T 1623/15 () of 14.1.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T162315.20200114
Datum der Entscheidung: 14 Januar 2020
Aktenzeichen: T 1623/15
Anmeldenummer: 08774004.9
IPC-Klasse: G07C 5/08
G08G 1/16
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: FAHRZEUGSTEUERSYSTEM FÜR EINEN KRAFTWAGEN
Name des Anmelders: WABCO GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention R 42(1)(e)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung - (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0010/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 08 774 004 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) zurückzuweisen.

II. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragte die Beschwerdeführerin, die Zurückweisung aufzuheben und ein Patent zu erteilen auf der Grundlage der Ansprüche gemäß dem Hauptantrag oder gemäß dem Hilfsantrag, beide Anträge eingereicht mit Schriftsatz vom 5. Januar 2015.

III. Es wird auf folgendes Dokument verwiesen:

D8: Wikipedia-Artikel "Gierachse", 3 Seiten, abgerufen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Gierachse am 13. Januar 2020 (von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgelegt).

IV. (i) Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:

"Fahrzeugsteuersystem für einen Kraftwagen (10), mit:

mindestens einem Fahrdatensensor (20) zum Erfassen von einen Fahrzustand des Kraftwagen charakterisierenden Fahrdaten, wobei der Fahrdatensensor (20) als Abstandssensor (20) ausgebildet ist, der zum Erfassen von Abstands- und Relativgeschwindigkeiten (A, DV) zu einem vorausfahrenden Fahrzeug (22) ausgebildet und am Kraftwagen (10) angeordnet ist,

dadurch gekennzeichnet, dass

das Fahrzeugsteuersystem einen Gierratensensor (32) umfasst,

die elektrische Steuerung (26) ausgebildet ist, um Abstands- und Gierratensensordaten als Fahrdaten zu erfassen, welche bei der Bewertung berücksichtigt werden, ob eine autonome Notbremsung durchgeführt wird, und

die elektrische Steuerung (26) ausgebildet ist, um beim Vorliegen von vorbestimmten Fahrdaten des Abstandsensors (20) und des Gierratensensors (32) eine autonome Notbremsung des Kraftwagens (10) auszulösen."

Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet wie folgt:

"Fahrzeugsteuersystem für einen Kraftwagen (10), mit:

mindestens einem Fahrdatensensor (20) zum Erfassen von einen Fahrzustand des Kraftwagen charakterisierenden Fahrdaten, wobei der Fahrdatensensor (20) als Abstandssensor (20) ausgebildet ist, der zum Erfassen von Abstands- und Relativgeschwindigkeiten (A, DV) zu einem vorausfahrenden Fahrzeug (22) ausgebildet und am Kraftwagen (10) angeordnet ist,

(e) mindestens einer Kamera (24, 30) zum Erfassen von Umfeldbildern,

(f) einem Unfalldatenschreiber (28), der eingerichtet ist zum gepufferten Aufzeichnen der Umfeldbilder, und einer elektrischen Steuerung (26) zum Steuern des Fahrdatensensors (20), der Kamera (24, 30) und des Unfalldatenschreibers (28),

dadurch gekennzeichnet, dass

das Fahrzeugsteuersystem einen Gierratensensor (32) umfasst,

die elektrische Steuerung (26) ausgebildet ist, um Abstands- und Gierratensensordaten als Fahrdaten zu erfassen, welche bei der Bewertung berücksichtigt werden, ob eine autonome Notbremsung durchgeführt wird, und

die elektrische Steuerung (26) ausgebildet ist, um beim Vorliegen von vorbestimmten Fahrdaten des Abstandsensors (20) und des Gierratensensors (32) und beim Vorliegen von Umfeldbildern eine Situation erkannt wird, die mit einer oberhalb einer vorgegebenen Schwellenwahrscheinlichkeit zu einem Unfall führt, eine autonome Notbremsung des Kraftwagens (10) auszulösen."

