T 0554/15 () of 26.7.2018

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2018:T055415.20180726
Datum der Entscheidung: 26 Juli 2018
Aktenzeichen: T 0554/15
Anmeldenummer: 09778739.4
IPC-Klasse: F16H 3/66
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: GETRIEBEEINHEIT
Name des Anmelders: Daimler AG
Name des Einsprechenden: ZF Friedrichshafen AG
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 84
European Patent Convention Art 100(b)
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Patentansprüche - mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund
Patentansprüche - Verhältnis von Art. 83 zu Art. 84 EPÜ
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Einspruchsgründe - mangelhafte Offenbarung (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Mit der am 19. Februar 2015 zur Post gegebenen Zwischen-Entscheidung wurde festgestellt, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem damals geltenden Hauptantrag das europäische Patent Nr. 2 342 477 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügen.

II. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) form- und fristgerecht Beschwerde eingereicht.

III. Am 26. Juli 2018 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Am Ende der mündlichen Verhandlung war die Antragslage wie folgt:

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 2 342 477.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents gemäß einem der Hilfsanträge 1-10, eingereicht mit Schreiben von 26. Juni 2018.

V. Für die vorliegende Entscheidung haben die folgenden Entgegenhaltungen eine Rolle gespielt:

D2: US 2007/0072732 A1;

D5: US 2008/0261764 A1.

VI. Der der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegende Anspruch 1 (im Folgenden als Hauptantrag bezeichnet) lautet:

"Getriebeeinheit, insbesondere eine Kraftfahrzeuggetriebeeinheit, mit vier, einem ersten, einem zweiten, einem dritten und einem vierten, entlang einer Hauptrotationsachse (10a; 10b) hintereinander angeordneten Planetenradgetrieben (P1a, P2a, P3a, P4a; P1b, P2b, P3b, P4b), mit sechs Koppeleinheiten (S1a, S2a, S3a, S4a, S5a, S6a; S1b, S2b, S3b, S4b, S5b, S6b), die ermöglichen, neun Vorwärtsgetriebegänge (V1a-V9a; V1b-V9b) zu schalten, mit einer Antriebseinheit (11a; 11b), die drehfest mit einem zweiten Sonnenrad (P21a; P21b) des zweiten Planetenradgetriebes (P2a; P2b) und einem vierten Planetenradträger (P42a; P42b) des vierten Planetenradgetriebes (P4a; P4b) verbunden ist, und mit einer Abtriebseinheit (12a; 12b), die drehfest mit einem dritten Planetenradträger (P32a; P32b) des dritten Planetenradgetriebes (P3a; P3b) verbunden ist,

gekennzeichnet durch

ein erstes Hohlrad (P13a; P13b) des ersten Planetenradgetriebes (P1a;P1b), ein Kopplungselement (S42a; S42b), ein drittes Sonnenrad (P31a; P31b) des dritten Planetenradgetriebes (P3a; P3b) und ein viertes Sonnenrad (P41a; P41b) des vierten Planetenradgetriebes (P4a, P4b), die alle vier drehfest miteinander verbunden sind."

VII. Die Hilfsanträge spielen für die vorliegende Entscheidung keine Rolle.

VIII. Zur Stützung ihres Antrags hat die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Mangelnde Klarheit

Gemessen an den beiden offenbarten Ausführungsbeispielen sei die überwiegende Anzahl derjenigen Bauteilkoppelungen, die ein praktisch ausführbares Getriebe mit den beanspruchten neun Vorwärtsgängen benötige, im Anspruch 1 nicht berücksichtigt. Die beanspruchten Elemente hingen großteils "in der Luft", ohne die technisch erforderlichen Verbindungen untereinander. Eine Prüfung der Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ sei insbesondere auch deshalb geboten, um Klarheit über den zulässigen Abstraktionsgrad bei der Beanspruchung von Getriebestrukturen zu erhalten.

