T 0238/15 () of 16.2.2017

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2017:T023815.20170216
Datum der Entscheidung: 16 Februar 2017
Aktenzeichen: T 0238/15
Anmeldenummer: 02776737.5
IPC-Klasse: F16H 59/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: SIGNALGEBER ZUM EINSTELLEN DER BETRIEBSZUSTÄNDE EINER SELBSTTÄTIGEN SCHALTVORRICHTUNG
Name des Anmelders: ZF Friedrichshafen AG
Name des Einsprechenden: Renault S.A.S
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 100(b)
European Patent Convention Art 100(c)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Neuheit
Erfinderische Tätigkeit
Ausreichende Offenbarung
Änderungen
Verspätetes Vorbringen - offenkundige Vorbenutzung zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0101/87
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. In der am 5. Januar 2015 zur Post gegebenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 432 934 zurück.

II. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.

III. Eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 16. Februar 2017 statt.

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der

angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents. Zusätzlich beantragte sie, die offenkundige Vorbenutzung gemäß den Dokumenten D7 bis D7-10 in das Verfahren zuzulassen und dass die Hilfsanträge der Beschwerdegegnerin nicht zugelassen werden.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die

Zurückweisung der Beschwerde und Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt, hilfsweise Aufrechterhaltung des Patents gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 3 eingereicht mit Schreiben vom 16. Januar 2017.

Zusätzlich beantragte sie, die von der Beschwerde­führerin vorgetragene offenkundige Vorbenutzung nicht in das Verfahren zuzulassen.

IV. Anspruch 1 wie erteilt (Hauptantrag) lautet wie folgt:

"Signalgeber zum Einstellen der Betriebszustände einer selbsttätigen Schaltvorrichtung eines Gangwechsel­getriebes, aufweisend eine in wenigstens drei Richtungen auslenkbare, sich mindestens für bestimmte Schaltpositionen selbsttätig in eine Grundstellung (X) zurückstellende Auswahleinrichtung (1), mittels der zumindest eine Schaltposition (R) für das Einlegen eines Rückwärtsganges, eine Schaltposition (N) für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechsel­getriebe und eine Schaltposition (D) für das Einlegen eines Vorwärtsganges auswählbar ist, wobei die Auswahl­einrichtung (1) zum Auswählen der Schaltposition (N; N1, N2) für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechselgetriebe ausgehend von der Grundstellung (X) in eine erste Richtung auslenkbar ist, und dass die Auswahleinrichtung (1) zum Auswählen einer der weiteren Schaltpositionen (R, D) ausgehend von der Schalt­position (N; N1, N2) für die Unterbrechung der Dreh­moment­übertragung im Gangwechselgetriebe jeweils in eine weitere von der ersten Richtung verschiedene Richtung auslenkbar ist, die keine Gegenrichtung der ersten Richtung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Auswahleinrichtung (1) aus der stabilen Grundstellung (X) zunächst durch Auslenken in die erste Richtung in die instabile Schaltposition (N, N1, N2) für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechsel­getriebe und anschließend durch Auslenken in die weitere, von der ersten Richtung verschiedenen Richtung in die weitere instabile Schaltposition (R, D) gebracht wird."

Die Hilfsanträge spielen für die vorliegende Entscheidung keine Rolle.

V. Folgende Entgegenhaltungen wurden im Beschwerde­verfahren zitiert:

D3: FR -A- 0 789 949;

D4: US -A- 6,046,673;

D7: "RENAULT BOITE DE VITESSES ROBOTISÉE" (Dezember 1999);

D7-2. Liste projets vehicules Plan Gamme Renault 817/12/2013);

D7-3: Internet-Ausdruck "Twingo 1.2 16V Tech'Run Quickshift 5" (2004-03-30);

D7-4: "Powertrain Range La Gamme Mécanique 2012";

D7-5: Kopie einer E-Bay Anzeige "Renault Twingo 1.2 16V Boîte à vitesse robotisée Quick Shift JH1 013";

D7-6: Internet-Ausdruck bezüglich "Kit d'embrayage pur RENAULT Twingo I(X06) 1.2 i 60 cv";

D7-7: Internet-Ausdruck "La Twingo adopte le Quickshift";

D7-8: Internet-Ausdruck "Renault Twingo (type I)- met Quickshift 5";

D7-9: Internet-Ausdruck "Renault Clio 1.2 16V Quickshift 5, bien sous tous rapports";

D7-10: Internet-Ausdruck "Twingo History Twingo 3 /Serie 5 (2000-2002):".

