European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2018:T050015.20180625 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 25 Juni 2018 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0500/15 | ||||||||
Anmeldenummer: | 05019497.6 | ||||||||
IPC-Klasse: | F02D 9/06 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | Bremsklappe mit Bypass | ||||||||
Name des Anmelders: | BorgWarner, Inc. | ||||||||
Name des Einsprechenden: | MAN Truck & Bus AG | ||||||||
Kammer: | 3.2.04 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Nichtzulassung eines Antrags durch die Einspruchsabteilung Überprüfung einer Ermessensentscheidung der ersten Instanz Wesentlicher Verfahrensmangel Zurückverweisung an die erste Instanz |
||||||||
Orientierungssatz: |
sie Gründe 2 |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, zur Post gegeben am 19. Januar 2015, das europäische Patent Nr. 1 762 716 nach Artikel 101 (3) b) EPÜ zu widerrufen. Beschwerdeführerin ist die Patentinhaberin.
II. Der Einspruch war auf die Gründe Artikel 100 (a) i.V.m. Artikel 54 und 56, Artikel 100 (b) und Artikel 100 (c) i.V.m. Artikel 123 (2) EPÜ gestützt.
III. In ihrer ersten Reaktion auf den Einspruch hat die Patentinhaberin im Wesentlichen nicht auf die Einspruchsgründe reagiert, abgesehen von einem formellen Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs und mündliche Verhandlung.
IV. Die Einspruchsabteilung hat die Parteien zu einer für den 15. Dezember 2014 anberaumten mündlichen Verhandlung geladen und eine vorläufige Stellungnahme abgegeben. Mit Schreiben vom 14. November 2014 brachte der Einsprechende ergänzende Argumente, u. A. zur Frage der unzulässigen Erweiterung des Anspruchs 1 vor.
V. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2014 reichte die Patentinhaberin einen Hauptantrag ein und trug (erstmals) Argumente vor. Die Einsprechende erhob Einwände gegen die Zulassung des Hauptantrags noch vor der mündlichen Verhandlung und argumentierte ergänzend, dass der Hauptantrag weder neu, erfinderisch, noch im Sinne von Artikel 123(2) EPÜ offenbart sei.
VI. In der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2014 wurde die Zulassung des Hauptantrags vom 5. Dezember 2014 diskutiert, insbesondere im Hinblick auf die Verfahrensführung durch die Patentinhaberin. Die Einspruchsabteilung hat den Antrag nicht in das Verfahren zugelassen. Anschließend bot die Einspruchsabteilung der Patentinhaberin die Möglichkeit, das Patent in seiner erteilten Fassung zu diskutieren. Dies wurde von der Patentinhaberin abgelehnt, die stattdessen den Hauptantrag vom 5. Dezember 2014 erneut gestellt hat. Dies wurde diskutiert und der Antrag wurde erneut nicht zugelassen. Der Widerruf des Patents erfolgte aus formalen Gründen, nachdem kein Antrag und somit keine gebilligte Fassung des Patents vorlag.
VII. In den Entscheidungsgründen hat die Einspruchsabteilung eingehend ausgeführt, dass die Nichtzulassung aufgrund der Verfahrensführung der Patentinhaberin gerechtfertigt gewesen sei. Letzteres verhinderte eine rechtzeitige Vorbereitung der Gegenpartei und der Abteilung auf die Änderungen und die unterstützenden Argumente. In der Entscheidung wird auch erklärt, dass die Änderungen darin bestanden, den Ausdruck "im Wesentlichen" in Bezug auf drei Merkmale zu streichen, aber ansonsten enthalten die Entscheidungsgründe der schriftlichen Entscheidung (Punkte 2 und 3) weder eine Auslegung dieser Merkmale noch eine Prüfung ihrer Offenbarung in der ursprünglichen Anmeldung, abgesehen von einem Verweis auf die vorläufige negative Stellungnahme der Abteilung, die die frühere Version der Ansprüche betraf. Die schriftliche Entscheidung enthält ferner einen Abschnitt 4 mit dem Titel "Obiter Dictum", in dem die Einspruchsabteilung die Anforderungen des Artikels 123 (2) EPÜ für den Hauptantrag geprüft hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass diese nicht erfüllt sind.
