T 1472/14 (Verwendung anthropometrischer Daten zur Produktherstellung) of 19.1.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T147214.20210119
Datum der Entscheidung: 19 Januar 2021
Aktenzeichen: T 1472/14
Anmeldenummer: 10721658.2
IPC-Klasse: G06Q30/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 337 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VORRICHTUNG UND VERFAHREN ZUR PRODUKTOPTIMIERUNG AUF BASIS NATIONALER UND INTERNATIONALER REIHENMESSUNGSDATEN
Name des Anmelders: Avalution GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.5.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56 (2007)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale
Erfinderische Tätigkeit - allgemeines Fachwissen - alle Anträge (nein)
Orientierungssatz:

Was der beanspruchte Gegenstand leistet ist lediglich, anthropometrische Daten in einer Datenbank so zu organisieren, dass diese in standardisierter Form oder in Form statistischer Kennwerte zur Abfrage über eine Kommunikationseinrichtung bereitgestellt werden. Der Anspruchs­gegenstand betrifft nur Auswertungsergebnisse, auch wenn solche im Rahmen einer Zweckangabe zur Produktherstellung gesendet werden. Es erfolgt keine Kontrolle des Betriebs einer Herstellungsanlage, sondern es werden lediglich Produktdaten bereit gestellt. Die Kammer bezweifelt, dass das Ziel der Anthropotechnik mit einer Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine hier relevant ist. Die Kammer erkennt in dem beanspruchten Verfahren keinen technischen Effekt, der über die reine naheliegende Automatisierung einer abstrakten Idee zur Standardisierung hinausgeht (vgl. Entscheidungsgründe, Punkt 7).

Angeführte Entscheidungen:
T 1194/97
T 0641/00
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung auf Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung Nr. 10721658.2 mangels erfinderischer Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ.

II. Mit Bescheid vom 30. April 2020 hat die Kammer ihre vorläufige Meinung dargelegt. Dabei wurden Einwände wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben und die Gründe dafür dargelegt.

III. Mit einem am 28. August 2020 eingegangenen Schreiben reichte die Beschwerdeführerin einen weiteren Hilfsantrag ein. Es wurden außerdem weitere Argumente im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit übermittelt.

IV. Die Kammer hat in einem weiteren Bescheid vom 28. Oktober 2020 zur mündlichen Verhandlung geladen und ihre vorläufige Meinung im Hinblick auf die weiteren Argumente der Beschwerdeführerin bekräftigt.

V. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 reichte die Beschwerdeführerin weitere Argumente im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit ein. Dabei wies die Beschwerdeführerin auf folgende Druckschriften hin:

Philippe Geslin (Hrsg.): Inside Anthropotechnology - User and Culture Centered Experience. Volume 1, in: Social Interdisciplinary Set coordinated by Gerorges Guille-Escuret, ISTE Ltd. und Wiley, 2017

Kevin Liggieri: Antropotechnik - Zur Geschichte eines umstrittenen Begriffs, Konstanz University Press, 2020

Dr.-Ing. Hansjürgen Gebhardt, Dipl.-Ing. Andreas Schäfer, Dipl.-Ing. Karl-Heinz Lang, Dr.-Ing. Wolfgang Schultetus: KAN-Bericht 44: Anthropometrische Daten in Normen -Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitsschutzes, VFA Verein zur Förderung der Arbeitssicherheit in Europa (Hrsg.), Hartmann Satz + Druck /mignon Verlag, Bonn, Juli 2009

VI. Am 19. Januar 2021 fand eine mündliche Verhandlung statt, in deren Verlauf alle vorgetragenen Argumente diskutiert wurden.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung des Patents auf der Grundlage der Patentansprüche 1 bis 15 vom 24. Juni 2013 (Hauptantrag), Hilfsantrag 1, beide Anträge wie eingereicht mit der Beschwerdebegründung vom 16. Juni 2014, oder Hilfsantrag 2, eingereicht am 28. August 2020.

