European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2016:T150815.20160429 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 29 April 2016 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1508/15 | ||||||||
Anmeldenummer: | 09002919.0 | ||||||||
IPC-Klasse: | B61C 9/12 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Antriebsstrang für ein Kraftfahrzeug mit zwei gleichwertigen Fahrtrichtungen | ||||||||
Name des Anmelders: | Voith Patent GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | ZF Friedrichshafen AG | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Ausführbarkeit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (nein) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchabteilung, mit der der gegen das europäische Patent Nr. 2 098 432 eingelegte Einspruch zurückgewiesen wurde.
II. Der Einspruch war unter anderem auf die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a), 100 b) EPÜ 1973 gestützt. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann, und dass der Gegenstand der erteilten Ansprüche neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
III. In ihrer Beschwerdebegründung hat sich die Beschwerdeführerin unter anderem auf folgende bereits in der ersten Instanz zitierten Druckschriften bezogen:
D2: DE-C-857 387,
D4: DE-A-198 27 581,
D6: DE-C-958 200,
D9: Voith Antriebstechnik, 100 Jahre Föttinger Prinzip, Springer Verlag (veröffentlicht 2005),
D12: ZF Broschüre "ZF-Power on Track" (veröffentlicht spätestens am 19.09.2007 auf der Messe Asia Rail Solutions, in Hong Kong, Congress & Exhibition Center, hierfür wird Zeugenbeweis durch Herrn Thomas Rasch angeboten).
IV. Am 29. April 2016 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr aufgrund wesentlicher Verfahrensmängel.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des bisherigen Hilfsantrags IV vom 31. März 2015, der als einziger Antrag gestellt wurde.
In der mündlichen Verhandlung hat sich die Beschwerdeführerin noch auf das folgende Fachbuch berufen:
D13: "Der Fahrzeugpark der deutschen Bundesbahn und neue von der Industrie entwickelte Schienenfahrzeuge", Dr.-Ing. Heinrich Lehmann und Dipl.-Ing. Erhard Pflug, Seiten 7, 66-67 und 119, G. Siemens Verlagsbuchhandlung Berlin und Bielefeld, Stand von Mai 1956.
V. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß dem einzigen Antrag lautet wie folgt (Merkmalsgliederung durch die Kammer):
1. Antriebsstrang für ein Kraftfahrzeug mit zwei gleichwertigen Fahrtrichtungen, insbesondere Schienenfahrzeug,
1.1 mit einem Antriebsmotor (1) zum Antrieb des Fahrzeugs;
1.2 mit einem Wechselgetriebe (2), umfassend eine Wechselgetriebeeingangswelle (2.1) und eine Wechselgetriebeausgangswelle (2.2) sowie eine Vielzahl von Schaltelementen, um verschiedene Drehzahlverhältnisse zwischen der Drehzahl der Wechselgetriebeeingangswelle (2.1) und der Drehzahl der Wechselgetriebeausgangswelle (2.2) herzustellen;
1.3 mit wenigstens einem Antriebsrad (3), das über das Wechselgetriebe (2) in einer Triebverbindung mit dem Antriebsmotor (1) steht oder in eine solche schaltbar ist;
