussion", dass rekombinante und native OspCs sowohl von einem B.burgdorferi-Stamm sensu stricto wie auch von einem B.afzelii-Stamm Thiol-verbundene, dimere Moleküle im Bereich von 50 kDa bildeten, die im Western Blot nachgewiesen werden könnten. Die in Dokument D1 untersuchten OspCs stammten von verschiedenen Borrelia-Stämmen, und es sei kein Unterschied zu SEQ ID NO:3 erkennbar, der auf Borrelia afzelii zurückzuführen sei. Es sei nicht klar, durch welches Merkmal sich die beanspruchten Polypeptide vom Stand der Technik unterscheiden sollten und inwiefern dieses Merkmal eine Rolle bei der beanspruchten Verwendung dieser Polypeptide als Impfstoff bzw. in diagnostischen Tests spielen könnte. Das Patent offenbare keinen überraschenden vorteilhaften Effekt.

Wenn aber die Aufgabe des angegriffenen Patents die Bereitstellung von alternativen Ausführungsformen sei, sei nicht ersichtlich, worauf das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit gestützt werden könnte. Weshalb eine Ausführungsform erfinderisch sein sollte, die sich von den nächstliegenden Ausführungsformen (beispielsweise Dokument D1) nicht unterscheide, jedenfalls aber keinen überraschenden vorteilhaften Effekt aufweise, sei nicht nachvollziehbar.

Hilfsantrag 11

Anspruch 1 - Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)

Die Anmeldung in der eingereichten Fassung offenbare keine Proteine, in denen beide OspC-Polypeptide SEQ ID NO: 3 seien und in denen diese über eine Disulfidbrücke durch einen Cysteinrest verbunden seien, der nicht mehr als 100 Aminosäuren vom N-terminalen Ende des jeweiligen Polypeptids entfernt liege. Die Änderungen erfüllten damit nicht die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ.

XIV. Die Beschwerdeführerin I beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten (Hauptantrag) oder hilfsweise das Patent auf der Grundlage der mit Schreiben vom 26. November 2019 eingereichten Hilfsanträge 6, 7, 8, 10 oder 11 aufrechtzuerhalten.

XV. Die Beschwerdeführerin II beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang. Ferner beantragte sie, die Hilfsanträge 6 bis 8 und 10 bis 11 nicht in das Verfahren zuzulassen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerden sind zulässig, da sie die Erfordernisse der Artikel 106 bis 108 EPÜ sowie der Regel 99 EPÜ erfüllen.

2. Eine geänderte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) trat am 1. Januar 2020 in Kraft. Die Übergangsbestimmungen sind in Artikel 25 VOBK 2020 festgelegt. Im vorliegenden Fall wurde den Parteien die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem 1. Januar 2020 zugestellt. Daher ist Artikel 13(2) VOBK 2020 auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Stattdessen gilt weiterhin Artikel 13 VOBK 2007 (siehe Artikel 25(3) VOBK 2020).

Hauptantrag - Ansprüche 14 und 15

Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100(b) EPÜ)

3. Anspruch 1 (siehe Nr. IV) betrifft ein von OspC ("Outer surface Protein C") aus Bakterien des Genus Borrelia abgeleitetes Protein, das ein erstes OspC-Polypeptid umfasst, wobei das erste OspC-Polypeptid über eine Disulfidbrücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist, und die Brücke nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist.

4. Ansprüche 14 und 15 betreffen beide die therapeutische Anwendung des Proteins nach Anspruch 1 als Impfstoff gegen eine Borrelieninfektion: Anspruch 14 in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform und Anspruch 15 in der Form gemäß Artikel 54(4) EPÜ.

5. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine beanspruchte therapeutische Anwendung nur dann ausreichend offenbart, wenn aus dem Patent hervorgeht, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, sofern dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage 2019, II.C.7.2).

6. Da im vorliegenden Fall eine Eignung nicht aus dem Stand der Technik bekannt war, müsste das Patent die Eignung von OspC-Verbindungen aus Anspruch 1 als Impfstoff offenbaren.