VIII. Die Einspruchsabteilung räumte ein, dass verspätet eingereichte Anträge nicht unbedingt und immer abgelehnt werden. Es wurde Folgendes festgestellt: "Wenn die Einspruchsabteilung sich mit einem trivialen Problem auseinanderzusetzen gehabt hätte, dessen Lösung sofort offensichtlich ist, dann würde ein spät eingereichter Hauptantrag dennoch gerechtfertigt sein" (Seite 9, 2. Absatz der angefochtene Entscheidung).
Der gleiche Absatz wird mit der folgenden Aussage fortgesetzt: "Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Einspruchsabteilung ist der Auffassung, dass die aufgeworfenen Probleme nicht eindeutig zu lösen sind und erheblicher Diskussionsbedarf auf verschiedenen Ebenen zu erwarten ist. Es kann also nicht die Rede sein von der Behandlung trivialer Änderungen mit einer hohen Aussicht auf Erfolg, deren Bewältigung vom Einsprechenden vernünftigerweise hätte erwartet werden können."
IX. Die Patentinhaberin als Beschwerdeführerin hat gegen diese Entscheidung der Einspruchsabteilung die am 9. März 2015 eingegangene Beschwerde eingelegt und am gleichen Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Am 19. Mai 2015 reichte sie die Beschwerdebegründung ein.
X. Eine Ladung zur mündlichen Verhandlung erging am 12. April 2018. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK vom selben Tag teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung des Sachverhalts mit.
XI. Die mündliche Verhandlung fand am 25 Juni 2018 in Anwesenheit beider Parteien statt. Die Entscheidung der Kammer wurde am Ende der mündlichen Verhandlung verkündet.
XII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt
- die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung für weitere Behandlung, als Hauptantrag, und
- die Zulassung und Prüfung der Anspruchssätze durch die Kammer und Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des Hauptantrags wie eingereicht mit Schreiben vom 5. Dezember 2014, als Hilfsantrag, weiter hilfsweise
- Aufrechterhaltung im Umfang eines der Hilfsanträge 1 bis 2, eingereicht mit der Beschwerdebegründung vom 19 Mai 2015.
XIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragt, in dieser Reihenfolge:
- die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, oder
- die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen, oder
- die Beschwerde im Rahmen des Obiter Dictum zurückzuweisen, oder
- die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuweisen.
Weiter beantragt sie, die Haupt- und Hilfsanträge der Patentinhaberin nicht zuzulassen, und den Antrag der Patentinhaberin auf Zurückverweisung als verspätet nicht zuzulassen.
XIV. Die Beschwerdeführerin hat Folgendes vorgetragen:
Die Änderungen seien nicht so erheblich, dass ihre Zulassung dem Einsprechenden eine unzumutbare Schwierigkeit bereitet hätte. Ferner enthalte die Entscheidung keine Gründe, warum dies nicht der Fall gewesen wäre. Die Entscheidung behaupte lediglich pauschal, dass Fragen auf unterschiedlichen Ebenen aufgeworfen werden würden.
XV. Die Beschwerdegegnerin hat Folgendes vorgetragen:
In Bezug auf die Zulässigkeit der Beschwerde behandelte diese nicht die zugrundeliegende Frage, nämlich warum die Einspruchsabteilung Unrecht hatte, als sie den Hauptantrag nicht zugelassen hat, insbesondere warum sie ihr Ermessen falsch ausgeübt hat.
In Bezug auf die Begründetheit der Beschwerde sei die Nicht-Zulassung gerechtfertigt und die streitigen Streichungen werfen Fragen auf, die keineswegs trivial seien. Zudem sei der Gegenstand des Hauptantrags ursprünglich nicht offenbart worden. Die angefochtenen Entscheidung sei im Ergebnis korrekt, weil die Nicht-Zulassung gerechtfertigt sei. Die prima facie Unzulässigkeit des Antrags war aus den Eingaben der Beschwerdegegnerin deutlich ersichtlich. Eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung wäre entgegen der Verfahrensökonomie, und sogar entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin. Die Wahl der Einspruchsabteilung, Fragen im Wege eines "Obiter Dictum" zu behandeln, war nicht zu beanstanden, und dies wurde auch in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannt.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Beschwerde
1.1 Die Beschwerde und die Beschwerdebegründung wurde form- und fristgerecht eingereicht, und die Beschwerdegebühr wurde entrichtet.