1.4 mit einem Radsatzgetriebe (4) in der Triebverbindung zwischen dem Wechselgetriebe (2) und dem Antriebsrad (3), über welches Antriebsleistung dem Antriebsrad (3) zugeführt wird; wobei
1.5 das Wechselgetriebe (2) ein Wechselgetriebegehäuse (2.3) aufweist, welches die Schaltelemente umschließt und von der Wechselgetriebeausgangswelle (2.2), einer an dieser angeschlossenen Welle oder einem anderen Leistungsausgang zur Übertragung von Antriebsleistung aus dem Wechselgetriebegehäuse (2.3) heraus durchdrungen wird; wobei
1.6 ein separates Umkehrgetriebe (5) in der Triebverbindung zwischen dem Wechselgetriebe (2) und dem Radsatzgetriebe (4) oder zwischen dem Antriebsmotor (1) und dem Wechselgetriebe (2) vorgesehen ist, das außerhalb des Wechselgetriebegehäuses(2.3) und des Radsatzgetriebes (4) positioniert ist und eine Eingangswelle (5.1) sowie eine Ausgangswelle (5.2) aufweist, wobei
1.7 bei Anordnung des separaten Umkehrgetriebes (5) in der Triebverbindung zwischen dem Wechselgetriebe (2) und dem Radsatzgetriebe (4) die Eingangswelle (5.1) in einer Triebverbindung mit der Wechselgetriebeausgangswelle (2.2) steht oder in eine solche schaltbar ist und die Ausgangswelle (5.2) in einer Triebverbindung mit dem Radsatzgetriebe (4) steht oder in eine solche schaltbar ist, oder bei Anordnung des Umkehrgetriebes (5) in der Triebverbindung zwischen dem Antriebsmotor (1) und dem Wechselgetriebe (2) die Eingangswelle (5.1) in einer Triebverbindung mit einer Abtriebswelle (1.1) des Antriebsmotors (1) steht oder in eine solche schaltbar ist und die Ausgangswelle (5.2) in einer Triebverbindung mit der Wechselgetriebeeingangswelle (2.1) steht oder in eine solche schaltbar ist; dadurch gekennzeichnet, dass
1.8 das Umkehrgetriebe (5) am Wechselgetriebegehäuse (2.3) aufgehängt oder zusammen mit dem Wechselgetriebegehäuse (2.3) an einem gemeinsamen Rahmen aufgehängt ist, und
1.9 das Umkehrgetriebe (5) eine Schalteinheit zur Einstellung von wenigstens drei oder genau drei Schaltstellungen aufweist, umfassend
1.9.1 eine erste Schaltstellung, in welcher die Ausgangswelle (5.2) in einer mechanischen Triebverbindung mit der Eingangswelle (5.1) steht und mit derselben Drehzahl oder einer abweichenden Drehzahl und derselben Drehrichtung wie die Eingangswelle (5.1) umläuft, und
1.9.2 eine zweite Schaltstellung, in welcher die Ausgangswelle (5.2) in einer mechanischen Triebverbindung mit der Eingangswelle (5.1) steht und mit derselben Drehzahl oder einer abweichenden Drehzahl und in entgegengesetzter Drehrichtung wie die Eingangswelle (5.1) umläuft, und
1.9.3 eine dritte Schaltstellung, in welcher die mechanische Triebverbindung zwischen der Eingangswelle (5.1) und der Ausgangswelle (5.2) unterbrochen ist; und
1.10 dass der Antriebsmotor (1) eine Abtriebswelle (1.1), insbesondere in Form einer Kurbelwelle, aufweist, die in einer Triebverbindung mit der Wechselgetriebeeingangswelle (2.1) steht oder in eine solche schaltbar ist, und die Abtriebswelle (1.1) nur in einer Drehrichtung durch den Antriebsmotor (1) antreibbar ist; und
1.11 dass das Wechselgetriebe (2) ein Schaltelement aufweist, um die Drehrichtung der Wechselgetriebeausgangswelle (2.2) gegenüber der Wechselgetriebeeingangswelle (2.1) wahlweise umzukehren.