VI. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen folgendes vorgetragen:

Artikel 100 b) EPÜ

Das Streitpatent offenbare lediglich ein Schaltbild, ohne jedoch eine technische Lehre zu vermitteln, die es ermögliche, das Schaltbild praktisch zu verwirklichen. Die beanspruchte Erfindung sei deshalb nicht ausreichend offenbart, um sie auszuführen.

Artikel 100 c) EPÜ

Einige Merkmale des Oberbegriffs des Anspruchs seien eine Erweiterung der technischen Lehre der Anmeldung, die in den Beispielen offenbart sei.

Die Merkmale des kennzeichnenden Teils des Anspruchs basierten nur teilweise auf Seite 4, Zeilen 19-25 der Beschreibung. Diese Textstelle betreffe nämlich das Auswählen der antriebs­übertragenden Betriebszustände der selbsttätigen Schaltvorrichtung des Gangwechsel­getriebes, anders als Anspruch 1, der lediglich "weitere instabile Schaltpositionen" betreffe. Folglich sei die ursprüngliche Offenbarung verallgemeinert worden. Darüber hinaus sei auf Seite 4 der Beschreibung das Verb "bringen" verwendet worden. Dagegen werde im Anspruch 1 die Passivform benutzt, wodurch eine funktionelle Definition entstanden sei. Wie unter Punkt II.2.7 der angefochtenen Entscheidung angegeben, seien jedoch funktionelle Merkmale nur dann zulässig, wenn ein Fachmann sie umsetzen könne, ohne erfinderisch tätig zu werden. Dies sei hier nicht der Fall.

Schließlich sei ein Widerspruch zwischen den Unteransprüchen 4 und 24 und dem Anspruch 1 vorhanden.

Aus diesen Gründen gehe das Patent über den Inhalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht hinaus.

Geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung (D7 bis D7-10)

Die durch D7 bis D7-10 substantiierte offenkundige Vorbenutzung "Twingo Quickshift" sei eine Reaktion auf die Interpretation des Anspruchs in der angefochtenen Entscheidung. Nachdem die Einspruchs­abteilung überraschenderweise die Neuheit gegenüber D4 anerkannt habe, sei eine zusätzliche Recherche durchgeführt worden. Deshalb sei diese Vorbenutzung erst im Beschwerdeverfahren vorgebracht worden. Wie in der Entscheidung T 101/87 dargelegt, sei deswegen die Vorbenutzung zuzulassen. Wenn die Kammer der Meinung sei, dass die Vorbenutzung von zwei Instanzen zu prüfen sei, sei auch eine Zurück­verweisung an die Einspruchs­abteilung zur weiteren Prüfung möglich. Die Vorbenutzung sei deshalb in das Verfahren zuzulassen.

Neuheit

D4 offenbare alle Merkmale des Anspruchs 1. Die Figur 2 zeige die Bewegungen des Hebels. Nach der Bewegung nach rechts zum Auswählen der N Position, die in Spalte 5, Zeilen 23-31, beschrieben werde, erfolge die Bewegung ("next movement") nach unten zum Auswählen der D Position, die in Spalte 5, Zeilen 32-39, beschrieben werde. Eine Rückbewegung nach links zur stabilen Position zwischen diesen Bewegungen finde nicht statt. Die Figur 1 sei nur schematisch und schließe nicht aus, dass eine Bewegung nach rechts unmittelbar von einer Bewegung nach unten gefolgt werden könne. Auf jeden Fall sei vom Anspruchswortlaut eine Rückbewegung in die stabile Position zwischen der Bewegung nach rechts und der Bewegung nach unten nicht ausgeschlossen. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei deshalb nicht neu.