1.2 Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass die Beschwerde unzulässig sei, weil sie in zweierlei Hinsicht nicht begründet sei: Sie geht nicht auf die zugrundeliegenden Gründe für die Nichtzulassung der Anträge ein und befasst sich auch nicht mit der Frage des erweiterten Gegenstandes nach Artikel 123(2) EPÜ.
1.3 Diese Argumente hält die Kammer für nicht überzeugend. Die rechtliche Begründung der angefochtenen Entscheidung ist lediglich auf die Feststellung gestützt, dass keine gebilligte Fassung des Patents vorliegt. Dies wiederum ist die Folge der Nichtzulassung des Hauptantrags vom 5. Dezember 2014. Die Beschwerde greift genau diese Frage auf, und bringt Argumente, die sich auf diese Frage beziehen. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin nicht auf alle einzelnen Argumente der Einspruchsabteilung eingeht, ist für die Zulässigkeit der Beschwerde ohne Belang. Es reicht, dass die Beschwerdeführerin sich lediglich mit einigen (aber nicht unbedingt mit allen) entscheidungserheblichen Aspekten der Entscheidung auseinandersetzt, und ihre Argumente zumindest prima facie nicht als völlig ungeeignet erscheinen, die Entscheidungsbegründung zu entkräften. Dass dies der Fall ist, wird weiter unten behandelt. Ob die Argumente der Beschwerdeführerin auch überzeugen, ist dann keine Frage der Zulässigkeit, sondern betrifft die Begründetheit der Beschwerde.
1.4 Was die Frage der unzulässigen Erweiterung nach Artikel 123 (2) EPÜ anbelangt, so war dies kein Grund, auf den sich die angefochtene Entscheidung stützt. Sie wurde nur im Zusammenhang mit dem "Obiter Dictum" erwähnt. Sie wurde auch nicht ausdrücklich als Grund für die Nicht-Zulassung der Anträge genannt. Daher war es für die Zulässigkeit der Beschwerde nicht erforderlich, dass die Beschwerdeführerin diese Frage in der Beschwerdebegründung aufgreift.
1.5 Dementsprechend ist die Beschwerde zulässig.
2. Begründetheit der Beschwerde
2.1 Nach ständiger Rechtsprechung sollte sich eine Beschwerdekammer über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, nur dann hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage 2016,(RdBK) IV.C.1.2.2.a)). Dieser Grundsatz gilt auch für die Frage der (Nicht)Zulassung verspäteten Vorbringens durch die Einspruchsabteilung, und normalerweise ist es nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Somit hat die Kammer zu entscheiden, ob die Nichtzulassung des Hauptantrags seitens der Einspruchsabteilung nach den richtigen Kriterien erfolgte.
2.2 Nach den geltenden Prüfungsrichtlinien (Ausgabe 2015: E-II 8.6, Ausgabe 2017: E-III 8.6) muss "bei der Ausübung dieses Ermessens ... die Einspruchsabteilung zunächst prüfen, ... ob die verspätet eingereichten Änderungen zulässig sind, und zwar prima facie. ... [S]ind diese Änderungen eindeutig nicht zulässig, so werden sie nicht zugelassen. Vor der Zulassung dieser Eingaben prüft die Einspruchsabteilung als Nächstes die Verfahrensökonomie, einen etwaigen Verfahrensmissbrauch (z. B. ob einer der Beteiligten offensichtlich das Verfahren verschleppt) und die Frage, ob es den Beteiligten zugemutet werden kann, sich in der zur Verfügung stehenden Zeit mit ... den vorgeschlagenen Änderungen vertraut zu machen". Vorrangig hat die Abteilung somit die prima facie Zulässigkeit zu prüfen. Siehe hierzu auch auch RdBK IV.D.4.1.1.
2.3 Zum einen stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin zu, dass es keine Rechtsgrundlage dafür gibt, einen Antrag allein deshalb nicht zuzulassen, weil er über eine von der Einspruchsabteilung festgesetzte Frist hinaus eingereicht wurde. Grundsätzlich ist eine Änderung des Patents im Einspruchsverfahren nach Regel 80 EPÜ für sich genommen nicht unzulässig, solange der Fall anhängig ist (siehe auch RdBK, IV.D.4.1.3). Im Umkehrschluss sind Änderungen daher grundsätzlich solange zulässig, als das Verfahren anhängig ist. Dies wird durch die Tatsache deutlich, dass Änderungen an der Beschreibung regelmäßig in einem sehr späten Stadium des Verfahrens und sehr oft nur in der mündlichen Verhandlung vorgenommen werden.