Der unabhängige Anspruch 4 gemäß dem einzigen Antrag lautet wie folgt (Merkmalsgliederung durch die Kammer):
9 Umkehrgetriebe zur Verwendung in einem Antriebsstrang gemäß einem der Ansprüche 1 bis 3, mit
9.1 einer Eingangswelle (5.1) zum Einleiten von Antriebsleistung und
9.2 einer Ausgangswelle (5.2) zum Ausleiten von Antriebsleistung,
9.3 mit einem Getriebegehäuse (5.3), welches die Eingangswelle (5.1) und die Ausgangswelle (5.2) zumindest teilweise umschließt;
9.4 mit einem Planetengetriebe (7), umfassend ein Sonnenrad (7.1), ein Hohlrad (7.2) und wenigstens ein Planetenrad (7.3), wobei
9.4.1 die Übersetzung zwischen dem Sonnenrad (7.1) und dem Hohlrad (7.2) derart ausgeführt ist, dass das Sonnenrad (7.1) und das Hohlrad (7.2) stets mit derselben Drehzahl oder Drehzahlverhältnis jedoch in entgegengesetzter Drehrichtung umlaufen;
9.4.2 das Sonnenrad (7.1) oder das Hohlrad (7.2) wird drehfest von der Eingangswelle (5.1) oder der Ausgangswelle (5.2) getragen oder ist drehfest an dieser angeschlossen, dadurch gekennzeichnet, dass
9.5 eine Schalteinheit (8) vorgesehen ist, mittels welcher wahlweise in einer ersten Schaltstellung eine Triebverbindung entweder unmittelbar oder über eine mechanische Getriebestufe mit demselben Drehzahlverhältnis wie das Planetengetriebe (7) zwischen der Eingangswelle (5.1) und der Ausgangswelle (5.2), oder in einer zweiten Schalterstellung zwischen einer der beiden Wellen (5.1,5.2) und dem Sonnenrad (7.1) oder dem Hohlrad (7.2) herstellbar ist.
VI. Zur Stützung ihres Antrags brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes vor:
Der Einspruchsgrund mangelnder Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ) werde aufrechterhalten und betreffe die Frage der Ausführbarkeit des Antriebsstrang mit einer Aufhängung nach dem Merkmal 1.8 ("das Umkehrgetriebe [ist] am Wechselgetriebegehäuse aufgehängt oder zusammen mit dem Wechselgetriebegehäuse in einem gemeinsamen Rahmen aufgehängt"). Nicht nur sei der Begriff "aufgehängt" im Streitpatent nicht weiter definiert, vielmehr enthalte das Streitpatent keine einzige Angabe darüber, wie die Aufhängung nach dem Merkmal 1.8 aussehen solle. Insbesondere werde der Fachmann im Unklaren gelassen, wie die Aufhängung des Umkehrgetriebes am Wechselgetriebegehäuse bzw. des Umkehrgetriebes zusammen mit dem Wechselgetriebegehäuse an einem gemeinsamen Rahmen aussehen solle. Die der Patentschrift zu entnehmende Information reiche für den Fachmann nicht aus, um ohne unzumutbaren Aufwand einen Antriebsstrang mit der im Merkmal 1.8 definierten Aufhängung in die Praxis umzusetzen.
Bezüglich des Einspruchsgrund unter Artikel 100 b) EPÜ beruhe die angefochtene Entscheidung auf einem Begründungsmangel, der die Rückerstattung der Beschwerdegebühr rechtfertige. Insbesondere sei die Einspruchsabteilung nicht darauf eingegangen, wie die Verbindung zwischen dem Umkehrgetriebe und dem Wechselgetriebe aussehen solle. Darüber hinaus sei in der angefochtenen Entscheidung der Einwand unberücksichtigt geblieben, dass ein Fahrzeugrahmen nicht Teil eines Antriebsstrangs sein könne.
