T 1423/15 () of 23.2.2018

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2018:T142315.20180223
Datum der Entscheidung: 23 Februar 2018
Aktenzeichen: T 1423/15
Anmeldenummer: 12175227.3
IPC-Klasse: G01S 7/32
G01S 7/282
G01S 13/56
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 368 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Detektieren einer Änderung innerhalb eines einem Präsenz- oder Bewegungssensor zugeordneten Überwachungsbereiches
Name des Anmelders: Insta GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention R 103(1)(a)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 11
Schlagwörter: Rechtliches Gehör - wesentlicher Verfahrensmangel (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
J 0007/82
T 0951/92
T 2528/12
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Prüfungsabteilung wies die europäische Patentanmeldung Nr. 12 175 227.3 wegen mangelnder Klarheit (Art. 84 EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) zurück.

II. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein.

Mit der Beschwerde beantragte die Beschwerdeführerin die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben, die Schutzfähigkeit der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Ansprüche 1 bis 15 anzuerkennen und eine Mitteilung nach R. 71(3) EPÜ zu erlassen oder die Angelegenheit zur weiteren Veranlassung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

Hilfsweise wurden der Erlass einer Mitteilung nach Regel 100(2) EPÜ und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nach Art. 116 EPÜ beantragt.

Außerdem wurde die Rückzahlung der Beschwerdegebühr beantragt wegen eines Verstoßes gegen Art. 113 (1) EPÜ bzw. wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

III. In einer Mitteilung der Beschwerdekammer nach Art. 15(1) VOBK wurde die vorläufige Meinung der Kammer geäußert, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegen könnte, der eine beschleunigte Prüfung der Beschwerde, eine Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung und eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigen würde. Da eine Prüfung in der Sache seitens der Beschwerdekammer aber nur beim Vorliegen besonderer Gründe vorgesehen ist (Art. 11 VOBK), wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, solche besonderen Gründe vorzutragen.

IV. Daraufhin präzisierte die Beschwerdeführerin ihre Anträge in einem Schreiben vom 29. Mai 2017 dahingehend,

a) die angefochtene Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben,

b) die Schutzfähigkeit der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Ansprüche 1 bis 15 festzustellen und die Angelegenheit zur weiteren Bearbeitung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen,

c) einen Verstoß gegen Art. 113(1) EPÜ festzustellen und Rückzahlung der Beschwerdegebühr,

d) hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag nach (a) und/oder (b) nicht stattgegeben werden kann, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen,

e) hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag (c) nicht stattgegeben werden kann, wird dieser Antrag zurückgenommen.

Hinsichtlich der Frage der Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung führte die Beschwerdeführerin aus, dass es anmelderseitig gewünscht sei, wegen einer in Kürze vorgesehenen Markteinführung des Gegenstandes dieser Patentanmeldung möglichst zeitnah zur Erteilung eines Patents zu kommen. Durch die seitens der Prüfungsabteilung erlassene fehlerhafte Entscheidung, das Beschwerdeverfahren und ein weitergeführtes Prüfungsverfahren würde ansonsten eine zu starke Verzögerung eintreten.

V. Der unabhängige Patentanspruch 1 lautet:

"1. Verfahren zum Detektieren einer Änderung innerhalb eines einem Präsenz- oder Bewegungssensor (1) zugeordneten Überwachungsbereiches umfassend: Generieren und Senden eines UWB-Signals als Sendetemplate, Empfangen eines von einem in Detektionsreichweite befindlichen Objekts (11) reflektierten Signals als Empfangssignal und Auswerten des Empfangssignals in Bezug auf seine Entfernung zu dem Sensor (1), wobei die Empfangssignale mit einem Empfangstemplate korreliert werden und die Korrelation dergestalt zeitlich versetzt zu dem Zeitpunkt des Sendens des Sendetemplates durchgeführt wird, dass der zeitliche Versatz der bei einer vorgegebenen Entfernung des in Detektionsreichweite befindlichen Objekts erwarteten Signallaufzeit entspricht und bei hinreichender Übereinstimmung zwischen einem Empfangssignal und dem Empfangstemplate das Empfangssignal als von dem in der vorgegebenen Entfernung befindlichen Objekt (11) reflektiertes Sendetemplate bewertet wird, dadurch gekennzeichnet, dass das Empfangstemplate dem Sendetemplate entspricht und eine durch eine Gaußpulshüllkurve im Zeitbereich gewichtete Winkelfunktion als Sendetemplate generiert wird."