Erfinderische Tätigkeit

D4 offenbare auf jeden Fall in Figur 2, dass erst die N und dann die D Position eingeschaltet werde. Im Patent finde dieser Ablauf ohne eine Rückbewegung statt, was ergonomisch vorteilhaft sei. Die zu lösende Aufgabe sei deshalb, die Ergonomie zu verbessern. Diese Aufgabe dadurch zu lösen, dass die Rückbewegung weggelassen werde, sei aufgrund des allgemeinen Fachwissens naheliegend, weil dies praktisch die einzige Möglichkeit sei. Z.B. werde in der D3 die D Position unmittelbar aus der N-Position eingeschaltet.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe somit nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

VII. Die Beschwerdegegnerin hat im Wesentlichen folgendes vorgetragen:

Artikel 100 b) EPÜ

Das Patent offenbare detailliert das Schaltbild des beanspruchten Signalgebers. Der Fachmann könne anhand seines allgemeinen Fachwissens das Schaltbild in einem Signalgeber realisieren. Die Erfindung sei deshalb ausreichend offenbart.

Artikel 100 c) EPÜ

Der Oberbegriff des Anspruchs 1 entspreche dem Anspruch 1 wie ursprünglich eingereicht. Die Merkmale des kennzeichnenden Teils seien auf Seite 4, Zeilen 19-25 der Beschreibung zu finden. Die in dieser Textstelle erwähnten antriebsübertragenden Betriebszustände seien die R- und D-Positionen gemäß Anspruch 1. Der Unterschied zwischen dem Begriff "bringen" - wie er in der Beschreibung verwendet werde - und der Passivform "gebracht wird" sei rein grammatikalisch und nicht inhaltlich.

Wie schon im Einspruchsverfahren vorgetragen worden sei, stünden die Unteransprüche 4 und 24 nicht im Widerspruch mit den Merkmalen des Anspruchs 1.

Geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung (D7 bis D7-10)

Die geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung "Twingo Quickshift" sei zum ersten Mal in der Beschwerde­begründung vorgetragen worden, obwohl sie von der Beschwerdeführerin selbst stamme. Ein Grund für diese Verspätung sei nicht zu erkennen, weil das Patent im Einspruchsverfahren nicht geändert worden sei. Es handele sich somit um einen neuen Fall. Es sei auch nicht prima facie ersichtlich, ob die Vorbenutzung in der Tat zum Stand der Technik gehöre. Deshalb sei sie nicht in das Verfahren zuzulassen.

Neuheit

Die Bewegungen des Wählhebels der D4 seien in den Figuren 1 und 2 gezeigt. Es sei insbesondere aus der Figur 2 klar, dass im automatischen Betrieb der Hebel immer in die stabile Position zurückkehre. So würden die R- und D-Positionen durch eine Bewegung eingeschaltet, die nicht durch die N-Position laufe.

Folglich offenbare D4 nicht das Merkmal, wonach die Auswahleinrichtung aus der stabilen Grundstellung zunächst durch Auslenken in die erste Richtung in die instabile Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechselgetriebe und anschließend durch Auslenken in die weitere, von der ersten Richtung verschiedene Richtung, die keine Gegenrichtung der ersten Richtung ist, in die weitere instabile Schaltposition gebracht wird.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei somit neu.

Erfinderische Tätigkeit

Die beanspruchte Erfindung stelle keine Verbesserung der Ergonomie der D4 dar, weil in der D4 die R- und D-Positionen durch einfache Bewegungen nach oben oder nach unten einzuschalten seien. Vielmehr werde durch die vorliegende Erfindung die Betriebsicherheit erhöht, weil eine unbeabsichtigte Auswahl eines Betriebs­zustandes wirkungsvoll vermieden werde. Ausgehend von D4 sei es für den Fachmann nicht naheliegend gewesen, diese Aufgabe wie beansprucht zu lösen, weil D4 eher die Verwendung einer Auswerteschaltung ("analysis circuit") lehre. Folglich beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Entscheidungsgründe

1. Artikel 100 b) EPÜ

Das Patent offenbart, wie das Schaltbild des beanspruchten Signalgebers aussehen soll. Dem Fachmann ist allgemein bekannt, wie ein Schaltbild mit mehreren Schaltrichtungen realisiert werden kann. Konkrete Schwierigkeit in dieser Hinsicht sind weder von der Beschwerdeführerin geltend gemacht worden noch für die Kammer ersichtlich. Der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ steht daher der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen.

2. Artikel 100 c) EPÜ

2.1 Die Merkmale des Oberbegriffs des vorliegenden Anspruchs 1 befinden sich im Anspruch 1 wie ursprünglich eingereicht. Sie sind somit, auch wenn sie eine Verallgemeinerung der konkreten Beispiele der Beschreibung darstellen, in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht offenbart worden.