Bei der Behandlung der Frage der erfinderischen Tätigkeit habe die Einspruchsabteilung das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) verletzt (Artikel 113 (1) EPÜ). Die im Hinblick auf mangelnde erfinderische Tätigkeit vorgebrachte Argumentationslinie ausgehend von D6 als nächstliegendem Stand der Technik in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen sei weder in der angefochtenen Entscheidung noch in der Niederschrift behandelt worden (vgl. Antrag auf Berichtigung der Niederschrift datiert vom 6. August 2015), obwohl sie Gegenstand des Vortrags der Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung gewesen sei. Dies stelle einen weiteren wesentlichen Verfahrensfehler dar, der gleichfalls die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Gegenüber dem in der Abb. 1 von D2 dargestellten Antriebsstrang als nächstliegendem Stand der Technik seien die Merkmale 1.8, 1.9 und 1.10 des kennzeichnenden Teils des Anspruchs 1 entweder implizit bekannt oder naheliegend. Bezüglich des Merkmals 1.11 solle nach Angaben der Patentinhaberin selbst (vgl. Absatz [0016] der Patentschrift) das Schaltelement im Wechselgetriebe nicht funktionsfähig sein, so dass Merkmal 1.11 keine zusätzliche technische Wirkung entfalte. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollten Merkmale, die keinen technischen Beitrag leisten, bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden. Gemäß dem Merkmal 1.11 des Anspruchs 1 solle nämlich ein übliches Wechselgetriebe aus dem Nutzfahrzeugbereich, aufweisend ein darin übliches Schaltelement zur Drehrichtungsumkehr, verwendet werden. Eine Anpassung des Wechselgetriebes sei demnach gerade nicht beansprucht.
Darüber hinaus führe, ausgehend von dem in der Abb. 1 von D2 dargestellten Antriebstrang, die Lehre des Dokuments D9 oder des Dokuments D12 oder des Dokuments D13 in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1. Es stehe nämlich im Belieben des Fachmannes, ein geeignetes, den jeweiligen Anforderungen eines Antriebsstranges genügendes, Wechselgetriebe für diesen auszuwählen. Der Fachmann werde dabei selbstverständlich in fachüblicher Weise auf bewährte und kostengünstige bekannte Wechselgetriebe zurückgreifen und in diesem Zusammenhang auch die in unterschiedlichen Ausführungsformen zur Verfügung stehenden Wechselgetriebe für Nutzfahrzeuge in Betracht ziehen, soweit deren Eignung gegeben ist. Eine etwaige zusätzliche, für den Antriebsstrang nicht benötigte Funktion, wie beispielsweise die Möglichkeit einer Drehrichtungsumkehr durch das Wechselgetriebe, sei dabei unbeachtlich. Die Broschüre D12 "ZF-Power on Track" belege die Verwendbarkeit von Kraftfahrzeuggetrieben bei Antriebssträngen für Schienenfahrzeuge. Ein weiterer Beleg für die Verwendbarkeit von Nutzfahrzeug-Wechselgetrieben in Antriebssträngen für Schienenfahrzeuge ergebe sich aus der D9, wo eine derartige Anordnung auf Seite 93 im Abschnitt "Das Diwabusgetriebe in ausländischen Leichttriebwagen" beschrieben sei. Auch das Dokument D13 beschreibe auf den Seiten 66-67 den Einsatz eines serienmäßigen Wechselgetriebes aus dem Kraftfahrzeugbau in einem Antriebsstrang für ein Schienenfahrzeug. Folglich sei keine erfinderische Tätigkeit erforderlich, um zum Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen.
Der Gegenstand des Anspruchs 4 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die darin enthaltenen Merkmale gingen über den Aufbau und die Funktionsweise des aus der D2 bekannten Planetengetriebes allenfalls im Hinblick auf konstruktive, im Rahmen fachmännischen Handelns liegende Details nicht hinaus, so dass etwaige Unterscheidungsmerkmale nicht zu einem auf erfinderischer Tätigkeit beruhenden Umkehrgetriebe zu führen vermögen.
VII. Zu dem Vorbringen der Beschwerdeführerin lassen sich die Gegenargumente der Beschwerdegegnerin, soweit sie für die vorliegende Entscheidung von Relevanz sind, wie folgt zusammenfassen:
Der beanspruchte Antriebsstrang sei ausführbar. Bei dem Begriff "Aufhängung" handele es sich um eine fachübliche Bezeichnung einer Lagerung, bei welcher die Gewichtskräfte und eben auch die Betriebskräfte des aufgehängten Bauteils von jenem Gegenstand aufgenommen werden, an welchem das aufgehängte Bauteil aufgehängt ist.