2.4 Dies widerspricht wiederum nicht der Tatsache, dass die Einspruchsabteilung bei der Entscheidung über die tatsächliche Zulassung von Änderungen Ermessen hat, im vorliegenden Fall bereits unmittelbar nach Artikel 101(1) und Regel 79(1) EPÜ, auch über die allgemeinen Befugnisse hinaus, die durch Artikel 114 (2) EPÜ eingeräumt werden. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Änderungen bedeutet nicht, dass Änderungen grundsätzlich immer zugelassen werden müssen.
2.5 Auch diese Tatsache scheint von der Beschwerdeführerin nicht bestritten zu werden. Unstreitig ist auch, dass eine solche Ermessensentscheidung unter Anwendung der in der Praxis des EPA anerkannten Kriterien getroffen werden muss. In dieser Hinsicht stimmt die Kammer der Beschwerdegegnerin zu, dass die Einspruchsabteilung bei der Entscheidung über die Zulassung die richtigen Kriterien in Betracht gezogen, oder sie zumindest identifiziert hat.
2.6 Unter diesen mehrheitlich die Verfahrensführung der Beschwerdeführerin betreffenden Kriterien hat die Einspruchsabteilung auch zu Recht die Komplexität der Änderungen als Kriterium benannt. Diese betrifft die Frage der Auswirkungen der Änderungen auf den gesamten Zweck des Einspruchsverfahrens, nämlich die Prüfung des Patents durch die Einspruchsabteilung auf Patentierbarkeit.
2.7 Mit anderen Worten, dieses Kriterium steht in direktem Zusammenhang mit der von den Parteien angestrebten materiellen Rechtswirkung (entweder Aufrechterhaltung mit einem bestimmten Schutzumfang oder Widerruf des Patents).
2.8 Es ist wichtig zu erkennen, dass die Verfahrensvorschriften eines Rechtssystems für sich genommen keinen eigenen Zweck haben, sondern immer dazu dienen, die Erreichung einer materiellen Rechtswirkung (auf legitime Weise) zu ermöglichen. Nach Ansicht der Kammer ist dieser Grundsatz auch bei der Prüfung verschiedener Kriterien für die Zulassung von Änderungen anwendbar. Da das Einspruchsverfahren im EPÜ keine strengen Regeln enthält, wann die (letzten) Änderungen noch zulässig sind, müssen die verschiedenen, von der Einspruchsabteilung berücksichtigten Kriterien dem materiellen Zweck des Verfahrens entsprechen. Dies bedeutet, dass die (nur Verfahrensaspekte aufgreifenden) Kriterien für die Zulassung oder Nichtzulassung einer Änderung, die von der Einspruchsabteilung herangezogen und geprüft worden sind, niemals allein und losgelöst von dem zu prüfenden Streitstoff angewendet werden können, aber nur insoweit, als sie sich auf die zugrunde liegende materiellrechtliche Frage auswirken, im vorliegenden Fall auf die Prüfung der Patentierbarkeit der Ansprüche.
2.9 Dies bedeutet, dass die Anwendbarkeit der geprüften Verfahrenskriterien immer von ihrer tatsächlichen materiellrechtlichen Wirkung abhängen muss. Letzteres kann nur geprüft werden, wenn der materiellrechtliche Inhalt der Änderungen berücksichtigt wird. Aus diesem Grund war die Prüfung der Komplexität der Änderungen nicht nur möglich, sondern sogar notwendig.
2.10 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern sind auch Ermessensentscheidungen zu begründen (RdBK, III. K.5.). Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer ernsthafte Probleme mit der Begründung der Entscheidung, soweit sie die Komplexität der Änderungen betrifft.