7. Die Hauptargumentation der Beschwerdeführerin I hierzu lautet, dass die Immunogenität eines Proteins und dessen Eignung als Impfstoff gleichzusetzen seien. Ihrer Meinung nach seien immunogene Verbindungen inhärent auch als Impfstoff geeignet, da spezifisch hervorgerufene Antikörper über ihren Fc-Teil das adaptive Immunsystem, z. B. Komplement, aktivieren könnten.

8. Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin I insoweit zu, dass die Immunogenität der Polypeptide aus Anspruch 1 dem Beispiel 6 und der Tabelle 2 zu entnehmen ist. Das Beispiel zeigt insbesondere die Ergebnisse von Experimenten, in denen die Immunogenität von Disulfid-verbrückten OspC-Dimeren der SEQ ID No: 2 (His-m-Cys-OspCvs461) mit der Immunogenität des respektiven Monomers verglichen wurde. Es geht aus den Ergebnissen hervor, dass Mäuse, die mit der Variante His-m-Cys-OspCvs461 (Dimer) immunisiert wurden, schneller Antikörper erzeugen als Mäuse, die mit der Variante His-m-OspCvs461 (Monomer) immunisiert wurden, und dass höhere Antikörperkonzentrationen am Ende der Immunisierung erreicht werden (siehe Absatz [0078]).

9. Die Kammer stellt jedoch fest, dass das Patent keine Offenbarung, z. B. in Form von experimentellen Ergebnissen, enthält, die irgendwelche Schlüsse hinsichtlich der Eignung der Verbindung des Anspruchs 1 als Impfstoff ziehen lässt. Die Kammer ist weiter der Meinung, dass eine mögliche, durch den Fc-Teil eines Antikörpers hervorgerufene, adaptive Immunantwort nicht als ausreichender Beweis für die Eignung eines Proteins/Polypeptids als Impfstoff gelten kann. Eine durch den Fc-Teil vermittelte Immunreaktion ist unspezifisch und somit nicht mit einer spezifischen, durch einen Impfstoff hervorgerufenen Immunantwort gleichzustellen.

10. Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent die Eignung der beanspruchten Polypeptide für die beanspruchte therapeutische Anwendung nicht ausreichend offenbart. Das Patent genügt deswegen nicht den Voraussetzungen des Artikels 83 EPÜ in Bezug auf die in den Ansprüchen 14 und 15 beanspruchte Erfindung.

Hilfsanträge 6 und 7

Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100(b) EPÜ)

11. Diese Hilfsanträge beinhalten keine Ansprüche, die eine medizinische Verwendung zum Gegenstand haben. Sämtliche Einwände gemäß Artikel 100(b) EPÜ, die gegen die Ansprüche 14 und 15 des Hauptantrags geltend gemacht wurden (siehe Punkte 3. bis 10.), sind somit für diese Anträge nicht relevant.

Zulassung in das Beschwerdeverfahren - Artikel 13(1) VOBK

12. Die Hilfsanträge wurden in das Beschwerdeverfahren zugelassen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Kammer die Anträge als nicht zulässig erachtet (siehe Punkt 22.), hält sie es nicht für notwendig, eine Begründung für die Zulassung der Anträge in das Verfahren zu geben.

Anspruch 1 - Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ) und

Berichtigung von Mängeln in den beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen (Regel 139 EPÜ)

13. Die im Anspruch erwähnten, durch eine Disulfidbrücke verbundenen OspC-Polypeptide sind durch SEQ ID NO:3, SEQ ID NO: 6 oder SEQ ID NO: 9 definiert. Sie wurden aber unter anderem in Anspruch 2 der eingereichten Patentanmeldung durch SEQ ID NO:3, SEQ ID NO: 7 oder SEQ ID NO: 11 definiert.

14. Auch in der Beschreibung der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung wird die Erfindung auf den Seiten 6 und 7 wie folgt beschrieben: "Ein OspC-Polypeptid im Sinne der Erfindung, insbesondere das erste und/oder zweite OspC-Polypeptid, kann eine Aminosäureidentität von mindestens 70% mit

SEQ ID NO: 3, SEQ ID NO: 7 oder SEQ ID NO: 11 aufweisen und wird (in diesem homologen Bereich) spezifisch von Antikörper gegen OspC aus Borrelien erkannt" (siehe Seite 7, Absatz 1).