Ausgehend von dem in der Abb. 1 von D2 dargestellten Antriebstrang als nächstliegendem Stand der Technik unterscheide sich der Gegenstand des Anspruchs 1 zumindest durch die Merkmale 1.8, 1.9, 1.10 und 1.11, die nicht eindeutig und unmittelbar aus dem Inhalt von D2 hervorgingen.
Die in der Figur 1 von D2 gezeigte Schaltmuffe sei anhand der üblichen schematischen Darstellung gezeigt. Gemäß Seite 2, Zeilen 96-100 könne die Abtriebswelle 4 des Wechselgetriebes 2 durch die Schaltmuffe 5 entweder mit dem Zahnrädersatz 6, 7 oder dem Rädersatz 8, 9, 10 mit Zwischenrad gekuppelt werden. Eine dritte Schaltstellung der Schaltmuffe 5 ergebe sich weder aus der Figur 1 noch aus der Beschreibung.
Die Beschwerdeführerin habe erstmals während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer das Fachbuch D13 zu diesen unterscheidenden Merkmalen des Anspruchs 1 zitiert. Dieses verspätet vorgelegte Dokument solle nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) führe mit der Beschwerdebegründung (Gliederungspunkt 11) erstmals an, dass sich der ein Umkehrgetriebe betreffende Anspruch 9 naheliegend aus dem Dokument D2 in Kombination mit dem Fachwissen ergebe. Da zum Anspruch 9 seitens der Einsprechenden bisher nur ausgehend von der D1 in Kombination mit dem Fachwissen argumentiert worden sei, sei dieses Vorbringen als verspätet zurückzuweisen. Darüber hinaus beruhe das Umkehrgetriebe gemäß Anspruch 4 auf einer erfinderischen Tätigkeit, denn es werde durch das in D2 offenbarte Wendegetriebe ohnehin nicht nahegelegt.
Im Einspruchsverfahren sei kein wesentlicher Verfahrensmangel erkennbar.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit der Änderungen (Artikel 123 EPÜ)
Der vorliegende Anspruch 1 ergibt sich aus der Kombination der Ansprüche 1, 2 und 3 des Streitpatents in der erteilten Fassung. Der unabhängige Anspruch 4 entspricht dem unabhängigen Anspruch 9 in der erteilten Fassung. Die abhängigen Ansprüche sind umnummeriert und die Beschreibung an die geänderten Ansprüche angepasst worden.
3. Ausführbarkeit
Bei der Frage der Ausführbarkeit des Merkmals 1.8 des beanspruchten Antriebstranges ist zu berücksichtigen, dass es beim Streitpatent nicht um die detaillierten technischen Maßnahmen geht, die eine in Hinblick auf die Betriebskräfte sichere und vibrationsarme Aufhängung der erwähnten Getriebe in dem Fahrzeugrahmen gewährleisten sollen, sondern prinzipiell um den konstruktiven Aufbau eines Antriebstranges für ein Schienenfahrzeug mit zwei gleichwertigen, entgegengesetzten Fahrtrichtungen unter Verwendung von einfachen Radsatzgetrieben und Wechselgetrieben (vgl. Absatz [0008] der Patentschrift). Bei der Lösung dieser Problematik (architektonischer Aufbau des Antriebsstrangs) wird der Begriff "aufgehängt" im Anspruch 1 verwendet. Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, bereitet für den Fachmann die Auslegung dieses Begriffs in dem erwähnten Kontext keine Schwierigkeiten, denn es handelt sich um eine im Bereich der Fahrzeuggetriebe gebräuchliche und fachübliche Bezeichnung, bei welcher die Gewichtskräfte und die Betriebskräfte des aufgehängten Bauteils von jenem Gegenstand aufgenommen werden, an welchem das aufgehängte Bauteil befestigt ist. Gemäß dem ersten Teil des Merkmals 1.8, wonach das Umkehrgetriebe am Wechselgetriebegehäuse aufgehängt ist, nimmt das Wechselgetriebegehäuse die Gewichtskräfte und Betriebskräfte des Umkehrgetriebes auf, und gemäß dem sogenannten zweiten Teil des Merkmals 1.8, wonach das Umkehrgetriebe zusammen mit dem Wechselgetriebegehäuse an einem gemeinsamen Rahmen aufgehängt ist, nimmt der gemeinsame Rahmen die Gewichtskräfte und Betriebskräfte des Wechselgetriebegehäuses und des Umkehrgetriebes auf. Wie genau diese Gewicht- und Betriebskräfte im Einzelnen aufgenommen werden, ist im Kontext der vorliegenden Erfindung unerheblich und gehört zum Fachwissen. Geeignete Aufhängungen für die zwei beanspruchten Ausführungsvarianten können, wie die Patentschrift im Absatz [0021] andeutet, in ihren Ausführungsformen vielfältig sein, bereiten jedoch einem Spezialisten auf dem Gebiet der Fahrzeug-Getriebetechnik keine Schwierigkeiten.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Anspruch 1: erfinderische Tätigkeit ausgehend von D2
4.1.1 In Reaktion auf die Einreichung des vorliegenden Antrags (des bisherigen Hilfsantrags IV vom 31. März 2015) während der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin das Dokument D13 zitiert. Da dieses Dokument sich mit dem Einsatz von Wechselgetrieben aus dem Nutzfahrzeugbereich in Schienenfahrzeugen beschäftigt, wurde es von der Kammer als relevant erachtet und, da seine sofortige Behandlung den Beteiligten zumutbar erschien, in das Verfahren eingeführt (Artikel 13(1) VOBK).
4.1.2 Ausgehend von dem in der Abb. 1 von D2 dargestellten Antriebstrang als nächstliegendem Stand der Technik ist zwischen den Parteien unumstritten, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 sich zumindest durch das Merkmal 1.11 unterscheidet.
4.1.3 Merkmal 1.11, wonach das Wechselgetriebe ein Schaltelement aufweist, um die Drehrichtung der Wechselgetriebeausgangswelle gegenüber der Wechselgetriebeeingangswelle wahlweise umzukehren, stellt einen technischen Beitrag zur Lösung der im Absatz [0008] der Patentschrift zitierte Aufgabe dar, "einen Antriebsstrang für ein Schienenfahrzeug mit zwei gleichwertigen, entgegengesetzten Fahrtrichtungen zur Verfügung zu stellen, welcher die Verwendung von einfachen Radsatzgetrieben und Wechselgetrieben, letztere insbesondere auch aus dem Nutzfahrzeugbereich, ermöglicht" (Fettdruck durch die Kammer). Das vorzugsweise aus dem Nutzfahrzeugbereich kommende, serienmäßige Wechselgetriebe weist gemäß Merkmal 1.11 einen Rückwärtsgang auf. Durch das zusätzlich beanspruchte Umkehrgetriebe ist es natürlich nicht notwendig, diesen Rückwärtsgang zu nutzen, so dass insbesondere Maßnahmen getroffen werden können, die ein Einlegen dieses Rückwärtsganges nicht zulassen (vgl. Absatz [0016] der Patentschrift). Somit hat entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin Merkmal 1.11 einen technischen Charakter.
4.1.4 Für die Kammer hat der Fachmann angesichts der Lehre von D2 überhaupt keinen Anlass, das Wechselgetriebe mit einem Schaltelement gemäß dem Merkmal 1.11 auszustatten. Auch ergibt sich der Antriebsstrang mit den Merkmalen des Anspruchs 1 nicht aus den von der Beschwerdeführerin angeführten Kombinationen D2 mit D9 bzw. D2 mit D12 oder D2 mit D13.