Der unabhängige Anspruch 10 beansprucht eine entsprechende Vorrichtung zum Detektieren einer Änderung.

Die Ansprüche 2 bis 9 und 11 bis 15 sind abhängige Ansprüche.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Wesentlicher Verfahrensfehler, rechtliches Gehör (Art. 113(1) EPÜ)

2.1 Gemäß Art. 113(1) EPÜ dürfen Entscheidungen des europäischen Patentamts nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammer, 8. Auflage, Juli 2016, Kapitel III.B.2.3.2) sind unter "Gründe" nach Art. 113(1) EPÜ diejenigen wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe zu verstehen, auf die sich die Entscheidung stützt. Insbesondere in der Entscheidung T 0951/92 (ABl. 1996, 53) war die Kammer der Ansicht, dass der Begriff "Gründe" nicht einfach im engen Sinne einer zu erfüllenden Voraussetzung nach dem EPÜ zu verstehen ist, sondern dass er Bezug nimmt auf die sich auf die Tatsachen und die rechtlichen Gründe stützenden Überlegungen, die zur Ablehnung des Antrags geführt haben.

Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammer, 8. Auflage, Juli 2016, Kapitel III.B.2.4.1) ist eine Voraussetzung der Gewährung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 113(1) EPÜ, dass den Beteiligten nicht nur die Gelegenheit gegeben wird, sich (zu den für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen und Überlegungen) zu äußern, sondern dass diese Äußerungen auch berücksichtigt, d.h. im Hinblick auf ihre Relevanz für die Entscheidung in der Sache überprüft werden.

Wenn eine Entscheidung das Vorbringen eines Beteiligten nicht berücksichtigt und auf einen Grund gestützt wird, zu dem sich der Beteiligte nicht äußern konnte, liegt ein Verstoß gegen Art. 113(1) EPÜ und somit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor (J 7/82, Abl. 1982, 391).

2.2 In der angegriffenen Entscheidung der Prüfungsabteilung werden unter den Abschnitten 1.1, 1.2 und 1.3 drei Klarheitseinwände (Art. 84 EPÜ) und unter Abschnitt 2 ein Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) vorgebracht, die für die Entscheidung maßgeblich sind. Alle erwähnten Einwände unterliegen einem Verfahrensfehler.

2.2.1 1. Klarheitseinwand (Abschnitt 1.1 der Entscheidung)

In Abschnitt 1.1. der Entscheidung wird ein Einwand wegen mangelnder Klarheit gegen ein Merkmal des Anspruchs 1 erhoben, das gar nicht im Anspruch 1 des zu diesem Zeitpunkt gültigen Anspruchssatzes vorkommt.

Bei diesem Einwand scheint es sich um denselben Einwand zu handeln, der im Vorbescheid vom 8. Juli 2014 unter Abschnitt 1.2 gegen ein Merkmal des damalig anhängigen Anspruchs 8 gerichtet war. Die Beschwerdeführerin korrigierte daraufhin in der Eingabe vom 14. November 2014 den Anspruch 8, so dass die Formulierung nun lautet, dass "wenigstens eines von Sendetemplate und Empfangstemplate dergestalt beeinflusst wird, dass das gesendete, anschließend reflektierte und anschließend empfangene Signal in hinreichendem Maße dem Empfangstemplate entspricht.", wie es seitens der Prüfungsabteilung im Vorbescheid vom 8. Juli 2014 unter Abschnitt 1.2 selbst vorgeschlagen wurde.