15. Unstrittig ist, dass in der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung keine unmittelbare Offenbarung des Wortlauts des vorliegenden Anspruchs zu finden ist. Darüber hinaus brachte die Beschwerdeführerin I keine Argumente vor, wonach die umstrittenen Änderungen ihre Grundlage in der eingereichten Anmeldung im Sinne von Artikel 123(2) EPÜ fänden. Stattdessen argumentierte sie in erster Linie, dass es um Fehler gehe, die gemäß Regel 139 EPÜ korrigiert werden könnten.

16. Nach Regel 139 EPÜ können sprachliche Fehler, Schreibfehler und Unrichtigkeiten in den beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen auf Antrag berichtigt werden. Betrifft der Antrag auf Berichtigung jedoch die Beschreibung, die Patentansprüche oder die Zeichnungen, so muss die Berichtigung derart offensichtlich sein, dass sofort erkennbar ist, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird.

17. Beschwerdeführerin I argumentierte, dass der Fachmann aus dem Sequenzprotokoll und seiner Struktur erkennen würde, dass ein Fehler gemacht wurde und wie dieser korrigiert werden sollte. Die Kammer ist jedoch nicht überzeugt, dass der Fachmann der eingereichten Anmeldung entnehmen kann, dass die Angabe der

SEQ ID NO: 7 in Anspruch 2 und der Beschreibung falsch ist. Dem Sequenzprotokoll der eingereichten Anmeldung ist zu entnehmen, dass SEQ ID NO: 7 (laut Beschwerdeführerin I die angeblich falsche Sequenz) ein 204 Aminosäuren langes Protein ist und dass es als "durch Gentechnik hergestellt" bezeichnet ist. Dagegen ist laut Beschwerdeführerin I die angeblich "richtige" Sequenz (SEQ ID NO: 6) ein 191 Aminosäuren langes Protein, das aus Borrelia garinii stammt.

18. Die Kammer ist der Auffassung, dass der Fachmann in der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung keine Offenbarung findet, dass SEQ ID NO: 7 als OspC-Peptid ungeeignet ist oder nicht in Frage kommt. Prima facie könnten sich sowohl SEQ ID NO: 7 als auch

SEQ ID NO: 6 als "OspC-Polypeptid" im Sinne des Anspruchs eignen. Es gibt in der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung auch keine Offenbarung, die aussagen würde, dass eine durch Gentechnik hergestellte Sequenz wie SEQ ID NO: 7 nicht als OspC-Polypeptid infrage kommt.

19. Die Kammer kann in der eingereichten Anmeldung auch keine Offenbarung erkennen, die den Fachmann zu der eindeutigen Erkenntnis führen würde, dass nur die

SEQ ID NO: 6 als Korrektur für SEQ ID NO: 7 und nur

SEQ ID NO: 9 als Korrektur für SEQ ID NO: 11 möglich sind.

20. Die Beschwerdeführerin I behauptet, dass der beanspruchte Gegenstand unmittelbar und eindeutig der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung entnommen werden könne, insbesondere dem Aufbau des Sequenzprotokolls. Es handle sich um ein von Borrelien abgeleitetes Polypeptid, bei dem ein erstes OspC-Polypeptid über eine Disulfidbrücke mit einem zweiten OspC-Polypeptid verbunden ist (vgl. Seite 1 der eingereichten Anmeldung). Für die veröffentlichte Erfindung kämen nur die von Borrelien abgeleiteten Aminosäuresequenzen gemäß SEQ ID NO: 2 (Borrelia afzelii VS461), SEQ ID NO: 5 (Borrelia garinii 20047) und SEQ ID NO: 8 (Borrelia burgdorferi B31) unmittelbar und eindeutig in Frage. Folglich sei es für den Fachmann trivial, nicht nur die Nummerierungsfehler im Anmeldetext ohne Zweifel zu erkennen, sondern auch unmittelbar und eindeutig die notwendigen Korrekturen ungeachtet ihrer Anzahl zu erkennen.