D9 belegt den Schieneneinsatz einer aus dem Kraftfahrzeugbau kommenden Getriebebauart (Diwabus 200 S). Diese Bauart besitzt einen Nachschaltteil (Schaltelement zur Drehrichtungsumkehr), der "zwei Planetenradsätze für den Vorwärtsgang und den gleichwertigen Rückwärtsgang" enthält (Fettdruck durch die Kammer). Gerade deshalb wird in D9 betont, dass in diesem Antriebsstrang kein (Radsatz-) Wendegetriebe benötigt wird (Seite 93, zweiter Absatz).
D12 belegt die Anpassung zweier bekannten serienmäßigen Kfz-Getriebetypen (ZF Ecomat/Ecolife Rail und ZF AS Rail) für einen Betrieb im Schienenverkehr (vgl. insbesondere Seite 6/20 ff). Welche Anpassung zu diesem Zweck vorgenommen wurde, ist in D12 nicht angegeben. Darüber hinaus besitzen die beschriebenen Wechselgetriebe eine Neutralschaltstellung (Seite 7/20, linke Spalte unten) oder eine Hauptkupplung (Seite 8/20, rechte Spalte unten: "dry clutch)" zur mechanischer Kraftunterbrechung. Wie die Drehrichtungsumkehr erreicht wird, ist in D12 nicht angegeben. Es ist deshalb mehr als fraglich, ob eine dritte Schaltstellung (Neutralstellung gemäß Merkmal 1.9.3) in einem vermeintlichen, separaten Umkehrgetriebe des Antriebsstrangs benötigt wird.
D13 dokumentiert zwar die "Verwendung serienmäßiger Dieselmotoren u. Getriebe aus dem Kraftfahrzeugbau" im Schienenverkehr (vgl. Seite 66, letzter Absatz). Das Wechselgetriebe besteht jedoch aus einem elektromagnetischen ZF-6-Ganggetriebe und das Wendegetriebe ist in dem Radsatzgetriebe integriert (Seite 67 erste Spalte).
Folglich kann festgestellt werden, dass der Antriebsstrang gemäß D2 auf der einen Seite und die in den Dokumenten D9, D12 oder D13 offenbarten Antriebsstränge auf der anderen Seite auf völlig unterschiedlichen Antriebkonzepten und unterschiedlicher Architektur beruhen, so dass nach Ansicht der Kammer keine Veranlassung besteht für die von der Beschwerdeführerin erwähnten Kombinationen. Bei keinem der Antriebstränge von D9, D12, D13 ist ein Schaltelement zur Drehrichtungsumkehr im Wechselgetriebe vorhanden, wobei letzteres mit einem separaten Umkehrgetriebe kombiniert wird. Weder D12 noch D9 noch D13 zeigen ein separates Umkehrgetriebe in der Triebverbindung zwischen einem Wechselgetriebe und einem Radsatzgetriebe.
4.2 Unabhängiger Anspruch 4: erfinderische Tätigkeit ausgehend von D2
4.2.1 Diese Argumentationslinie wurde bereits mit der Beschwerdebegründung vorgebracht. In Ausübung ihres Ermessens hat die Kammer nicht von ihrer Befugnis nach Artikel 12 (4) VOBK Gebrauch gemacht, diese Argumentationslinie nicht ins das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
4.2.2 Das Umlaufgetriebe 12-14 in der Druckschrift D2 ist in Triebverbindung zwischen der Hohlwelle 11 (Ausgangswelle des Umkehrgetriebes) und den Radsatzgetrieben 16,26 angeordnet. Es fungiert nicht als Umkehrgetriebe, sondern nur einerseits als Ausgleichsgetriebe und andererseits als Übersetzungsgetriebe (Seite 1, Zeilen 22-25). Das Umkehrgetriebe wird von den Stirnrädersätzen 6-7 und 8-10 in Vorgelegebauweise ausgeführt (D2: Seite 2, Zeilen 95-101), d.h. dass ein Zwischenrad 9 sich in Triebverbindung mit einem der Eingangszahnräder 6,8 und einem Ausgangszahnrad 10 der Ausgangswelle (Hohlwelle 11) befindet. Ein Umkehrgetriebe mit den Merkmalen des Anspruchs 4, insbesondere die dazugehörige Schalteinheit, wird weder durch D2 noch durch eines der zitierten Dokumente nahegelegt.