Somit ist weder im Anspruch 1 noch im Anspruch 8 des dem der Entscheidung zugrundeliegenden Anspruchssatzes das von der Prüfungsabteilung in diesem Abschnitt der Entscheidung beanstandete Merkmal vorhanden. Damit sind auch eventuelle Gegenargumente, die im letzten Satz dieses Abschnitts der Entscheidung seitens der Prüfungsabteilung vermisst werden, gar nicht notwendig.

Die in diesem Abschnitt erhobenen Einwände gehen daher nicht auf die geänderten Ansprüche ein und berücksichtigen somit nicht das Vorbringen der Beschwerdeführerin. Damit liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler vor.

2.2.2 2. Klarheitseinwand (Abschnitt 1.2 der Entscheidung)

In diesem Abschnitt der Entscheidung wird der Klarheitseinwand erhoben, dass durch die im Anspruch 1 verwendete Formulierung "dass das Empfangstemplate an das erwartete Empfangssignal angepasst wird" versucht werde, den Gegenstand durch das zu erreichende Ergebnis zu definieren, was im vorliegenden Fall nicht zulässig sei, da es möglich erscheine, den Gegenstand konkreter zu beschreiben, d.h. die Maßnahmen anzugeben, durch die die Wirkung zu erreichen sei.

Auch diese Formulierung kommt nicht im zu diesem Zeitpunkt gültigen Anspruch 1, sondern im Anspruch 8 vor. Ein entsprechender Einwand war ebenfalls bereits im Vorbescheid vom 8. Juli 2014 unter Abschnitt 1.1 gegen den damalig gültigen Anspruch 8 erhoben worden. Die Beschwerdeführerin hat daraufhin in der Eingabe vom 14. November 2014 unter Abschnitt 2.4 Argumente vorgebracht, wie diese Formulierung im hier vorliegenden Fall zu verstehen sei.

Im Abschnitt 1.2 der Entscheidung wurde daher nach der Wiederholung des Einwandes aus dem Bescheid vom 8. Juli 2014 die Passage hinzugefügt: "Unklar ist zudem, ob die Anpassung durch die drahtlose Signalübertragung oder durch eine elektrische Signalverarbeitung durchgeführt wird. Insoweit konnte der Vortrag des Anmelders unter Punkt 2.4 die Prüfungsabteilung nicht überzeugen."

In dieser Passage wird seitens der Prüfungsabteilung ein zusätzliches Argument (nämlich die Frage wodurch die Anpassung durchgeführt wird) vorgetragen, welches im Prüfungsverfahren bis dahin keine Rolle gespielt hatte. Wie aus dem Protokoll vom 24. Oktober 2014 der telefonischen Rücksprache vom Vortage zwischen dem ersten Prüfer und der Anmelderin ersichtlich, wurde dieser Aspekt auch dort nicht angesprochen. Die Beschwerdeführerin konnte daher in ihrer Antwort vom 14. November 2014 darauf gar nicht eingehen. Ihr fehlte jede Möglichkeit, zu diesem neuen Einwand Stellung zu nehmen. Das ist ebenfalls ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 113(1) EPÜ).

2.2.3 3. Klarheitseinwand (Abschnitt 1.3 der Entscheidung)

Der in diesem Abschnitt erhobene Klarheitseinwand hinsichtlich der verwendeten Formulierung "in hinreichendem Maße dem ... entspricht" ist eine Kopie des bereits im Vorbescheid vom 8. Juli 2014 unter Abschnitt 1.3 erhobenen Einwands, der dort gegen die damalig anhängigen Ansprüche 1 und 8 gerichtet war.

