European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2017:T127414.20170831 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 31 August 2017 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1274/14 | ||||||||
Anmeldenummer: | 04764668.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | C08L 33/00 C08L 33/12 C08J 5/22 C08F 220/14 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | POLYMERMISCHUNG FÜR MATTIERTE SPRITZGUSSTEILE | ||||||||
Name des Anmelders: | Evonik Röhm GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | ARKEMA FRANCE Lucite International UK Limited |
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Kammer: | 3.3.03 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Spät eingereichte Beweismittel - Verlegung der mündlichen Verhandlung wäre erforderlich gewesen (ja) Erfinderische Tätigkeit - (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerden der Einsprechenden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die am 16. April 2014 zur Post gegeben wurde und mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 675 907 zurückgewiesen worden ist.
II. Das Patent wie erteilt enthielt 23 Ansprüche. Anspruch 1 lautete wie folgt:
"1. Polymermischung, enthaltend
a) eine Polymermatrix, die aus einem (Meth)acrylat(co)polymeren oder einer Mischung von (Meth)acrylat(co)polymeren mit einer Vicaterweichungstemperatur VET (ISO 306-B50) von mindestens 104°C und/oder einem (Meth)acrylimid(co)polymeren besteht,
b) ein Schlagzähmodifizierungsmittel auf Basis von vernetzten Poly(meth)acrylaten, welches nicht kovalent an die Polymermatrix a) gebunden ist,
c) 1 bis 15 Gew.-% Kunststoffpartikel aus vernetzten Polymerisaten auf Basis des Polymethylmethacrylats, des Polystyrols und/oder Polysilikonen, mit einer mittleren Teilchengröße im Bereich von 1 bis 30 µm,
wobei a), b) und c) sich zu 100 Gew.-% addieren, wobei die Polymermischung noch übliche Zusatz, Hilfs- und/oder Füllstoffe enthalten kann und ein aus der Polymermischung spritzgegossener Probekörper gleichzeitig folgende Eigenschaften aufweist:
einen Rauhigkeitswert Rz nach DIN 4768 von mindestens 0,7 µm,
einen Glanzgrad (R 60°) nach DIN 67530 von höchstens 40, sowie eine Vicaterweichungstemperatur VET (ISO 306-B50) von mindestens 90°C."
III. Gegen die Erteilung des europäischen Patents wurden zwei Einsprüche eingelegt. Die Einsprechenden hatten den Widerruf des Streitpatents beantragt.
IV. In der Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde inter alia auf folgende Dokumente Bezug genommen:
D1: EP1022115
D2: EP0528196
V. In der angefochtenen Entscheidung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der beanspruchte Gegenstand ausführlich offenbart sei. Der beanspruchte Gegenstand sei auch neu gegenüber D1 und D2. In der allgemeinen Beschreibung von D1 fänden sich keine Angaben zur Vicaterweichungstemperatur der Polymermatrix. Darüber hinaus sei in den Zusammensetzungen von D1 das Schlagzähmodifizierungsmittel nur optional vorhanden und die Menge der Kunststoffpartikel der D1 falle nicht in den beanspruchten Bereich von 1 bis 15 Gew %. Schließlich sei in D1 kein spritzgegossener Probekörper offenbart. In D2 seien die Komponente a) und b) kovalent gebunden. Darüber hinaus sei in D2 kein spritzgegossener Probekörper erwähnt.
Gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik D1 sei der Unterschied die Verwendung einer bestimmten Menge an Kunststoffpartikeln mit einer bestimmten mittleren Teilchengröße und eines Schlagzähmodifizierungsmittels auf Basis von vernetzten Poly(meth)acrylaten, welches nicht kovalent an die Polymermatrix gebunden sei. Die dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe sei die Bereitstellung einer Polymermischung zur Verwendung im Spritzguss, wobei die erhaltenen Teile eine mattierte, angeraute Oberfläche, hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber mechanischen und/oder chemischen Einflüssen und hohe Wärmeformbeständigkeit aufwiesen. Weder in D1, noch in D2 sei ein Hinweis auf den beanspruchten Gegenstand gegeben. Anspruch 1 des Streitpatents sei demnach erfinderisch.