5. Antrag auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr
5.1 Die Kammer kann weder eine mangelnde Begründung der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Ausführbarkeit, noch einen wesentlichen Verfahrensfehler in der Nichtberücksichtigung der Argumentationslinie "D6 mit Fachkenntnissen" erkennen.
5.2 Der Einwand mangelnder Begründung der angefochtenen Entscheidung beruht unter anderem darauf, dass die Einspruchsabteilung auf das Argument der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) nicht eingegangen sei, ein Fahrzeugrahmen sei nicht Teil eines Antriebsstrangs.
Dieser Einwand stellt jedoch lediglich die Klarheit des Anspruchs in Frage, wobei dieses Klarheitsproblem durch entsprechende Auslegung des Anspruchs mühelos gelöst werden kann. Bei dem Wortlaut "an einem gemeinsamen Rahmen aufgehängt" geht es hier lediglich um die Eignung der im Anspruch 1 erwähnten Getriebe des Antriebstrangs, in dem Rahmen eines Schienenfahrzeugs aufgehängt zu werden. Wie oben in Verbindung mit der Ausführbarkeit dargelegt, kann der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand den beanspruchten Antriebsstrang ausführen.
5.3 Auch den Einwand, die Einspruchsabteilung sei nicht darauf eingegangen, wie die Verbindung (Aufhängung) zwischen dem Umkehrgetriebe und dem Wechselgetriebe aussehen solle (Begründungsmangel), hält die Kammer in Hinblick auf den prinzipiellen konstruktiven Aufbau des Antriebstranges (vgl. obiger Absatz 3 zur Ausführbarkeit) für nicht gerechtfertigt.
5.4 Die Beschwerdeführerin hat bemängelt, dass die in Hinblick auf mangelnde erfinderische Tätigkeit vorgebrachte Argumentationslinie "D6 mit allgemeinem Fachwissen" weder in der angefochtenen Entscheidung noch in der Niederschrift behandelt wurde. Dazu stellt die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung die Argumentationslinie behandelt hat, wonach ausgehend von D6 als nächstliegendem Stand der Technik es naheliegend sei, eine Neutralstellung im Umkehrgetriebe nach Vorbild von D4 vorzusehen. Der Bezug auf D4 sollte hier offensichtlich das Fachwissen exemplarisch belegen, wonach solche Umkehrgetriebe bzw. Wendegetriebe eine Neutralstellung besitzen. Die Kammer sieht deshalb keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dieser Argumentationslinie und der Argumentationslinie "D6 mit Fachwissen". Mithin kann sie darin keinen wesentlichen Verfahrensfehler erkennen. Darüber hinaus hat der Angriff "D6 mit Fachwissen" im Beschwerdeverfahren in Hinblick auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 wie erteilt keine Rolle gespielt, so dass es nicht der Billigkeit entsprechen würde, eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr aus diesem Grund anzuordnen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage folgender Unterlagen aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1 bis 7 des einzigen Antrags (entspricht dem bisherigen Hilfsantrag IV vom 31. März 2015);
- Beschreibung, Spalten 1, 2, 5, 6, 9 bis 11 wie erteilt und Spalten 3, 4, 7 und 8 wie heute eingereicht;
- Figur wie erteilt.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.