21. Das Sequenzprotokoll enthält neun Proteine/Polypeptide, die anhand ihrer Sequenz als OspC-Polypeptide identifiziert werden können (SEQ ID Nos: 1 bis 9). Die Kammer sieht im Aufbau des Sequenzprotokolls keine Offenbarung, die irgendeine dieser Sequenzen als mögliche Korrektur ausschließen würde. Dies liegt daran, dass der Anspruch sich auf ein erstes und ein zweites Polypeptid bezieht, das zu mindestens 70 % mit der jeweiligen Sequenz, auf die Bezug genommen wird, identisch ist. Somit führt das Fehlen bzw. Vorhandensein eines N-terminalen Cysteins oder eines His-Tags nicht automatisch zum Ausschluss einer Sequenz als potenzielle Korrektur. Die Argumentation der Beschwerdeführerin I bezüglich der Struktur des Sequenzprotokolls muss daher fehlschlagen. Die gleichen Überlegungen gelten für Hilfsantrag 7.

22. Daher ist die Kammer der Auffassung, dass die vorgenommenen Änderungen nicht als Korrektur im Sinne von Regel 139 EPÜ erachtet werden können. Die Hilfsanträge 6 und 7 genügen somit weder den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ noch den von Regel 139 EPÜ.

Hilfsantrag 8

Zulassung in das Beschwerdeverfahren - Artikel 13(1) VOBK

23. Auch dieser Hilfsantrag wurde in das Beschwerdeverfahren zugelassen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Kammer den Antrag als nicht gewährbar erachtet (siehe Punkt 35.), hält es die Kammer auch hier nicht für notwendig, eine Begründung für die Zulassung des Antrags in das Verfahren zu geben.

Anspruch 1 - Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

24. Der zur Bewertung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehende nächstliegende Stand der Technik ist in der Regel eine Entgegenhaltung, die einen Gegenstand offenbart, der zum selben Zweck entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat, der also die wenigsten strukturellen Änderungen erfordert (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, 2019, I.D.3.1).

25. Beansprucht wird ein Dimer aus zwei OspC-Polypeptiden wie in SEQ ID NO: 3 dargestellt, verbunden durch eine S-S-Brücke zwischen zwei Cysteinresten, die beide nicht mehr als 100 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des jeweiligen Polypeptids entfernt sind.

26. Dokument D1 offenbart die Herstellung rekombinanter OspC-Proteine von Borrelia burgdorferi und insbesondere den Nachweis dieser Proteine durch Western Blot. Es offenbart "the 50-kDa band was a thiol-linked dimer or the 25-kDa OspC band. The 50-kDa band was detected in Western blots with whole cell lysates of five different borrelial strains, representing three genospecies of Borrelia burgdorferi sensu lato" (siehe Zusammenfassung). Es wird also angenommen, dass Dimere vorkommen, die durch eine Disulfidbrücke zwischen den Cysteinresten verbunden sind. Dokument D1 rät, die Dimerisierung zu verhindern, um ein empfindlicheres und zuverlässigeres Western Blot zu ermöglichen (siehe Seite 107, rechte Spalte).

27. Dokument D5 betrifft ein chimäres polyvalentes rekombinantes Protein, das immundominante Epitope von Loop-5- und/oder Alpha-Helix-5-Regionen/Domänen von Outer Surface Protein C (OspC)-Typen umfasst, die mit Säugetierinfektionen assoziiert sind (siehe Seite 1, Absatz 1). Obwohl Dokument D5 OspC-Dimere erwähnt (siehe Seite 32, letzter Absatz), werden diese nicht direkt offenbart.

28. Da Dokument D5, im Gegensatz zu Dokument D1, keine konkreten Beispiele von Dimeren offenbart, ist die Kammer der Auffassung, dass Dokument D1 einen besseren Ausgangspunkt für die beanspruchte Erfindung bietet, obwohl vorgeschlagen wird, die Dimerisierung zu verhindern. Immerhin ist die erfinderische Tätigkeit des beanspruchten Gegenstandes gegenüber jenem Dokument festzustellen, das dem Fachmann das erfolgversprechendste Sprungbrett zu der Erfindung bietet (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage 2019, I.D.3.4.2), im vorliegenden Fall Dokument D1.