Mangelnde Ausführbarkeit - Artikel 100 b) EPÜ

Der unabhängige Anspruch definiere lediglich einige wenige, mehr oder weniger beliebig herausgegriffene Elemente eines Rumpfgetriebes, ohne die wesentlichen Merkmale der zwischen den Elementen bestehenden Wechselwirkungen. Der Anspruch sei auf diese Weise extrem breit, ohne dass das dort definierte Rumpfgetriebe eine konkrete Handlungsanweisung an den Fachmann darstelle. Unter Berücksichtigung der Vielzahl von Möglichkeiten zur Ausbildung zusätzlicher Drehmoment führender Wellen oder zur Ankopplung der Schaltelemente im Getriebe, ergäben sich mehr als 12 Millionen unter den Anspruch fallende Getriebestrukturen. Die lediglich zwei in der Beschreibung konkret beschriebenen Ausführungsbeispiele seien daher keinesfalls ausreichend, um den Anspruch über den gesamten beanspruchten Bereich ausführen zu können. Vielmehr handele es sich um eine Art Forschungsauftrag an den Fachmann.

Das Patent erfülle daher nicht die Erfordernisse des Artikels 100 b) EPÜ.

Dokument D5 - Zulassung in das Verfahren

Der Anspruch kombiniere mehr oder weniger beliebig im Sinne einer Aggregation technische Merkmale, ohne dass diese eine gemeinsame technische Wirkung aufwiesen. Die Merkmale könnten daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auch verschiedenen Dokumenten des Stands der Technik entnommen und entsprechend nebeneinander gestellt werden. Dokument D5, bei dem die Merkmale des in D2 nicht offenbarten Kennzeichens dem Fachmann direkt ins Auge sprängen, sei deshalb prima facie relevant. Es hätte bereits von der Einspruchsabteilung in das Verfahren zugelassen werden sollen, sei aber spätestens jetzt im Beschwerdeverfahren zuzulassen.

Mangelnde erfinderische Tätigkeit - Artikel 100 a) und 56 EPÜ

Die Merkmale des Oberbegriffs seien unstreitig aus D2 bekannt. Die im Kennzeichen definierte Koppelwelle könne alleine, d.h. ohne die weiteren, nicht beanspruchten Merkmale der gesamten Getriebestruktur, keinerlei technische Wirkung hinsichtlich Gangzahl oder Kompaktheit des Getriebes bewirken, und daher auch keine technische Aufgabe lösen. Derartige Merkmale, die nicht zur Lösung der Aufgabe beitrügen, seien bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen. Schon aus diesem Grunde beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Weiterhin handle es sich bei den somit ohne gemeinsame Funktion nebeneinanderstehenden Merkmalen von Oberbegriff und Kennzeichen lediglich um eine Aggregation, die - da jeweils aus dem Stand der Technik bekannt - nicht als erfinderisch zu betrachten sei.

Das im Anspruch definierte, rudimentäre Teilgetriebe könne zudem nichts schalten und nichts bewirken. Es sei daher unglaubwürdig, dass die gestellte Aufgabe überhaupt durch den beanspruchten Gegenstand gelöst werde. Auch dies rechtfertige einen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit.

Selbst wenn man dem Anspruchsgegenstand einen technischen Effekt bzw. die Lösung der gestellten Aufgabe zuerkennen wolle, so sei die im Patent formulierte Aufgabe jedenfalls durch das in D2 offenbarte Getriebe bereits gelöst. Es könne dann allenfalls darum gehen, alternative Lösungen für die Getriebestruktur bereitzustellen. Der Fachmann würde zur Lösung dieser Aufgabe dann aufgrund seines, ihm bei der Diskussion zur Ausführbarkeit auch von der Beschwerdegegnerin zuerkannten Fachwissens, die verschiedensten Getriebeanordnungen durchprobieren und so ohne erfinderisches Zutun zu der beanspruchten Struktur gelangen. Weiterhin würde der Fachmann die Lehre der D5 zu Rate ziehen, die ebenfalls ein kompaktes Getriebe mit hoher Gangzahl bereitstelle. Aus dieser Druckschrift sei es bereits bekannt, ein erstes Hohlrad des ersten Planetenradgetriebes, ein Kopplungselement, ein drittes Sonnenrad des dritten Planetenradgetriebes und ein viertes Sonnenrad des vierten Planetenradgetriebes alle vier drehfest miteinander zu verbinden. Wie in der Anlage 3 vom 18. November 2014 illustriert, würde der Fachmann diese sich in der D5 geradezu aufdrängende, naheliegende Alternative ohne erfinderisches Zutun in dem, aus den im Oberbegriff des Anspruchs 1 definierten Teilen bestehenden Rumpfgetriebe der D2, Abbildung 4 implementieren.