V. In einem Bescheid gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007, teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung mit. Obwohl die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung die Anmeldung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen habe, vertrete die Kammer die Auffassung, dass in der mündlichen Verhandlung weitere Angelegenheiten, insbesondere die Frage, ob die Erfindung die Erfordernisse des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ erfülle, erörtert werden müssten.

VI. Die Argumente der Beschwerdeführerin, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, können wie folgt zusammengefasst werden:

Die in Anspruch 1 beanspruchte Erfindung betreffe ein Fahrzeugsteuersystem für einen Kraftwagen, das eine autonome Notbremsung des Kraftwagens auslösen könne.

Es sei für den Fachmann klar, dass "eine erfindungsgemäße 'autonome Notbremsung' nur im Notfall in kollisionskritischen Situationen eingreift und das Fahrzeug in einem harten Bremseingriff mit einer zulässigen höchstmöglichen Verzögerung an allen mit Bremsen ausgestatteten Rädern abbremst, wenn der Abstand zu einem vorausliegenden Objekt oder Fahrzeug einen kritischen Schwellwert unterschritten hat. Der Zweck dieser Maßnahme ist ... die Verhinderung einer Kollision oder zumindest die Unfallschwere zu vermindern" (Beschwerdebegründung, Seite 2, dritter Absatz; Hervorhebung im Original).

"Dementsprechend erscheint die erweiterte Auslegung des Begriffs 'autonome Notbremsung' durch die Einspruchsabteilung [sic] als autonome Bremsung zur Verhinderung einer allgemeinen Gefahrensituation, wie z.B. einer Schleudergefahr eines Fahrzeuges oder dgl., nicht zulässig und in Bezug auf die Patentanmeldung nicht korrekt zu sein" (Beschwerdebegründung, Seite 2, letzter Absatz; Seite 3, erster Absatz; Hervorhebung im Original).

Gierratensensoren und deren Einsatz in Landfahrzeugen seien Teil des allgemeinen Fachwissens für einen Fachmann auf dem einschlägigen Gebiet der Fahrzeugtechnik, wie zum Beispiel in Dokument D8 erläutert werde.

Bei der Bewertung, ob eine autonome Bremsung durchgeführt werden solle, sei für den Fachmann klar, wie die Gierratensensordaten berücksichtigt werden müssten. Wenn die Gierratensensordaten über einem im Voraus festgesetzten Schwellenwert lägen, dann werde die autonome Notbremsung des Kraftwagens ausgelöst.

Bei Geradeausfahrt, zum Beispiel auf einer Autobahn, sei der Messwert des Gierratensensors sehr gering. Trotzdem könnten, im Falle eines Unfalls oder einer gefährlichen Situation, die Gierratensensordaten noch eine Rolle bei der Stabilisierung der Notbremsung spielen. Dadurch könnten die Gierratensensordaten zur Optimierung der Notbremsung genutzt werden, um Schäden zu vermeiden bzw. zu vermindern.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig.

1. Hauptantrag: Artikel 83 und Regel 42 (1) e) EPÜ

1.1 Obwohl die Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung die Anmeldung nur wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen hat, hat die Beschwerdekammer die Befugnis zu überprüfen, ob die Anmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den übrigen Erfordernissen des EPÜ genügen (siehe G 10/93, Leitsatz). Im vorliegenden Fall hat die Kammer in dem Bescheid gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007 darauf hingewiesen, dass zu prüfen ist, ob die Erfindung die Erfordernisse des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ erfüllt.

1.2 Gemäß Artikel 83 EPÜ ist die Erfindung in einer europäischen Patentanmeldung

"so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann".

Laut Regel 42 (1) e) EPÜ

"ist wenigstens ein Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen anzugeben; dies soll, wo es angebracht ist, durch Beispiele und gegebenenfalls unter Bezugnahme auf Zeichnungen geschehen".