29. Der Unterschied zwischen dem beanspruchten Protein und dem in Dokument D1 offenbarten Dimer liegt in der Struktur des Proteins, einschließlich dessen Sequenz und der Position der Disulfidbrücke. Hiermit lässt sich der Herkunftsstamm identifizieren.

30. Die im Patent offenbarten Beispiele befassen sich mit Ausführungsformen des beanspruchten Proteins, in denen die S-S-Brücke an einer einzigen Position ist, nämlich der Stelle, an der im natürlich vorkommenden Protein normalerweise ein acylierter Cysteinrest vorkommt.

31. Die Beschwerdeführerin I vertritt die Auffassung, es sei überraschend, dass die in den Beispielen hergestellten und getesteten Disulfid-verbrückten Dimere ihre Immunogenität behielten, und dies sei eine Grundlage für die Anerkennung ihres Nicht-Naheliegens.

32. Die Beschwerdekammer stimmt der Beschwerdeführerin I in diesem Punkt zu, ist jedoch der Ansicht, dass für jede beanspruchte Ausführungsform, bei der sich die Disulfidbrücke in einer anderen Position befindet, dasselbe Prinzip angewendet werden muss. Da es ausgehend vom Stand der Technik unerwartet ist, dass die Ausführungsform in den Beispielen ihre Immunogenität beibehält, würde der Fachmann nach Ansicht der Kammer auch nicht erwarten, dass Ausführungsformen, in denen sich die Disulfidbrücke in einer anderen Position befindet, ebenfalls ihre Immunogenität behalten. Der technische Effekt der beibehaltenen Immunogenität könne daher nicht für den gesamten beanspruchten Umfang anerkannt werden.

33. Wenn sich herausstellt, dass ein bestimmter behaupteter technischer Effekt nicht durch den gesamten beanspruchten Gegenstand erreicht wird, dann soll die technische Aufgabe weniger anspruchsvoll formuliert werden. In einem solchen Fall wird die technische Aufgabe in einer weniger ehrgeizigen Weise umformuliert und die Offensichtlichkeit der beanspruchten Lösung dieser umformulierten Aufgabe im Lichte des zitierten Standes der Technik beurteilt (id., I.D.4.4.1 und 4.4.2).

34. Im vorliegendem Fall liegen der Kammer keine Hinweise vor, die eine besondere Aktivität bzw. einen Vorteil offenbaren und diese für die gesamte Anspruchsbreite begründen würde. Die zu lösende Aufgabe ist demnach die Bereitstellung eines alternativen bzw. eines weiteren OspC-Dimers.

35. Als naheliegende Lösung der oben genanten Aufgabe kommen somit alle möglichen OspC-Dimere in Frage, die alle gleichwertig wären. Die beanspruchten OspC-Dimere stellen eine Auswahl aus der Fülle von möglichen alternativen OspC-Varianten dar, die jedoch nicht mit einem technischen Effekt verbunden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist so eine willkürliche Auswahl aus allen möglichen dem Fachmann zur Verfügung stehenden Lösungen als naheliegend anzusehen (id., I.D.9.19.8). Aus alledem folgt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 8 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).

Hilfsantrag 10 - Zulässigkeit - Artikel 13(1) VOBK

36. Wie im Fall von Anspruch 1 des Hilfsantrags 8 umfasst das beanspruchte Protein Ausführungsformen, bei denen sich die Disulfidbrücke an Positionen befindet, die sich von denen unterscheiden, für die die Beibehaltung der Immunogenität nachgewiesen wurde. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass dieser Antrag nicht das Problem der mangelnden erfinderischen Tätigkeit löst, das für Hilfsantrag 8 festgestellt wurde. Somit wurde dieser Hilfsantrag nicht in das Verfahren zugelassen.

Hilfsantrag 11 - Zulässigkeit - Artikel 13(1) VOBK

37. Der Antrag wurde gemäß Artikel 13(1) VOBK in das Verfahren zugelassen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Kammer den Antrag als nicht zulässig erachtet (siehe Punkt 42.), hält es die Kammer nicht für notwendig, eine Begründung für die Zulassung des Antrags in das Verfahren zu geben.