Aus all diesen Gründen beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

IX. Zur Stützung ihres Antrags hat die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Klarheit

Die Beschwerdegegnerin habe den Ausführungen der Kammer im Ladungsbescheid, wonach der Einwand der mangelnden Klarheit nicht zu prüfen sei, nichts hinzuzufügen.

Ausführbarkeit - Artikel 100 b) EPÜ

Das beanspruchte Getriebe sei hinsichtlich Antrieb, Abtrieb und erfindungsgemäßer Koppelwelle in Bezug auf die drehfest miteinander verbundenen Bauteile der vier Planetenradgetriebe konkret definiert. In der Beschreibung seien außerdem zwei detaillierte Ausführungsbeispiele aufgezeigt, die unstreitig ausführbar seien. Mit diesen Informationen sei der Fachmann in der Lage, die unter den Anspruchswortlaut fallenden Getriebekonstellationen herzustellen. Eine weitere konkrete Definition aller drehmomentübertragender Wellen und aller Kopplungselemente, einschließlich der durch sie gekoppelten Bauteile, würde hingegen den Schutzbereich unverhältnismäßig beschränken. So sei es dem Fachmann problemlos möglich, wie auch aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin zu entnehmen, zahlreiche alternative Ausführungsformen zu den beiden konkreten Ausführungsbeispielen aufzufinden. Hierzu würde im technischen Gebiet typischerweise auch rechnergestützt vorgegangen. Es sei daher unerheblich, dass der Anspruch eine große Anzahl an möglichen Getriebekonstellationen abdecke, da es dem Fachmann problemlos möglich sei, die im Anspruch nicht konkret definierten Verbindungen unter Verwendung des täglichen Handwerkszeugs des Getriebetechnikers aufzufinden und damit auszuführen.

Die beanspruchte Erfindung sei daher so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könne.

Dokument D5 - Nichtzulassung in das Verfahren

Die Einspruchsabteilung habe richtig festgestellt, dass Dokument D5 zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit prima facie nicht relevant sei. Die Beschwerdeführerin habe bisher nicht gezeigt, warum diese Analyse der Einspruchsabteilung falsch sein sollte. Im Übrigen seien die Lehren der Dokumente D2 und D5 sowieso nicht kombinierbar, ohne das Grundkonzept des jeweiligen Getriebes völlig über den Haufen zu werfen. Die Kammer solle daher die Entscheidung der Einspruchsabteilung bestätigen und das Dokument nicht in das Verfahren zulassen.

Erfinderische Tätigkeit - Artikel 100 a) und 56 EPÜ

Dokument D2 stelle unstreitig den nächstliegenden Stand der Technik dar, von dem sich die Erfindung durch die Merkmale des Kennzeichens abgrenze. Die dort definierte Koppelwelle bewirke eine besonders kompakte Getriebeeinheit, da die Planetenradsätze auf diese Art und Weise ohne dazwischenliegende Schaltelemente besonders dicht gelagert werden könnten. Es handele sich somit keineswegs lediglich um eine Aggregation von Merkmalen. Vielmehr wirkten die Anspruchsmerkmale in Kombination zusammen, um die technische Aufgabe zu lösen.

Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Fachmann ausgehend von D2 die Lehre der D5 in Betracht ziehen würde, so gelangte er nicht zum erfinderischen Gegenstand.

Auszugehen sei nämlich nicht - wie von der Beschwerdeführerin argumentiert - von einem lediglich die Merkmale des Oberbegriffs aufweisenden, aus D2 künstlich extrahierten Rumpfgetriebe, sondern von dem in D2 offenbarten Getriebe als solchen, wobei die für den Oberbegriff gewählte Zuordnung der Komponenten zu den Anspruchsmerkmalen beizubehalten sei.

Auch die D5 stelle allerdings eine eigene Komplettlösung für ein kompaktes Getriebe dar. Der Fachmann hätte zunächst keinerlei Veranlassung diesem Dokument lediglich die Lehre zu entnehmen, ein erstes Hohlrad mit einem Kopplungselement und einem dritten und vierten Sonnenrad drehfest zu verbinden, all die anderen mit dieser Koppelwelle funktionell und strukturell verbundenen Merkmale jedoch zu ignorieren. Bereits dieses Vorgehen entspringe klar einer rückschauenden Betrachtungsweise.