Die angegriffene Formulierung findet sich allerdings weder im am 8. Juli 2014 anhängigen Anspruch 1 noch im der Entscheidung zu Grunde liegenden Anspruch 1. Dort wird der Begriff "hinreichend" nur im Merkmal "und bei hinreichender Übereinstimmung zwischen einem Empfangssignal und dem Empfangstemplate das Empfangssignal als von dem in der vorgegebenen Entfernung befindlichen Objekt (11) reflektiertes Sendetemplate bewertet wird" verwendet.

Selbst wenn jedoch dieses Merkmal des Anspruchs 1 und das Merkmal "in hinreichendem Maße dem ... entspricht" des Anspruchs 8 im Abschnitt 1.3 des Bescheids vom 8. Juli 2014 gemeint war, so ist doch festzuhalten, dass auf diesen Einwand hin die Beschwerdeführerin in der Eingabe vom 14. November 2014 im Abschnitt 2.3 einen Absatz mit Gegenargumenten eingereicht hat, der sich mit dem Begriff "hinreichend" auseinandersetzt und erläutert, warum er im vorliegenden Anspruchssatz als klar angesehen werden müsse.

Diese Gegenargumente werden in der angegriffenen Entscheidung mit keinem Wort erwähnt und daher setzt sich die Entscheidung auch nicht mit diesen Gegenargumenten auseinander. Selbst wenn die Prüfungsabteilung der Ansicht gewesen ist, dass die Gegenargumente nicht überzeugend seien, dann hätten in der Entscheidung die Gegenargumente gewürdigt werden und es hätte erläutert werden müssen, warum sie nicht als überzeugend angesehen werden. Durch die wortwörtliche Wiederholung des Einwandes aus dem Vorbescheid und die fehlende Erwägung der Argumente der Beschwerdeführerin erscheint die Annahme gerechtfertigt, dass die Prüfungsabteilung das Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Eingabe vom 14. November 2014 überhaupt nicht berücksichtigt hat. Das widerspricht dem Grundsatz des Gewährens rechtlichen Gehörs (Art. 113(1) EPÜ) und ist ebenfalls ein wesentlicher Verfahrensfehler.

2.2.4 Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Abschnitt 2 der Entscheidung)

In Abschnitt 2 der Entscheidung wird der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben. Die Prüfungsabteilung geht dabei von der Offenbarung des Dokuments D1 (US-A-5 486 833) als nächstliegendem Stand der Technik aus und definiert als Unterscheidungsmerkmal "dass eine durch eine Gaußpulshüllkurve im Zeitbereich gewichtete Winkelfunktion als Sendetemplate generiert wird" (Abschnitt 2.3). Die sich daraus ergebende Aufgabe wird definiert: "dass eine Veränderung des aus D1 bekannten Verfahrens gesucht wird, um seine Leistungsfähigkeit zu verbessern." (Abschnitt 2.4). Im Anschluss argumentiert die Prüfungsabteilung in den Abschnitten 2.5.1 bis 2.5.4, warum die in der vorliegenden Anmeldung vorgeschlagene Lösung nicht als erfinderisch angesehen werden kann.

Dabei verweist die Prüfungsabteilung im Hinblick auf das Unterscheidungsmerkmal "Gauß-Hüllkurven" insbesondere auf Dokument D1, Spalte 3, Zeile 42 sowie auf Dokument D1, Spalte 10, Zeile 49. Insbesondere leitet die Prüfungsabteilung aus Figur 8 des Dokuments D1 ab, dass trotz der dort dargestellten Vielzahl von Gauss-Hüllkurven sich für den Fachmann auch eine einzelne Gauss-Hüllkurve ergeben würde.

Im Vorbescheid vom 8. Juli 2014 wurde seitens der Prüfungsabteilung ebenfalls ein Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben (Abschnitt 2). Der nächstliegende Stand der Technik (Dokument D1), das Unterscheidungsmerkmal und die zu lösende Aufgabe sind dabei identisch zur Entscheidung.