VIII. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag 2 lautet:

"1. Computergestütztes Verfahren zum Betrieb einer Vorrichtung zur Produktoptimierung unter Berücksichtigung nationaler oder internationaler anthropometrischer oder soziodemographischer Bevölkerungsdaten, wobei folgendes vorgesehen ist:

Speichern nationaler oder internationaler anthropometrischer oder soziodemographischer Bevölkerungsdaten (7) in mindestens einer zentralen Speichereinrichtung (2),

Ablegen der Werte der erhobenen Daten für jede einzelne Person, die in einer Reihenmessung gemessen oder befragt wurden, in standardisierter Form in der Speichereinrichtung (2), oder Ablegen der erhobenen Daten einer Reihenmessung in Form statistischer Kennwerte dieser erhobenen Daten in der Speichereinrichtung (2),

Empfangen, mit mindestens einer Kommunikationseinrichtung (3), von Auswertungsanfragen (10) in Form von mindestens einer Anwendereingabe,

Ausführen, mit mindestens einer Recheneinheit (1), anwendungsspezifischer Auswertungen auf Basis der gespeicherten Bevölkerungsdaten, und

Senden der Auswertungsergebnisse mit der mindestens einen Kommunikationseinrichtung (3) zur Produktherstellung."

IX. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung.

Entscheidungsgründe

1. Da Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 alle Merkmale der vorgelagerten Anträge umfasst, wurde dieser zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen.

Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit

2. Die Kammer stimmt der Beurteilung der Prüfungsabteilung hinsichtlich des Naheliegens des Gegenstands von Anspruch 1 durch eine herkömmliche vernetzte Datenverarbeitungsanlage zu (vgl. Punkt 3 der angefochtenen Entscheidung).

Insbesondere stimmt die Kammer mit der angefochtenen Entscheidung überein, dass das in Anspruch 1 beschriebene Verfahren lediglich einen administrativen Ablauf zur Produktoptimierung unter Berücksichtigung nationaler oder internationaler anthropometrischer oder soziodemographischer Bevölkerungsdaten betrifft und dass dieses Verfahren seinen technischen Charakter durch seine Implementierung auf einem herkömmlichen Computersystem mit Recheneinheit, einer Datenbank, Speichereinrichtung und Kommunikationseinrichtung erhält. Weder das Computersystem, noch dessen Arbeitsweise werden in technischer Hinsicht weiterentwickelt. Vielmehr stellen die folgenden Schritte nach Anspruch 1 lediglich ein abstraktes und administratives Verfahren dar, welches unabhängig von einem Computersystem ausführbar wäre:

a) Speichern (Ablegen/ Archivieren) nationaler oder internationaler anthropometrischer oder soziodemographischer Bevölkerungsdaten, sowie

b) Ablegen der Werte der erhobenen Daten für jede einzelne Person, die in einer Reihenmessung gemessen oder befragt wurde, in standardisierter Form, oder Ablegen der erhobenen Daten einer Reihenmessung in Form statistischer Kennwerte dieser erhobenen Daten,

c) Empfangen von Auswertungsanfragen,

d) Ausführen anwendungsspezifischer Auswertungen auf Basis der gespeicherten Bevölkerungsdaten, und

e) Senden (zur Verfügung stellen) der Auswertungsergebnisse.

3. Dabei wird der technische Charakter des Anspruchs als Ganzes von der Kammer nicht in Frage gestellt. Dieser ist bereits durch die Verwendung eines Computers gegeben.