Weiterhin sei es konstruktiv schlicht unmöglich, in dem aus D2 bekannten Getriebe - unter Beibehaltung der für den Oberbegriff getroffenen Zuordnung - eine Verbindung gemäß dem kennzeichnenden Merkmal der Erfindung vorzunehmen, da dazu die Konstruktion des aus D2 bekannten Getriebes völlig zerstört werden müsste.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Entscheidungsgründe

1. Einwand der mangelnden Klarheit

Artikel 84 EPÜ ist nicht Teil der in Artikel 100 EPÜ erschöpfend aufgelisteten Einspruchsgründe. Wie von der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 3/14 festgestellt, können daher bei der Prüfung nach Artikel 101 (3) EPÜ, ob das Patent in der geänderten Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt, die Ansprüche des Patents nur auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft werden, sofern - und dann auch nur soweit - diese Änderung einen Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ herbeiführt (G 3/14, ABl. 2015, 102; Entscheidungsformel).

Im vorliegenden Fall ist Anspruch 1 gemäß Hauptantrag - abgesehen von einigen von der Beschwerdeführerin nicht beanstandeten Klarstellungen - eine Kombination der Ansprüche 1 und 7 wie erteilt.

Da nicht vorgebracht wurde, dass die klarstellenden Änderungen einen Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ herbeiführten, und da die weiteren beanspruchten Merkmale bereits Gegenstand erteilter Ansprüche waren, kann die Kammer keine Prüfung hinsichtlich der Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ vornehmen, so wünschenswert dies für die Beschwerdeführerin zur Klärung allgemeiner patentrechtlicher Fragen auch sein mag.

Der Anspruch 1 ist daher nicht auf Klarheit zu prüfen.

2. Zulassung der D5 in das Verfahren

D5 offenbart eine kompakte Getriebeeinheit mit einer hohen Anzahl von Vorwärtsgetriebegängen (D5, Paragraphen [0002] und [0005]). Das Dokument zeigt außerdem eine drehfeste Verbindung zwischen einem Kopplungselement, einem Hohlrad eines ersten Planetenradgetriebes und den Sonnenrädern zweier weiterer Planetenradgetriebe (Abbildung 2).

Die Kammer ist im Gegensatz zur Einspruchsabteilung der Ansicht, dass diese Merkmale eine prima facie Relevanz begründen und der auf das Dokument gestützte Einwand in der Sache zu prüfen ist. Die Kammer übt das ihr nach Artikel 12(4) VOBK zustehende Ermessen deshalb dahingehend aus, das Vorbringen der Beschwerdeführerin einschließlich des Dokuments D5 zu berücksichtigen.

3. Ausführbarkeit - Artikel 100 b) EPÜ

Die Ausführbarkeit einer Erfindung ist auf Basis der Anmeldung bzw. des Patents als Ganzes zu beurteilen, nicht auf Basis der Ansprüche alleine.

Das vorliegende Patent offenbart zwei konkrete Ausführungsbeispiele (Figuren 1 und 5). Es ist unstreitig, dass diese beiden konkret offenbarten Ausführungsbeispiele vom Fachmann ausgeführt werden können und jeweils zu einem unter den Anspruchswortlaut fallenden Getriebe führen. Die konkreten Ausführungsbeispiele illustrieren mögliche Ausführungen verschiedener Koppeleinheiten als Bremseinheit oder Kupplungseinheit und mögliche Ausgestaltungen drehmomentführender Wellen (Antriebswelle, Abtriebswelle, Verbindungswelle) des Getriebes.