Anspruch 1 - Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)

38. Das beanspruchte Protein (siehe Nr. VII) ist durch ein erstes und ein zweites OspC-Polypeptid gekennzeichnet, die durch eine Disulfidbrücke zwischen zwei Cysteinresten verbunden sind, die jeweils nicht weiter als 100 Aminosäuren vom N-Terminus der OspC-Polypeptide entfernt sind. Außerdem wird jedes OspC-Polypeptid durch SEQ ID NO: 3 dargestellt und enthält keine Acylierungserkennungssequenzen (Signalsequenzen für eine Acylierung).

39. Die Anmeldung in der eingereichten Fassung offenbart, dass "ein OspC-Polypeptid im Zusammenhang mit der Offenbarung, insbesondere das erste und/oder zweite OspC-Polypeptid, mindestens ein Epitop umfassen kann, das von Antikörpern gegen OspC aus Borrelien spezifisch erkannt wird, wobei das Epitop mindestens eine Teilsequenz von 10 zusammenhängenden Aminosäuren aus SEQ ID NO:3, SEQ ID NO:6 oder SEQ ID NO:9 umfasst" (siehe Absatz [0018]). Weiterhin wird folgendes offenbart: "Alternativ oder zusätzlich kann eine Disulfidbrücke auch an einem anderen Cystein ausgebildet sein. Bevorzugt entsteht die Disulfidbrücke durch Verbindung von einem Cystein, das nicht mehr als etwa 100, bevorzugt nicht mehr als etwa 50 oder nicht mehr als etwa 30 Aminosäurepositionen vom N-Terminus des OspC-Polypeptids entfernt ist. Insbesondere kann die Disulfidbrücke an einem Cystein ausgebildet werden, welches den N-Terminus des Polypeptids bildet, oder 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29 oder 30 Aminosäuren vom N-Terminus entfernt ist" (siehe Absatz [0025]).

40. Schlussendlich wird offenbart: "Die erfindungsgemäßen OspC-Polypeptide weisen keine Signalsequenzen für eine Acylierung auf. [...] Das erfindungsgemäße OspC-Polypeptid ist damit auch nicht acyliert. Das Cystein, an dem die Acylierung im Wildtyp-OspC stattfinden würde, ist in einer Ausführungsform der Erfindung das Cystein, an dem die Disulfidbrücke zu einem weiteren OspC-Polypeptid ausgebildet ist" (siehe Absatz [0024]).

41. Ein Protein, das die Merkmale des Anspruchs aufweist, geht nicht unmittelbar und eindeutig aus den oben zitierten Passagen hervor. Insbesondere werden in der eingereichten Anmeldung keine Proteine offenbart, in denen beide OspC-Polypeptide SEQ ID NO: 3 aufweisen und in denen diese über eine Disulfidbrücke durch einen Cysteinrest verbunden sind, der nicht mehr als hundert Aminosäuren vom N-terminalen Ende des jeweiligen Polypeptids entfernt liegt. Um zu dem beanspruchten Gegenstand zu gelangen, ist es nämlich notwendig,

- jedes der beiden OspC-Monomere als SEQ ID NO:3 aus einer Liste von SEQ ID NO: 3, 6 und 9 auszuwählen,

- die Sequenz in voller Länge aus einer Reihe von Alternativen, beginnend mit einem 10 Aminosäuren langen Epitop, auszuwählen,

- die Position der Disulfidbrücke in jedem Monomer aus einer Liste von alternativen Positionen auszuwählen.

42. Ferner wird darauf hingewiesen, dass die eingereichte Anmeldung keinen Hinweis auf die vorliegende Auswahl enthält. Es folgt, dass der Anspruch nicht den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ genügt und der Hilfsantrag 11 deswegen nicht gewährbar ist.

43. Da weder der Hauptantrag noch die Hilfsanträge 6 bis 8 und 11 gewährbar sind und die übrigen von der Beschwerdeführerin I aufrechterhaltenen Hilfsanträge nicht in das Verfahren zugelassen wurden, kann das Streitpatent nicht entsprechend den Anträgen der Beschwerdeführerin I aufrechterhalten werden, sondern ist bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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