2.2 Die Merkmale des kennzeichnenden Teils des Anspruchs basieren auf Seite 4, Zeilen 19-25, der Beschreibung. Gemäß dieser Textstelle ist es "zum Auswählen der antriebsübertragenden Betriebszustände der selbst­tätigen Schaltvorrichtung des Gangwechselgetriebes erforderlich, die Auswahleinrichtung aus einer stabilen Grundstellung zunächst durch Auslenken in eine erste Auslenkrichtung in eine instabile Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gang­wechselgetriebe zu bringen, und anschließend zunächst durch Auslenken in eine weitere, von der ersten Auslenk­richtung verschiedene Richtung und anschließend durch Auslenken in die erste Richtung in eine weitere instabile Schaltposition (z. B. zum Einlegen eines Vorwärtsganges) zu bringen. Dabei darf die weitere Auslenkrichtung keine Gegenrichtung zur ersten Auslenkrichtung sein, da sonst wiederum die Grund­stellung erreicht würde".

Die antriebsübertragenden Betriebszustände, die hier erwähnt sind, sind diejenigen, die im vorhergehenden Absatz (Seite 4, Zeilen 4-17) beschrieben werden, nämlich die Schaltpositionen zum Einlegen des Vorwärts- und Rückwärtsgangs.

2.3 Der kennzeichnende Teil des Anspruchs 1 beschreibt die instabile Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung und "die weitere instabile Schaltpositionen". Die "weiteren instabilen Schalt­positionen" werden im Oberbegriff des Anspruchs 1 definiert und sind die Schaltpositionen zum Einlegen des Vorwärts- und Rückwärtsgangs. Der kennzeichnende Teil des Anspruch 1 bezieht sich deshalb auf die antriebsübertragenden Betriebszuständen der Seite 4, Zeilen 19-25. Eine Verallgemeinerung der Offenbarung der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ist deshalb nicht vorhanden.

2.4 Es ist zwar richtig, dass in der zitierten Textstelle auf Seite 4 das Verb "bringen" verwendet wird, während im vorliegenden Anspruch 1 die Auswahleinrichtung in die weitere instabile Schaltposition "gebracht wird". Allerdings wird, wenn jemand eine Auswahleinrichtung in eine Schaltposition bringt, immer die Auswahl­einrichtung in die Position gebracht. Deshalb kann in dieser Hinsicht kein inhaltlicher Unterschied zwischen dem Anspruch 1 und der Offenbarung der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht erkannt werden.

Die Bedingungen, die von der Einspruchsabteilung unter Punkt II.2.7 der Entscheidung angesprochen wurden ("gemäss Richtlinien F-IV 6.5: Nicht jedes Merkmal muss als strukturelle Beschränkung ausgedrückt werden. Funktionelle Merkmale sind zulässig, sofern ein Fachmann ohne Weiteres Mittel zur Ausführung dieser Funktion angeben kann, ohne dass er dabei erfinderisch tätig wird.") beziehen sich auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ und sind somit für die Frage der ursprünglichen Offenbarung nicht relevant.

2.5 Beide Unteransprüche 4 und 24 stehen nicht im Widerspruch mit den Merkmalen des Anspruchs 1, sondern definieren bevorzugte Ausführungsformen, die zusätzliche Schaltpositionen (Anspruch 4) und zusätzliche Richtungswechsel beim Einschalten (Anspruch 24) aufweisen, und die schon in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht vorhanden waren.

2.6 Folglich geht das Patent nicht über den Inhalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht hinaus.

3. Geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung (D7 bis D7-10)

Die durch D7 bis D7-10 substantiierte offenkundige Vorbenutzung wurde erstmalig mit der Beschwerde­begründung vorgebracht.

Gemäß Artikel 12(4) VOBK kann die Beschwerdekammer Tatsachen und Beweismittel, die bereits im erstinstanz­lichen Verfahren hätten vorgebracht werden können, als verspätet zurückweisen. Die Kammer hat dabei ein Ermessen, in dessen Rahmen sie alle Umstände abwägen muss.