Allerdings unterscheidet sich die Argumentation im Vorbescheid, warum sich die in der vorliegenden Anmeldung beanspruchte Lösung in naheliegender Weise ergeben soll, von der Argumentation in der Entscheidung. Im entsprechenden Abschnitt 2.5.1 des Vorbescheids wurde zwar auch auf das Dokument D1 zurückgegriffen, aber auf andere Stellen, nämlich "Bild 2A, Spalte 22, Gleichung 12".

In der Eingabe vom 14. November 2014 diskutierte die Beschwerdeführerin unter Abschnitt 4 auf 2 Seiten, warum zum einen das Dokument D1 weniger gemeinsame Merkmale mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 aufweist, als von der Prüfungsabteilung angegeben, und sich somit weitere Unterscheidungsmerkmale ergeben und zum anderen, warum sich die Unterscheidungsmerkmale nicht aus den von der Prüfungsabteilung im Bescheid vom 8. Juli 2014 angegebenen Passagen der D1 und der Argumentation der Prüfungsabteilung ergeben. Eine Änderung des Anspruchs 1 wurde nicht vorgenommen.

In der angegriffenen Entscheidung fehlt dann aber eine Auseinandersetzung der Prüfungsabteilung mit den Argumenten der Beschwerdeführerin. Einerseits wird überhaupt nichts darüber gesagt, warum die von der Beschwerdeführerin bestrittenen Merkmale doch als im Dokument D1 offenbart angesehen werden. Außerdem findet sich in der Entscheidung nun eine neue Argumentation, warum der Gegenstand des Anspruchs 1 naheliegend sein soll. Es wird nicht mehr auf die Stellen der D1, die noch im Prüfungsbescheid als relevant angesehen wurden, Bezug genommen, sondern es werden neue Passagen (siehe oben) benutzt, es wird die "Weber-Hermite Funktion" erwähnt und es wird eine "Anzahl der Gauss-Hüllkurven" diskutiert. Diese Argumentation ist neu und entspricht nicht der Argumentation aus dem Bescheid vom 8. Juli 2014.

Dadurch entsteht zum einen der Eindruck, dass die Prüfungsabteilung sich mit den Argumenten der Beschwerdeführerin gar nicht auseinandergesetzt hat und zum anderen wurde der Beschwerdeführerin verwehrt, eine Stellungnahme zu der neuen Argumentation abzugeben. Daher liegt auch hier ein Verstoß gegen die Gewährung des rechtlichen Gehörs vor.

2.3 Zwischen dem Bescheid vom 8. Juli 2014 und der Beantwortung des Bescheids am 14. November 2014 fand am 23. Oktober 2014 eine telefonische Rücksprache zwischen dem Vertreter der Beschwerdeführerin und einem Mitglied der Prüfungsabteilung statt. Die Ausführungen im dazugehörigen Protokoll vom 24. Oktober 2014 beschränken sich auf "Der im letzten Prüfungsbescheid erhobene Klarheitseinwand unter Punkt 1.4 wurde - im Zusammenhang mit den Punkten 2.5.1 und 2.5.2 - besprochen."

Der Klarheitseinwand unter Punkt 1.4 des Prüfungsbescheids vom 8. Juli 2014 spielte in der Entscheidung keine Rolle mehr, die Punkte 2.5.1 und 2.5.2 betrafen die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit (siehe oben). Aus der Zusammenfassung der telefonischen Rücksprache ist nicht ersichtlich, ob dabei die für die Entscheidung wesentlichen neuen Einwände der Prüfungsabteilung tatsächlich angesprochen wurden und damit der Beschwerdeführerin Gelegenheit gegeben wurde, auf diese neuen Einwände zu antworten.

2.4 Da keiner der für die Entscheidung maßgeblichen Gründe frei von Verfahrensfehlern ist, kann die Entscheidung keinen Bestand haben und wird aufgehoben.

3. Zurückverweisung

3.1 Artikel 11 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) sieht vor:

"Eine Kammer verweist die Angelegenheit an die erste Instanz zurück, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist, es sei denn, dass besondere Gründe gegen die Zurückweisung sprechen."