Es ist richtig, dass der Anspruch die konkrete Ausbildung der meisten Koppeleinheiten und drehmomentführenden Wellen offen lässt, so dass viele verschiedene Getriebekonstellationen unter den Anspruchswortlaut fallen. Ein breiter Anspruch stellt jedoch per se keinen Ausführbarkeitsmangel dar, solange die Offenbarung ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeitbar ist. Es stimmt zwar, dass es aufwändig ist, sämtliche mögliche unter den Anspruchswortlaut fallende Ausführungsformen in Summe aufzufinden oder gar diese alle herzustellen. Darauf kommt es jedoch nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob der Fachmann aus seinem Fachwissen heraus die verschiedenen technischen Möglichkeiten kennt, die zu den verschiedenen unter den Anspruch fallenden Ausführungsformen führen. Dies ist nach Ansicht der Kammer hier gegeben, da dem Fachmann sowohl Planetenradgetriebe an sich, also auch deren Verbund durch drehmomentführende Wellen und Schaltung durch Koppeleinheiten an sich bekannt sind. Dies wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten. Im Gegenteil, bei der Überschlagsrechnung, mit deren Hilfe die Beschwerdeführerin eine Abschätzung der unter den Anspruch fallenden Getriebekonstellationen vorgenommen hat, hat sie sich aus genau diesen, dem Fachmann zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bedient.

Auch das einzige funktionelle Anspruchsmerkmal, nämlich die Funktion der Getriebeeinheit neun Vorwärtsgetriebegänge schalten zu können, ist mit den 6 explizit vorhandenen Koppeleinheiten für den Fachmann ausführbar.

Es handelt sich somit nicht - wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht - um einen Forschungsauftrag an den Fachmann, bei dem nur unter großem Aufwand aus vielen Möglichkeiten diejenigen aufgefunden werden können, die unter den Anspruch fallen. Vielmehr stehen dem Fachmann nach Vorsehen der beanspruchten vier Planetenradgetriebe und der ebenfalls beanspruchten drehmomentübertragenden Verbindungen mit Antrieb und Abtrieb, sowie der Verbindung der im Kennzeichen definierten Bauteile untereinander, verschiedene, jedoch im Prinzip bekannte Möglichkeiten offen, die "freien Enden" der Bauteile koppelbar oder fest zu verbinden. Alle diese Möglichkeiten fallen unter den Anspruch, so dass die Erfindung vom Fachmann ausführbar ist.

4. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 100 a) und 56 EPÜ

4.1 Nächstliegender Stand der Technik

Dokument D2 bildet unstreitig den nächstliegenden Stand der Technik.

4.2 D2 offenbart ebenfalls unstreitig eine Getriebeeinheit gemäß Oberbegriff mit

vier, einem ersten, einem zweiten, einem dritten und einem vierten, entlang einer Hauptrotationsachse (siehe D2, Figur 4) hintereinander angeordneten Planetenradgetrieben ([0071]-[0075], Figur 4, Nos. 320, 330, 340, 350), mit sechs Koppeleinheiten ([0076], Figur 4, Nos. 360, 362, 369, 364, 366, 368), die ermöglichen, neun Vorwärtsgetriebegänge zu schalten ([0080]), mit einer Antriebseinheit (No. 12, 17), die drehfest mit einem zweiten Sonnenrad (No. 332) des zweiten Planetenradgetriebes (No. 330) und einem vierten Planetenradträger (No. 329) des vierten Planetenradgetriebes (No. 320) verbunden ist, und mit einer Abtriebseinheit (No. 19), die drehfest mit einem dritten Planetenradträger (No. 356) des dritten Planetenradgetriebes (No. 350) verbunden ist.

Bemerkung: Die Zuordnung der Planetenradgetriebe folgt hier dem übereinstimmenden Vorbringen von Beschwerdeführerin und Beschwerdegegnerin, wonach die Planetenradgetriebe 1- 4 zwar hintereinander entlang einer Hauptrotationsachse angeordnet sein müssen, jedoch nicht notwendig in einer aufsteigenden oder absteigenden Reihe entsprechend ihrer Ordnungszahl. In D2, Figur 4 liegen mit dieser Zuordnung von der Antriebsseite zur Abtriebsseite die Planetenradgetriebe vier, zwei, eins und drei in direkter Abfolge neben- bzw. hintereinander. Die für den Oberbegriff gewählte Zuordnung muss dann konsistent so auch für die Merkmale des Kennzeichnens gelten.

4.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von der Offenbarung der D2 somit durch die Merkmale des kennzeichnenden Teils, nämlich durch

ein erstes Hohlrad des ersten Planetenradgetriebes, ein Kopplungselement, ein drittes Sonnenrad des dritten Planetenradgetriebes und ein viertes Sonnenrad des vierten Planetenradgetriebes, die alle vier drehfest miteinander verbunden sind.