Die offenkundige Vorbenutzung stammt von der Beschwerde­­­­führerin selbst und es wäre ihr damit möglich gewesen, sie bereits im erstinstanzlichen Verfahren geltend zu machen. Hierzu hätte auch Veranlassung bestanden, da die Einspruchsabteilung bereits in ihrer vorläufigen Meinung acht Monate vor der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht hat, dass sie die bisherigen Entgegen­haltungen nicht für ausreichend erachtet, um zu einem Widerruf oder einer Beschränkung des Patents zu kommen. Angesichts der vorläufigen Meinung der Einspruchs­abteilung konnte die Beschwerde­führerin auch nicht von der Interpretation des Anspruchs in der angefochtenen Entscheidung überrascht sein, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen wurde.

Auch wurde das Patent im Einspruchsverfahren nicht geändert, weshalb das neue Vorbringen nicht als Reaktion auf eine substanzielle Änderung eines Patentanspruchs gesehen werden kann.

Die geltend gemachte Vorbenutzung stellt weder eine weitere Entwicklung eines schon im Einspruchsverfahren vorgebrachten Angriffs noch ein fehlendes Glied in einer bereits bestehenden Argumentationskette dar (siehe die von der Beschwerdeführerin zitierte Entscheidung T 101/87 vom 25. Januar 1990, Punkt 2), sondern bildet einen komplett neuen Fall, der ohne objektive Recht­fertigung für die Verspätung vorgebracht wurde, und der zudem nicht einmal in der Beschwerde­begründung sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt (im Schreiben vom 19. Januar 2016) näher erläutert wurde.

Unter diesen Umständen hat die Kammer entschieden, die geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung nicht ins Verfahren zuzulassen.

4. Neuheit (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)

D4 offenbart einen Wählhebel 1 zum Einlegen der einzelnen Fahrstufen eines Kraftfahrzeuggetriebes. Der Wählhebel hat zwei Betriebsarten: Schrittschaltbetrieb (M) und Fahrstufenautomatik. Von der Betätigungs­position für die Betriebsart Fahrstufenautomatik aus kann der Wählhebel 1 in die Richtung des Pfeiles 15 in Fahrzeuglängsrichtung ausgelenkt werden, um die Fahrstufe R für Rückwärtsfahrbetrieb einzulegen. Bei Bewegung des Wählhebels 1 in Richtung des Pfeiles 17 wird die Fahrstufe D für Vorwärtsfahrbetrieb eingelegt. Wird der Wählhebel 1 in Fahrzeugquerrichtung des Pfeiles 19 bewegt, so wird die Betriebsstellung Neutral N gewählt. In der Betriebsart Fahrstufenautomatik stellt sich der Wähl­hebel 1 selbsttätig nach einer Bewegung in Richtung der Pfeile 15 oder 19 oder 17 zurück (Spalte 3, Zeile 60 - Spalte 4, Zeile 5 und Figur 1).

Folglich offenbart D4 einen Signalgeber zum Einstellen der Betriebszustände einer selbsttätigen Schalt­vorrichtung eines Gangwechselgetriebes, aufweisend eine in wenigstens drei Richtungen auslenkbare, sich mindestens für bestimmte Schaltpositionen selbsttätig in eine Grundstellung zurückstellende Auswahl­einrichtung (1), mittels der zumindest eine Schalt­position (R) für das Einlegen eines Rückwärtsganges, eine Schaltposition (N) für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechselgetriebe und eine Schaltposition (D) für das Einlegen eines Vorwärts­ganges auswählbar ist, wobei die Auswahleinrichtung zum Auswählen der Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechselgetriebe ausgehend von der Grundstellung in eine erste Richtung auslenkbar ist, und wobei die Auswahleinrichtung zum Auswählen einer der weiteren Schaltpositionen ausgehend von der Grundstellung jeweils in eine weitere von der ersten Richtung verschiedene Richtung auslenkbar ist.