Die Kammer ist jedoch - im Gegensatz zur Beschwerdeführerin - der Auffassung, dass die anthropometrischen Daten keinen technischen Beitrag zum Anspruchsgegenstand leisten. Anders als bei den ebenfalls beanspruchten soziodemographischen Daten (z.B. Altersstruktur), erkennt die Kammer durchaus an, dass anthropometrische Daten auch technische Messdaten enthalten können, welche messtechnisch ermittelt werden können. Jedoch entfalten diese Daten im Rahmen der beanspruchten Verwendung zur Produktoptimierung des Anspruchsgegenstands selbst keine funktionalen Wirkungen. Weder ihre Gewinnung noch die Art und Weise wie diese genau in technische Eigenschaften von nicht näher spezifizierten Produkten eingehen sollen, ist Bestandteil des beanspruchten Gegenstandes.

Beansprucht ist nur die Organisation solcher Daten in einer Datenbank, wobei anthropometrische Daten keine funktionalen Daten im Sinne von T1194/97 darstellen, da sich ein eventueller Defekt der Daten nicht auf die korrekte Funktionsweise beim Betrieb der computergestützten Vorrichtung auswirkt, selbst wenn dadurch das herzustellende Produkt defekt ausfallen würde. Der beanspruchte Gegenstand leistet lediglich, die Organisation der anthropometrischen Daten in der Weise, dass diese in standardisierter Form oder in Form statistischer Kennwerte zur Abfrage über eine Kommunikationseinrichtung bereitgestellt werden.

Die Lösung des Problems, unterschiedliche Standards wie ISO 8559, ISO 7250 oder 3D body scanning kompatibel zu machen, indem eine Standardisierung der Werte der erhobenen Daten mittels gemeinsamer Semantik vorgenommen wird (wie von der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung angeführt), erfordert eine administrative Entscheidung darüber, in welcher Weise kognitive Daten zu organisieren sind. Die Standardisierung stellt damit keine Lösung einer technischen Aufgabe mit technischen Mitteln dar.

Hierbei stellt sich zudem noch das Problem, dass die Anmeldungsunterlagen nicht deutlich erkennen lassen, wie genau eine solche Standardisierung erfolgen soll.

4. Auch erkennt die Kammer in dem beanspruchten Verfahren keinen technischen Effekt, der über eine reine Automatisierung hinausgeht.

Im Lichte der Entscheidung T 641/00 (COMVIK) sind bei einer Erfindung, die wie im vorliegenden Fall aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale besteht und als Ganzes technischen Charakter aufweist, in Bezug auf die Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit nur die Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, wohingegen Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können. Wenn der Anspruch auf eine Zielsetzung in einem nichttechnischen Gebiet verweist, darf diese Zielsetzung bei der Formulierung der Aufgabe als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe aufgegriffen werden, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe. Die übrigen als nicht-technisch angesehenen Merkmale werden nach gängiger Praxis entsprechend dem COMVIK Ansatz (siehe T 641/00) bei der Implementierung dem technischen Fachmann als zu implementierendes Konzept vorgegeben und bedürfen keines druckschriftlichen Nachweises, da sie keinen erfinderischen technischen Beitrag leisten können.

5. Das hier beanspruchte Verfahren soll zwar der Produktoptimierung dienen, was einer Zweckangabe entspricht, jedoch werden im Anspruch 1 keine Merkmale spezifiziert, die eine konkrete Veränderung an einem Produkt vornehmen. Wie vorstehend ausgeführt werden bei der Standardisierung zur Datenerhebung entgegen dem Argument der Beschwerdeführerin (vgl. den die Seiten 2 und 3 verbindenden Absatz in der Beschwerdebegründung) auch keine funktionalen Wirkungen bzw. technischen Eigenschaften eines Produkts berücksichtigt. Vielmehr ergibt sich aus den Unteransprüchen, dass eine Optimierung auch im Hinblick auf eine Berechnung von Marktanteilen oder Handelsprognosen (vgl. Anspruch 9 oder 10) erfolgt und die Optimierung somit nicht zwingend auf technische Eigenschaften von Produkten abzielt. Der Verweis auf mögliche Produkte wie Motorradhelme, Orthesen oder Tauchanzüge findet keine entsprechende Stütze in der Beschreibung.