1.3 Anspruch 1 des Hauptantrags definiert ein Fahrzeugsteuersystem mit unter anderem

- einem Abstandssensor (20), der zum Erfassen von Abstands- und Relativgeschwindigkeiten (A, DV) zu einem vorausfahrenden Fahrzeug (22) ausgebildet ist;

- einem Gierratensensor; und

- einer elektrischen Steuerung (26),

wobei die elektrische Steuerung ausgebildet ist,

- um Abstands- und Gierratensensordaten als Fahrdaten zu erfassen, welche bei der Bewertung berücksichtigt werden, ob eine autonome Notbremsung durchgeführt wird, und

- um beim Vorliegen von vorbestimmten Fahrdaten des Abstandssensors (20) und des Gierratensensors (32) eine autonome Notbremsung des Kraftwagens (10) auszulösen.

1.4 Die Kammer stimmt der Argumentation der Beschwerdeführerin zu, dass unter dem Begriff "autonome Notbremsung" ein bei Gefahrensituationen automatisch ausgelöster harter Bremseingriff, um einen Frontaufprall zu verhindern oder abzumildern, zu verstehen ist.

1.5 Auf welche Weise Fahrdaten des Abstandssensors verwendet werden können, um eine autonome Notbremsung des Kraftwagens auszulösen, ist in der Anmeldung erläutert (Seite 5, Zeilen 13-25) und ist dem Fachmann wohlbekannt (siehe z.B. Seite 1, Zeilen 17-23).

In dem Fahrzeugsteuersystem gemäß der Erfindung sollen die Fahrdaten des Gierratensensors in Kombination mit den Fahrdaten des Abstandssensors verwendet werden, um die autonome Notbremsung des Kraftwagens auszulösen. Um zu beurteilen, ob die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt sind, ist zu fragen, ob die Anmeldung deutlich und vollständig offenbart, wie in dem Entscheidungsprozess, ob eine autonome Notbremsung auszulösen ist, die Fahrdaten eines Gierratensensors verwendet werden.

1.6 In der Beschreibung wird lediglich angegeben, dass bei der Entscheidung, ob eine autonome Bremsung durchgeführt werden soll, die Gierratensensordaten "berücksichtigt" werden können (Seite 2, Zeilen 33-37), oder dass die Entscheidung "anhand" der Gierratensensordaten getroffen werden kann (Seite 3, Zeilen 12-15).

Der Teil der Beschreibung, in dem das Ausführungsbeispiel der einzigen Figur näher erläutert wird (Seite 4, Zeile 23 bis Seite 6, Zeile 5), wo sich gemäß Regel 42 (1) e) EPÜ normalerweise zumindest ein "Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen" befindet, enthält nur einen einzigen Absatz (Seite 6, Zeilen 1-5), in dem ein Gierratensensor erwähnt wird, aber nicht im Kontext einer autonomen Notbremsung.

Folglich findet sich explizit in der Anmeldung keine Erläuterung, wie das Fahrzeugsteuersystem gemäß Anspruch 1 realisiert werden kann.

1.7 Die Kammer geht davon aus, dass der Fachmann die in der Anmeldung enthaltenen Informationen durch sein allgemeines Fachwissen vervollständigen kann. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine detaillierte Offenbarung entbehrlich, wenn der Fachmann, dem das allgemeine Fachwissen unmittelbar zur Verfügung steht, in der Lage ist, die Erfindung ohne erfinderisches Zutun in der Praxis umzusetzen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, 9. Auflage 2019, II.C.4.1, dritter und sechster Absatz).

1.8 Die Beschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung zwei verschiedene Argumente in dieser Hinsicht vorgebracht.

1.9 Erstens macht die Beschwerdeführerin geltend, dass der Fachmann ohne Weiteres erkennen würde, dass die Erfindung durch die Festlegung eines vorbestimmten Schwellenwertes für die Gierratensensordaten ausgeführt werden könne. Dadurch könne die autonome Notbremsung des Kraftwagens dann ausgelöst werden, wenn die Gierratensensordaten über dem festgesetzten Schwellenwert lägen.