Die Figur 2 zeigt in der linken Spalte mögliche Bewegungen des Hebels. Dabei ist jeweils der Pfeil der Richtung schwarz ausgemalt gezeichnet, in die der Wählhebel 1 für das Anwählen einer neuen Betriebs­stellung bewegt wird, um das nächstfolgende, darunter­liegende Anzeigebild der danebenliegenden Spalte zu erhalten. Dieses jeweils dazugehörige Anzeigebild im Anzeigefeld 10 der Anzeigeeinrichtung ist in der zweiten Spalte der Figur 2 dargestellt. Dabei zeigt das Anzeigebild über dem jeweiligen Wählhebel 1 aus der linken Spalte die Betriebsstellung vor der Ausführung seiner Schaltbewegung und das Anzeigebild darunter, das der neu angewählten Betriebsstellung nach seiner Wählbewegung. Die beiden Spalten noch weiter rechts zeigen jeweils ein weiteres Anzeigefeld 20 und ein zusätzliches Anzeigefeld 30, wobei in dem weiteren Anzeigefeld 20 die einzelnen Fahrstufen der Betriebsart Fahrstufenautomatik angezeigt werden (Spalte 4, Zeilen 20-48). Die Figur 2 zeigt, dass der Hebel nach jeder Bewegung in einer ersten Richtung zum Auswählen einer Schaltposition immer in die stabile Position durch eine Bewegung in eine Gegenrichtung der ersten Richtung zurückkommt (evtl. automatisch, siehe auch Spalte 3, Zeile 66-Spalte 4, Zeile 1), da sonst nicht immer alle vier Bewegungsrichtungen möglich wären.

Es ist somit klar, dass - entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin - zwischen der Bewegung nach rechts zum Auswählen der N Position, die in Spalte 5, Zeilen 23-31, beschrieben wird, und der Bewegung ("next movement") nach unten zum Auswählen der D Position, die in Spalte 5, Zeilen 32-39, beschrieben wird, eine Rückbewegung nach links zur stabilen Position statt­gefunden hat.

Eine derartige Rückbewegung ist vom Wortlaut des vorliegenden Anspruchs 1 ausgeschlossen. Nach dem Anspruch wird nämlich die Auswahleinrichtung aus der stabilen Grundstellung zunächst durch Auslenken in die erste Richtung in die instabile Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gangwechsel­getriebe und anschließend durch Auslenken in die weitere, von der ersten Richtung verschiedenen Richtung in die weitere instabile Schaltposition gebracht, wobei die Auswahleinrichtung zum Auswählen einer der weiteren Schaltpositionen ausgehend von der Schaltposition für die Unterbrechung der Drehmomentübertragung im Gang­wechselgetriebe jeweils in eine weitere von der ersten Richtung verschiedene Richtung auslenkbar ist, die keine Gegenrichtung der ersten Richtung ist.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit neu.

5. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) und 56 EPÜ)

In der D4 ist es nicht notwendig erst die N-Schalt­position einzuschalten, um in die D- oder R-Position zu schalten. Vielmehr können in D4 diese antriebs­­übertragenden Betriebszustände durch eine einfache Bewegung direkt nach vorne (R) oder oder nach hinten (D) geschaltet werden. Diese unmittelbare lineare Bewegung stellt einen ergonomisch vorteilhaften Handgriff zum Schalten dar. Der Schaltvorgang gemäß dem Streitpatent sieht hingegen eine Bewegung der Hand in zwei unterschiedlichen Richtungen vor. Da ein solcher Bewegungsablauf umständlicher ist, als der in D4 vorgesehene, kann die vom Streitpatent gelöste Aufgabe nicht - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - darin gesehen werden die Ergonomie zu verbessern.

Beim Signalgeber gemäß D4 besteht allerdings die Gefahr einer Beschädigung des Gangwechselgetriebes durch Fehl­bedienung der Auswahleinrichtung.

Diese Gefahr wird im Signalgeber gemäß Anspruch 1 unabhängig von einer ggf. zusätzlich vorhandenen elektronischen Sicherungs­schaltung verringert (Absatz [0017] des Streitpatents). Die ausgehend von D4 zu lösende Aufgabe besteht deshalb darin, einen Signal­geber zum Einstellen der Betriebs­zustände einer selbsttätigen Schaltvorrichtung eines Gangwechsel­getriebes zur Verfügung zu stellen, der eine unbeabsichtigte Auswahl eines Betriebszustandes wirkungsvoll vermeidet und dem Fahrer ein intuitives Schalten ermöglicht (Absatz [0011]).

Die beanspruchte Lösung wird nicht vom Stand der Technik nahegelegt. Ausgehend von der D4 hatte der Fachmann, durchaus andere Möglichkeiten, um die o.g. Aufgabe zu lösen, z.B. anhand der Auswerteschaltung ("analysis circuit"), die in dieser Entgegenhaltung erwähnt wird (Spalte 3, Zeilen 11-14).

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht deshalb auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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