VI. Beide Einsprechenden (Beschwerdeführerinnen) legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.
VII. Mit Ihrer Beschwerdeerwiderung nahm die Beschwerdegegnerin unter anderem zu dem Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D1 als nächstliegendem Stand der Technik Stellung.
VIII. Am 21. Juni 2017 erging eine Mitteilung gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern. Die Kammer teilte darin ihre vorläufige Meinung zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung mit.
IX. Mit Schreiben vom 30. Juni 2017 trug die Beschwerdeführerin / Einsprechende 2 unter anderem weitere Argumente in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit vor.
X. Mit Schreiben vom 28. Juli 2017 trug die Beschwerdegegnerin unter anderem weitere Argumente in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit vor. Sie erklärte ferner, dass spritzgegossene Probekörper aus einer erfindungsgemäßen Polymermischung sowie, als Vergleich, spritzgegossene und extrudierte Probekörper des Standes der Technik zum Zweck der Einnahme des Augenscheins gemäß Artikel 117(1)(f) EPÜ in der mündlichen Verhandlung gegebenenfalls präsentiert werden würden.
XI. Die mündliche Verhandlung fand am 31. August 2017 statt.
XII. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerinnen können wie folgt zusammengefasst werden:
Zulassung der spritzgegossenen Probekörper
Die Ankündigung der Präsentation von Probekörpern erfolgte sehr spät im Beschwerdeverfahren, nämlich erst am 28. Juli 2017. Zudem sei weder mit der Eingabe vom 28. Juli 2017, noch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erläutert worden, was genau diese Probekörper repräsentierten. Eine unmittelbare Prüfung der Probekörper und gegebenenfalls deren Nachbau seitens der Beschwerdeführerinnen sei dadurch ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich. Es sei demnach nicht möglich gewesen, sich auf die Diskussion der Probekörper angemessen vorzubereiten. Die erfinderische Tätigkeit des Hauptantrages gegenüber D1 sei außerdem in der ersten Instanz vor der Einspruchsabteilung schon erörtert worden. Die Probekörper hätten demnach zu diesem Zeitpunkt gezeigt werden können und sollen. Die von der Beschwerdegegnerin mitgeführten Probekörper seien aus diesen Gründen in das Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen. Eine Verlegung der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wäre jedenfalls geboten, sollten die Probekörper zugelassen werden.
Erfinderische Tätigkeit
Ausgehend von D1 und insbesondere von der Probe FST-10 des Beispiels 5 als nächstliegendem Stand der Technik sei der Unterschied lediglich die Teilchengröße der Kunststoffpartikel. Der einzige Effekt, der mit diesem Unterschied im Streitpatent verbunden sei, sei der Glanzwert bei einem Winkel von 60° eines durch Spritzguss hergestellten Prüfkörpers zu sehen. Ein Vergleich des Beispiels 2 mit dem Vergleichbeispiel 2 zeige, dass der Effekt minimal sei. Demnach sei dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe die Herstellung von alternativen Polymermischungen. Der beanspruchte Gegenstand resultiere aus einer willkürlichen Auswahl innerhalb der Merkmale der D1. D1 befasse sich mit der Herstellung von Artikeln mit mattierten Oberflächen aus allgemeinen Polymermischungen. Neben Extrusion lehre D1 auch das Spritzgiessen der darin offenbarten Polymermischungen zur Herstellung der Artikel. Es sei auch allgemein bekannt, dass spritzgegossene Formkörper generell eine glattere Oberfläche aufwiesen als extrudierte Formkörper. Darüber hinaus weise D1 darauf hin, die Teilchengröße zu variieren, um die Rauhigkeit der Oberfläche einzustellen. In D1 seien auch Teilchengrößen von 15 bis 70 µm gelehrt. Der beanspruchte Gegenstand sei aus diesen Gründen nicht erfinderisch.