2.11 Wie von der Beschwerdeführerin zutreffend ausgeführt, gibt es in dieser Hinsicht keine erkennbaren Gründe, sondern lediglich eine pauschale Feststellung, dass die Änderungen komplex sind und eine erhebliche Diskussion erforderlich gemacht hätten. Die angefochtene Entscheidung enthält keine individualisierte, d.h. eine auf den vorliegenden Fall abgestimmte Begründung, so dass ein objektiver Leser nicht feststellen kann, ob die Einspruchsabteilung bei der Beurteilung der Komplexität tatsächlich den konkreten Antrag berücksichtigt hat, der ihr vorlag. Daher ist die Kammer der Auffassung, dass die Anwendung dieses Kriteriums (der Komplexität) nicht begründet ist, und im Ergebnis als nicht angewandt angesehen werden muss. Denn ohne eine fallbezogene Begründung kann die Kammer offensichtlich nicht feststellen, ob die Einspruchsabteilung das Kriterium richtig angewandt hat oder nicht, und ob es geeignet ist, die Nichtzulassung zu begründen. Es ist auch nicht möglich, für einen objektiven Leser sofort festzustellen, dass die fraglichen Änderungen (Streichung des Merkmals "im Wesentlichen") tatsächlich so erhebliche Änderungen für den beanspruchten Gegenstand impliziert hätten, dass keine weitere Begründung erforderlich gewesen wäre.
2.12 Angesichts der Tatsache, dass die anderen Verfahrenskriterien nur insoweit anwendbar sind, als ihre materiellrechtlichen Auswirkungen nachgewiesen oder zumindest anhand der Argumente der Entscheidung nachvollziehbar sind, müssen mangels weiterer Begründung der Nicht-Zulassung auch die anderen Verfahrenskriterien als nicht oder zumindest nicht ausreichend begründet angesehen werden.
2.13 Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass die (materiellrechtliche) Relevanz eines verspätet eingereichten Antrags unberücksichtigt bleiben könne, wenn das verspätete Vorbringen einem Verfahrensmissbrauch gleichkäme, und verweist auf die Rechtsprechung. Die Kammer ist der Ansicht, dass die zitierte Rechtsprechung nicht geeignet ist, die Position der Beschwerdegegnerin zu stützen. Die zitierten Entscheidungen betreffen alle das Vorbringen einer neuen Vorbenutzung (1), die erstmals in der Beschwerde eingereicht wurde (2). Keine dieser Bedingungen erscheint vergleichbar mit den Tatsachen des vorliegenden Falles. Darüber hinaus hat selbst die Einspruchsabteilung offenbar anerkannt, dass der Umfang der Änderungen geprüft werden muss, bevor die vorgeschlagene Änderung als unzulässig zurückgewiesen werden kann, wenn sie eingeräumt hat, dass geringfügige ("triviale") Änderungen mit einer hohen Aussicht auf Erfolg zulässig sein können.
3. Weiteres Verfahren
3.1 Die Überlegungen der Kammer zur unzureichenden Begründung der Entscheidung, wie sie in den Gründen 2.2-2.13 dargelegt sind, wurden von der Beschwerdegegnerin im Wesentlichen nicht widerlegt. Sie argumentierte lediglich, dass das materielle Ergebnis der Entscheidung gerechtfertigt sei, und die Kammer dieses materielle Ergebnis überprüfen solle.
3.2 Da die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung, wie oben erläutert, nicht hinreichend begründet ist, steht es für die Kammer frei, diese Ermessensentscheidung zu überprüfen, auch wenn die Kammer den Grundsätzen folgt, auf die sich die Beschwerdegegnerin bezieht. Weiter hat die Beschwerdegegnerin explizit beantragt, dass die Kammer die Feststellungen der Einspruchsabteilung in dem Obiter Dictum (im Grunde genommen die Prüfung der Frage der unzulässigen Erweiterung, Artikel 100(c) EPÜ, für den Hauptantrag) prüft und die Beschwerde auf dieser Grundlage zurückweist. Es stellt sich somit die Frage, ob die Kammer die Ermessensentscheidung über die Zulassung des Antrags selbst vornimmt, und falls sie entscheidet den Antrag zuzulassen, auch in der Sache, d.h. auf die Frage der unzulässigen Erweiterung, Artikel 123 (2) EPÜ, prüfen sollte.
3.3 In diesem Zusammenhang stellt die Kammer fest, dass die angefochtene Entscheidung im Hinblick auf einen wesentlichen Punkt - nämlich den Umfang der Änderungen - keine überprüfbare Begründung enthält. Eine Ermessensentscheidung über die Zulassung durch die Kammer erscheint auch deshalb unangemessen, weil die ursprünglich durch die Verspätung begründeten Kriterien inzwischen offensichtlich gegenstandslos geworden sind.