Dabei ist - entsprechend der Zuordnung im Oberbegriff, vgl. Punkt 4.2 - das erste Hohlrad des ersten Planetenradgetriebes in Abbildung 4 der D2 mit Referenzzeichen No. 344 bezeichnet, das dritte Sonnenrad des dritten Planetenradgetriebes mit No. 352 und das vierte Sonnenrad des vierten Planetenradgetriebes mit No. 322. Eine eindeutige Zuordnung des Kopplungselements ist durch die Zuordnung im Oberbegriff nicht gegeben.

Der Gegenstand des Kennzeichens wird im Folgenden - der Diktion der Parteien folgend - als "Koppelwelle" bezeichnet.

4.4 Technische Wirkung der Unterscheidungsmerkmale

4.4.1 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass die "Koppelwelle" alleine, d.h. ohne die weiteren, nicht beanspruchten Merkmale der gesamten Getriebestruktur, keinerlei technische Wirkung hinsichtlich Gangzahl oder Kompaktheit des Getriebes bewirke, und daher auch keine technische Aufgabe lösen könne.

4.4.2 Die Kammer kann sich dieser Ansicht nicht anschließen. Der Anspruch definiert eine vier Planetenradgetriebe aufweisende Getriebeeinheit, in die von der Antriebseinheit ein Drehmoment zum zweiten Sonnenrad des zweiten Planetenradgetriebes und zum vierten Planetenradträger des vierten Planetenradgetriebes eingebracht wird, und aus der ein Drehmoment von einem dritten Planetenradträger des dritten Planetenradgetriebes über eine Abtriebseinheit ausgeleitet wird. Da mit diesem Getriebe anspruchsgemäß neun Vorwärtsgänge geschaltet werden können, ist für den Fachmann klar, dass mittels der Koppeleinheiten der Drehmomentfluss auf verschieden Art und Weise durch die vier Planetenradgetriebe geleitet wird. Koppeleinheiten und Planetenradgetriebe stehen also nicht ohne technischen Bezug nebeneinander, sondern bewirken gemeinsam die Getriebefunktion, einschließlich dessen Merkmale wie Gangzahl und Kompaktheit. Folglich hat auch die im Kennzeichen definierte Koppelwelle, die eine drehfeste Verbindung bestimmter Bauteile der im Oberbegriff definierten vier Planetenradgetriebe und eines Kopplungselements definiert, einen technischen Effekt für die Funktion des Getriebes und damit auch in Bezug auf seine Gangzahl und Größe bzw. Kompaktheit.

Es handelt sich somit weder um Merkmale ohne technische Funktion, noch um eine Aggregation von Merkmalen ohne gemeinsame Funktion.

4.4.3 Dass zum Erreichen der Funktion weitere im Anspruch nicht explizit genannte Bauteile erforderlich sind, beispielsweise zur Verbindung der nicht explizit genannten Bauteile der Planetenradgetriebe untereinander, ist für den Fachmann klar und bedeutet nicht, dass deshalb die explizit beanspruchten Bauteile keine technische Funktion hätten.

4.5 Objektive, technische Aufgabe

4.5.1 Aus den Unterscheidungsmerkmalen sind nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz die technische Wirkung und die zu lösende Aufgabe zu bestimmen. Mit dieser Aufgabe ist dann zu untersuchen, ob im Stand der Technik eine Lösung der Aufgabe bekannt ist, die der Fachmann in naheliegender Weise auf die bekannte Lehre übertragen würde.

4.5.2 Dabei ist zunächst von der in der Patentschrift selbst gestellten Aufgabe auszugehen, die gemäß Paragraph [0004] der Patentschrift darin besteht, eine kompakte Getriebeeinheit mit einer hohen Anzahl von Vorwärtsgetriebegängen bereitzustellen.

Angesichts der Tatsache, dass Planetenradgetriebe und Kombinationen von Planetenradgetrieben für eine besonders kompakte Bauform bekannt sind, und angesichts der kompakten Bauform der offenbarten Ausführungsbeispiele ist für den Fachmann durchaus plausibel, dass die im Patent gestellte Aufgabe durch den Anspruchsgegenstand gelöst wird. Der von der Beschwerdeführerin formulierte Einwand, dass aufgrund der offensichtlich nicht gelösten im Patent formulierten technischen Aufgabe keine erfinderische Tätigkeit vorliege, kann daher ebenfalls nicht überzeugen (vgl. auch Punkt 4.4.3).