XIII. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Zulassung der spritzgegossenen Probekörper
Spritzgegossene Probekörper aus einer erfindungsgemäßen Polymermischung sowie, als Vergleich, spritzgegossene und extrudierte Probekörper nach dem Standen der Technik stünden der Kammer und der Beschwerdeführerinnen zur Verfügung. Diese Probekörper seien angeboten, um die im Streitpatent geltend gemachten Effekte zu verdeutlichen, insbesondere in Bezug auf deren Oberflächen. Diese Probekörper seien ins Verfahren zuzulassen, zumal diese die technische Lehre des Streitpatents lediglich veranschaulichen sollen. Aus verfahrensrechtlichen Gründen sei es objektiv nicht möglich gewesen, eine Begutachtung dieser Probekörper innerhalb der Frist gemäß Artikel 12 VOBK durch die Beschwerdekammer und die Beteiligten zu veranlassen.
Erfinderische Tätigkeit
D1 sei der nächstliegende Stand der Technik. Der beanspruchte Gegenstand unterscheide sich von D1 durch die kombinierte Verwendung von Kunststoffpartikeln mit einer bestimmten mittleren Teilchengröße mit Schlagzähmodifizierungsmitteln auf Basis von vernetzten Poly(meth)acrylaten, die nicht kovalent an die Polymermatrix gebunden seien. Weiterhin seien die erfindungsgemäßen Formkörper mittels Spritzguss statt mittels Extrusion hergestellt worden und die resultierenden Formkörper aufwiesen ein bestimmtes Eigenschaftsprofil (Vicaterweichungstemperatur, Glanz und Rauhigkeit). Dadurch seien Oberflächen mit feineren Körnungen und samtmatten Glanz möglich und dies obwohl eine Form mit spiegelglatter Oberfläche verwendet worden sei. Dafür sei die Verwendung der spezifischen Kunststoffpartikel in Kombination mit dem Schlagzähmodifizierungsmittel b) notwendig. Das Schlagzähmodifizierungsmittel b) bewirke eine mechanische Rückstellung der Kunststoffpartikel in der Polymermatrix, so dass sich der Mattierungseffekt einstellen könne. Voraussetzung dafür sei, dass das Schlagzähmodifizierungsmittel b) nicht kovalent an die Matrix gebunden sei.
Ausgehend von 1 sei somit die Aufgabe darin zu sehen, eine Polymermischung zur Verwendung im Spritzguss zur Verfügung zu stellen, wobei die erhaltenen Formkörper eine mattierte, angeraute Oberfläche, hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber mechanischen und/oder chemischen Einflüssen und eine hohe Wärmeformbeständigkeit aufwiesen. Die Lehre der D1 sei, strukturierte Oberflächen von Formkörper durch Extrusion zu generieren. Die Erwähnung des Spritzgussverfahrens beziehe sich in D1 nur auf die Wiederverwendung von thermoplastischen Materialen. In D1 sei vorrangig zu entnehmen, dass Spritzgiessen glatte Oberflächen verursache. Auch sei durch die Beispiele 3, 4, 5, 6 und 7 der D1 gelehrt, dass Polymermischungen aus PMMA mindestens 20 Gew.-% Kunststoffpartikel mit einem mittleren Durchmesser von mehr als 30 µm enthalten müssten. Damit führe D1 weg von der vorliegenden Erfindung. D1 enthalte außerdem keine Lehre in Bezug auf die beanspruchten Bereiche der Vicaterweichungstemperatur, des Glanzgrades und des Rauhigkeitswerts eines spritzgegossenen Probekörpers. Der Gegenstand gemäß erteiltem Anspruch 1 des Patentes sei somit nicht naheliegend. D2 sei auch nicht relevant, weil darin kein Spritzgiessverfahren beschrieben sei. Anspruch 1 beruhe aus diesen Gründen auf einer erfinderischen Tätigkeit.