3.4 Diejenigen Teile der Entscheidung, die die Frage der unzulässigen Erweiterung behandeln (das "Obiter Dictum"), können ebenfalls nicht als Grundlage einer Überprüfung durch die Kammer berücksichtigt werden, da diese Frage in der mündlichen Verhandlung offensichtlich nicht erörtert wurde, und ihr expliziter Status als "Obiter Dictum" klarstellt, dass sie aus rechtlicher Sicht nicht als Teil der Entscheidungsgründe angesehen werden können. Falls die Kammer diese Fragen zum ersten Mal prüfen würde, würde dies unweigerlich einer der Parteien die Möglichkeit entziehen, die wesentlichen inhaltlichen Fragen von zwei Instanzen prüfen zu lassen und seine Sache vor diesen Instanzen auch verteidigen zu können.
3.5 Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass nach der ständigen Rechtsprechung kein absolutes Recht auf zwei Instanzen besteht. Dies wird auch von der Kammer anerkannt. Diese ständige Rechtsprechung betrifft jedoch meist Situationen, in denen eine Frage noch nicht für spezifische Anträge diskutiert wurde, oder in denen nur einige, aber nicht der gesamte Stand der Technik berücksichtigt wurde, ansonsten aber verschiedene Fragen der Patentierbarkeit diskutiert wurden. Im vorliegenden Fall wurden offenbar überhaupt keine Sachfragen diskutiert, der Fall wurde ausschließlich im Hinblick auf Verfahrensfragen entschieden. Denn entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin ist im Protokoll der mündlichen Verhandlung keine Spur von einer Diskussion über die "prima facie" Zulässigkeit der Änderungen nach Artikel 123(2) EPÜ - über die bloße Erwähnung der gestrichenen Merkmale hinaus - zu finden. Die Dauer der Diskussion über die gesamte Zulassungsfrage - nur 15 Minuten - lässt auch nicht vermuten, dass die Frage der unzulässigen Erweiterung ausführlich diskutiert wurde.
3.6 Die Beschwerdegegnerin argumentiert auch, dass eine Zurückverweisung im Widerspruch zur Verfahrensökonomie steht. Das wird von der Kammer nicht bestritten. Eine Zurückverweisung steht von vornherein im Widerspruch zur Verfahrensökonomie. Artikel 11 VOBK sieht jedoch ausdrücklich eine Zurückverweisung vor, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist. Es muss daher auch akzeptiert werden, dass ein grundsätzlich mangelhaftes Verfahren der ersten Instanz zu einem Verfahren führen kann, das nicht verfahrensökonomisch ist.
3.7 Die Kammer ist der Ansicht, dass die fehlende Begründung, wie vorstehend erläutert, in Verbindung mit dem vollständigen Fehlen einer inhaltlichen Diskussion ein wesentlicher Mangel ist und dass die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente nicht das Vorliegen derartiger "besonderen Gründe" erkennen lassen, die einer Zurückverweisung im Sinne von Artikel 11 VOBK entgegenstehen würden.
3.8 Da die Beschwerdeführerin nun eine Zurückverweisung als Hauptantrag beantragt, ist eine einsprechende Entscheidung nicht mehr gegen die Anträge beider Parteien gerichtet. Die Kammer sieht keinen Grund, den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zurückverweisung als verspätet nicht zuzulassen. Artikel 13(3) VOBK sieht vor, verspätetes Vorbringen nicht zuzulassen, deren Behandlung dem anderen Beteiligten nicht zuzumuten ist. Der Antrag auf Zurückverweisung hat keinen Einfluss auf den materiellen Inhalt der Anträge, die unverändert geblieben sind. Die Beschwerdegegnerin kann von der Zurückverweisung selbst nicht überrascht gewesen sein, da sie selbst bereits einen Antrag auf Zurückverweisung als Hilfsantrag gestellt hat.
3.9 Unter diesen Umständen entscheidet die Kammer, die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen. Nach Ansicht der Kammer muss die Zulassung der Anträge erneut entschieden werden, da die Umstände offensichtlich anders sind als die, die in der angefochtenen Entscheidung berücksichtigt wurden. In der Situation nach der Zurückverweisung kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sowohl die Einsprechende als auch die Einspruchsabteilung genügend Zeit gehabt haben, sich mit dem Gegenstand der streitigen Anträge vertraut zu machen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Behandlung an die erste Instanz zurückverwiesen.