Wie bereits erwähnt ist der eindeutige Standpunkt der Beschwerdeführerin, dass es für den Fachmann implizit sei, dass der Begriff "autonome Notbremsung" einen automatisch ausgelösten harten Bremseingriff bedeutet, um eine Kollision mit einem Objekt (insbesondere mit einem vorausfahrenden Fahrzeug) zu verhindern oder abzumildern.

Die Gierrate stellt ein Maß für die Drehrate des Fahrzeugs um eine vertikale Achse dar und hat an sich nichts mit externen Objekten zu tun. Insbesondere ist die Gierrate ein Parameter, der völlig unabhängig von der Anwesenheit oder Abwesenheit eines vorausfahrenden Fahrzeugs ist. Ist ein solches Fahrzeug anwesend, hängt die Gierrate nicht von dem Abstand und der Geschwindigkeit relativ zu diesem Fahrzeug ab. Selbst unter Berücksichtigung seines Fachwissens wäre es für den Fachmann nicht ersichtlich, wie dieser Parameter genutzt werden kann, um einen Bremseingriff zum Zweck der Vermeidung oder Abmilderung einer Kollision mit einem vorausfahrenden Fahrzeug oder einem Objekt auszulösen.

1.10 Zweitens hat die Beschwerdeführerin argumentiert, dass im Falle eines Unfalls oder einer gefährlichen Situation die Gierratensensordaten eine Rolle bei der Stabilisierung und Optimierung der Notbremsung spielen könnten.

1.11 Es gibt in der Anmeldung keine Erklärung dafür, wie eine Stabilisierung und Optimierung der Notbremsung mittels der Gierratensensordaten ausgeführt werden können, und die Kammer sieht keinen triftigen Grund dafür, dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zuzustimmen, dass eine solche Maßnahme im Rahmen des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns liegen würde.

Aber selbst wenn dieses Argument der Beschwerdeführerin zutreffen sollte, ist es für die Frage, ob die Anmeldung die Erfordernisse des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ erfüllt, irrelevant. Um die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ zu erfüllen, muss ein Fachmann auf Grundlage der Offenbarung der Anmeldung nämlich in der Lage sein, die beanspruchte Erfindung auszuführen. In der Regel 42 (1) e) EPÜ wird ausdrücklich angegeben, dass die beanspruchte Erfindung ausreichend offenbart sein muss ("wenigstens ein Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen").

In der vorliegenden Sache definiert Anspruch 1 des Hauptantrags eine Erfindung, wobei die Fahrdaten des Gierratensensors (in Kombination mit den Fahrdaten des Abstandssensors) verwendet werden, um die autonome Notbremsung des Kraftwagens auszulösen. Ob der Fachmann in der Lage wäre, die Fahrdaten des Gierratensensors zu verwenden, um die autonome Notbremsung zu stabilisieren oder zu optimieren, ist eine vollkommen andere Frage, die für die Beurteilung, ob die beanspruchte Erfindung den Anforderungen des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ entspricht, nicht relevant ist.

1.12 Aus den obigen Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die in Anspruch 1 des Hauptantrags definierte Erfindung die Erfordernisse des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ nicht erfüllt.

2. Hilfsantrag: Artikel 83 und Regel 42 (1) e) EPÜ

2.1 Auch in Anspruch 1 des Hilfsantrags ist eine Erfindung definiert, wobei die Fahrdaten des Gierratensensors (in Kombination mit der Fahrdaten des Abstandssensors und mit Umfeldbildern, die mit einer Kamera erfasst sind) verwendet werden, um eine autonome Notbremsung des Kraftwagens auszulösen.

2.2 Aus denselben Gründen wie oben erfüllt daher diese Erfindung die Erfordernisse des Artikels 83 und der Regel 42 (1) e) EPÜ nicht.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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