4.5.3 Die Beschwerdeführerin betrachtet alternativ die im Patent gestellte Aufgabe als bereits durch D2 gelöst, da dort ebenfalls ein kompaktes, eine hohe Anzahl von Vorwärtsgängen aufweisendes Getriebe bereitgestellt werde. Dagegen sieht die Beschwerdegegnerin in der Koppelwelle ein Mittel, die Kompaktheit des Getriebes über den in D2 erreichten Grad weiter zu steigern, da diese Kopplung dazwischen liegende Schaltelemente überflüssig mache und so den Platzbedarf weiter verringere.

4.5.4 Unabhängig davon, ob die Aufgabe in einer weiteren Verbesserung der Kompaktheit oder in einer alternativen Lösung zum Erreichen einer kompakten Getriebeeinheit besteht, würde der Fachmann die Lehre der D5 berücksichtigen, die ebenfalls auf ein kompakt ausgebildetes Getriebe abzielt (D5, Paragraph [0005], "improved packaging").

4.6 Die Kombination der Lehren der D2 und der D5

4.6.1 Problematisch gestaltet sich jedoch die Kombination der Lehre der D2 mit der Lehre der D5.

Zum einen bietet D5 selbst eine vollständige Lösung für ein kompaktes Getriebe. Der Fachmann könnte daher als alternative Lösung der Aufgabe das gesamte Getriebe der D2 durch das Getriebe nach D5 ersetzen. Dies führte ihn jedoch nicht zum Anspruchsgegenstand.

Weiterhin weist D5, Abbildung 2 zwar eine drehfeste Verbindung zwischen einem Kopplungselement, einem Hohlrad (20A) eines ersten Planetenradgetriebes und den Sonnenrädern (14C, 16C) zweier weiterer Planetenradgetriebe auf. Es gibt jedoch keinen Anlass ausgerechnet dieser Verbindung in Isolation die technische Wirkung der in D5 erreichten Kompaktheit zuzuordnen. Selbst wenn man zu Gunsten der Beschwerdeführerin annimmt, dass der Fachmann der D5 die Idee einer derartigen drehfesten Verbindung entnähme, so müsste diese außerdem in die Struktur des aus D2 bekannten Getriebes integriert werden. Um zum Anspruchsgegenstand zu gelangen müssten dafür das Hohlrad No. 344 mit den Sonnenrädern 322 und 352 (siehe D2, Figur 4) verbunden werden. Eine derartige drehfeste Verbindung ist - wie von der Beschwerdegegnerin richtig vorgebracht - nicht möglich, ohne die Struktur des Getriebes nach D2, Figur 4 völlig zu zerstören.

Der Fachmann würde somit, selbst wenn er der D5 die Idee einer Kopplung dieser Elemente entnehmen sollte, ausgehend von D2 nicht zum Anspruchsgegenstand gelangen.

4.6.2 Die Beschwerdeführerin war der Ansicht, dass nicht von dem aus D2, Figur 4 bekannten Getriebe als solchem auszugehen sei, sondern von einem, aus den im Oberbegriff des Anspruchs 1 definierten Teilen bestehenden Rumpfgetriebe. Dieses könne problemlos mit einer Koppwelle gemäß D5 versehen werden (vgl. diesbezüglich die Zeichnung in "Anlage 3, korrigiert" vom 18. November 2014).

Ein derartiger Ansatz ist jedoch klar rückschauend. Nur in Kenntnis des Anspruchs der Erfindung würde damit eine Unterstruktur des Getriebes aus D2 extrahiert, die in dieser Form niemals offenbart wurde. Der Vergleich des Anspruchsgegenstandes mit dem Stand der Technik beim Aufgabe-Lösungs-Ansatz dient der Bestimmung der Unterscheidungsmerkmale, aufgrund derer die objektive Aufgabe definiert wird. Zur Lösung der objektiven Aufgabe ist jedoch von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik als solcher auszugehen, nicht von einem in Kenntnis der Erfindung ex post erzeugten Unter-Konstrukt dieser Offenbarung.

4.6.3 Die Kombination der D2 mit der Lehre der D5 kann daher nicht zum Erfindungsgegenstand führen.

4.7 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht somit auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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