Ein technischer Effekt wird auch nicht durch Einbindung des beanspruchten Verfahrens in die Produktentwicklung und eine nachfolgende Fertigung erzielt. Solche Schritte sind nicht Bestandteil von Anspruch 1. Der Anspruchs­gegenstand betrifft nur Auswertungsergebnisse, auch wenn solche im Rahmen einer Zweckangabe zur Produktherstellung gesendet werden. Es erfolgt keine Kontrolle des Betriebs einer Herstellungsanlage, sondern es werden lediglich Produktdaten bereit gestellt.

6. Die Anmeldungsunterlagen geben keinen Hinweis darauf, dass und wie genau universal angelegte Fertigungsverfahren an Anforderungen anpassbar sein sollen oder wie Produktionsanlagen oder -ketten gestaltet werden können. Insbesondere weist Anspruch 1 keine technischen Merkmale auf, die dies bewirken; auch nicht dahingehend, dass ein Umrüsten innerhalb bestehender Produktionslinien verbessert würde. Insofern kann dem entsprechenden Argument der Beschwerdeführerin nicht Folge geleistet werden.

7. Neben einer Standardisierung der Werte der erhobenen Daten wird aber keine Verbesserung technischer Merkmale eines Produktes, wie Schutzwirkung oder Passgenauigkeit, erreicht (vgl. Argument auf Seite 4 oben in der Beschwerdebegründung). Solche Effekte könnten, wenn überhaupt, nur im Zusammenwirken mit einem konkreten Individuum entstehen, auf das eine Größe optimiert ist. Keinesfalls jedoch wird durch die Erfindung ein Produkt mit generellen verbesserten technischen Eigenschaften erreicht. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten angeblichen technischen Erwägungen vermag die Kammer in diesem Zusammenhang nicht zu erkennen. Die Kammer zweifelt, dass das Ziel der Anthropotechnik mit einer Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, wie in der von der Beschwerdeführerin angeführten Literatur beschrieben, hier relevant ist.

8. Auch eine explizite Ausrichtung auf ein computergestütztes Verfahren mit Anwendereingaben kann nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit beitragen. Hierzu wird auf die obenstehenden Einschätzungen im Lichte der Rechtsprechung nach T 641/00 verwiesen. Das von der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Expertenwissen, welches für anwendungsspezifische Auswertungen erforderlich sein soll, ist nicht Bestandteil von Anspruch 1 und kann den beanspruchten Gegenstand nicht technisch weiterbilden. Auch bestehen Zweifel daran, dass sich für solches Expertenwissen überhaupt eine Grundlage in den Anmeldungsunterlagen findet.

9. Somit verbleibt als Unterschied gegenüber dem als nächstliegenden Stand der Technik angesehenen herkömmlichen vernetzten Computer mit einer Datenbank lediglich die abstrakte allgemeine Idee, unterschiedliche Standards über die Datenbank kompatibel verfügbar zu machen. In der Implementierung dieser abstrakten Idee wird die objektive technische Aufgabe gesehen. Als Fachmann hierfür wird ein Programmierer mit Datenbankkenntnissen angesehen.

Die Kammer ist allerdings der Auffassung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 mit einer Computer-Implementierung lediglich eine Automatisierung erfordert. Jedoch war eine solche Implementierung der abstrakten Verfahrensschritte zur Standardisierung mittels geläufiger Programmierkenntnisse und damit ohne erfinderische Tätigkeit möglich.

10. Da der jeweilige Anspruch 1 von Hauptantrag und Hilfsantrag 1 breiter gefasst ist, trifft dies auch auf diese Anträge zu.

11. Die Kammer ist daher der Auffassung, dass bei keinem der Anträge eine erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 im Sinne von Artikel 56 EPÜ vorliegt gegenüber einem fachnotorisch bekannten vernetzten Computersystem mit einer Datenbank vor dem Hintergrund der allgemeinen Programmierkenntnisse eines EDV-Fachmanns.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Quick Navigation