3.2 Mit der Mitteilung der Kammer nach Art. 15(1) VOBK vom 3. Mai 2017 hatte die Kammer der Beschwerdeführerin die Möglichkeit eingeräumt, solche "besonderen Gründe" vorzutragen.

3.3 In Reaktion darauf erläuterte die Beschwerdeführerin in einer Eingabe vom 29. Mai 2017, dass die Markteinführung des Gegenstandes der Patentanmeldung in Kürze vorgesehen sei und eine Zurückverweisung an die erste Instanz eine nicht unerhebliche zeitliche Verzögerung zur Folge hätte.

3.4 Von den Beschwerdekammern ist grundsätzlich anerkannt, dass eine Zeitverzögerung des Prüfungsverfahrens grundsätzlich als "besonderer Grund" angesehen werden kann, der gegen eine Zurückverweisung spricht (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Auflage, Juli 2016, IV.E.7.4.5 b)).

3.5 Im vorliegenden Fall sind nach Ansicht der Kammer allerdings weder die Fragen der Klarheit (Art. 84 EPÜ) noch der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) seitens der ersten Instanz soweit aufgearbeitet worden (siehe oben), dass eine Beschäftigung der Kammer mit diesen Fragen möglich wäre, ohne dass die Kammer das Prüfungsverfahren eigentlich selbst von neuem führen würde.

Wie von den Beschwerdekammern wiederholt festgestellt wurde (siehe beispielsweise T 2528/12, Punkt 3.2) ist das Beschwerdeverfahren kein alternativer Weg zur Klärung von Fragen im Zusammenhang mit der Sachprüfung oder gar zur Erledigung dieser, der den Organen erster Instanz nach Belieben offenstünde.

3.6 Da im vorliegenden Fall die Sachprüfung vor der ersten Instanz aufgrund der vorliegenden wesentlichen Verfahrensfehler, vor allem der nicht berücksichtigten Argumente und Anträge der Beschwerdeführerin, noch nicht als beendet angesehen werden kann, verweist die Kammer die Anmeldung zur Fortsetzung der Sachprüfung an die Prüfungsabteilung zurück.

3.7 Da die Kammer durch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung dem Antrag a) der Beschwerdeführerin stattgibt, ist gemäß Antrag d) ("und/oder") keine mündliche Verhandlung vor der Kammer notwendig.

4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr (R.103(1)(a) EPÜ)

Gemäß R.103(1)(a) EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht.

4.1 Wie oben erläutert, wird die angefochtene Entscheidung aufgehoben und somit der Beschwerde stattgegeben.

4.2 Ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 113(1) EPÜ) wird nach ständiger Rechtsprechung als wesentlicher Verfahrensmangel angesehen (für Nachweise siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage, Juli 2016, IV.E.7.4.2).

4.3 Billigkeit

Nach ständiger Rechtsprechung der Kammern (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8.Auflage, Juli 2016, IV.E.8.6) entspricht die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit, wenn ein Kausalzusammenhang zwischen dem wesentlichen Verfahrensmangel und der Einlegung der Beschwerde besteht.

Im vorliegenden Fall weisen sämtliche die angegriffene Entscheidung tragenden Gründe wesentliche Verfahrensfehler auf. Da somit die Entscheidung keinen einzigen maßgeblichen Grund enthielt, der sie für sich - ungeachtet möglicher vorhandener wesentlicher Verfahrensfehler in anderen Gründen - tragen konnte, waren die wesentlichen Verfahrensfehler für den Ausgang des Verfahrens relevant und die Beschwerdeführerin dazu gezwungen, Beschwerde einzulegen. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr entspricht somit auch der Billigkeit.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Anmeldung wird an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen, mit der Maßgabe das Prüfungsverfahren mit den mit der Beschwerdebegründung eingereichten Patentansprüchen fortzusetzen.

3. Die Beschwerdegebühr wird zurückerstattet.

Quick Navigation