XIV. Die Beschwerdeführerinnen beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 675 907.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerden zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Zulassung der spritzgegossenen Probekörper
1.1 Die Beschwerdegegnerin tat in ihrem Schreiben vom 28. Juli 2017, nämlich einen Monat vor der mündlichen Verhandlung und 3 Jahre nach den Beschwerdebegründungen der Beschwerdeführerinnen, ihre Absicht kund, "während der mündlichen Verhandlung einen spritzgegossenen Probekörper aus einer erfindungsgemäßen Polymermischung sowie, als Vergleich, spritzgegossene und extrudierte Probekörper des Standes der Technik zum Zweck der Einnahme des Augenscheins gemäß Art. 117(1) f) EPÜ zu präsentieren". Weitere darüber hinausgehende Einzelheiten über die angekündigten Probekörper und deren Vergleich waren aus dem Schreiben vom 28. Juli 2017 nicht zu entnehmen. Die Relevanz dieses Vergleichs für die Frage der erfinderischen Tätigkeit ist aus diesem Grund sowohl der Kammer als auch den Beschwerdeführerinnen bis zur mündlichen Verhandlung verborgen geblieben.
1.2 Die Beschwerdeführerinnen rügten den Vergleich und die Probekörper als verspätet und beantragten, sie nicht ins Verfahren zuzulassen.
1.3 Hinsichtlich der Verspätung des angekündigten Vergleichs verwies die Beschwerdegegnerin im Schreiben vom 28. Juli 2017 auf "verfahrensrechtliche Gründe" die es objektiv nicht möglich gemacht hätten, eine Begutachtung der hergestellten Probekörper innerhalb der Frist gemäß der Verfahrensordnung der Beschwerdekammer durch die Beschwerdeführerinnen zu veranlassen. Welche verfahrensrechtliche Gründe genau gemeint waren, war dem Schreiben nicht zu entnehmen. Die Beschwerdegegnerin machte lediglich während der mündlichen Verhandlung geltend, dass die mündliche Verhandlung vor der Kammer den frühest möglichen Zeitpunkt für die Einreichung der angekündigten Probekörper darstellte. Allerdings war der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 der Beschwerdegegnerin schon seit Anfang des Einspruchsverfahrens bekannt. Der Einwand war schon im Einspruchsschriftsatz der Einsprechenden 2 (Absätze 5.10 und 5.13 in Bezug auf EP 1 022 115 dort als D2 genannt) und wurde in der Begründung der angefochtenen Entscheidung (Seiten 7 und 8) und letztendlich in der Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin / Einsprechende 2 (Absätze 5.2 bis 5.12) wiederholt.
1.4 Entsprechend der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern liegen dem Beschwerdeverfahren die Beschwerdebegründung sowie die Erwiderung darauf zugrunde (Artikel 12(1) VOBK). Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen dabei den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten (Artikel 12(2) VOBK). Sie sollen neben allen Tatsachen, Argumenten und Beweismitteln auch alle Anträge enthalten. Der für das Beschwerdeverfahren maßgebende Streitstoff ergibt sich mithin aus der Beschwerdebegründung und der Erwiderung.
1.5 Nachträgliche Änderungen des Vorbringens sind nicht gänzlich ausgeschlossen. Doch stellt die Verfahrensordnung die Zulassung von Änderungen des Vorbringens nach Einreichung der Beschwerdebegründung und der Erwiderung ausdrücklich in das Ermessen der Kammern (Artikel 13(1) VOBK). Nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung sind Änderungen des Vorbringens indes nicht mehr zuzulassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist (Artikel 13(3) VOBK). Die Kammern lassen im Allgemeinen Änderungen zu, wenn sie in Erwiderung auf Einwände erfolgen oder wenn Beweismittel eingereicht werden, die nicht Teil der angefochtenen Entscheidung sind, sondern erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht wurden, und sie zeitnah als Reaktion darauf eingereicht werden.
1.6 Die Kammer erkennt aus dem Beschwerdeverfahren keine neue Wendung, die neue Versuche oder Probekörper rechtfertigen würden. Der Ladungsbescheid der Kammer vom 21. Juni 2017 fasste lediglich die in der mündlichen Verhandlung zu diskutierenden Punkte zusammen, die sich aus der angefochtenen Entscheidung, den Beschwerdebegründungen und Beschwerdeerwiderung der Beteiligten ergaben. Somit kann der Ladungsbescheid nicht als ein Anlass für die nachträgliche Einreichung von Probekörpern gesehen werden. Es wurde von der Beschwerdegegnerin auch nicht angeführt, dass die Einreichung der Probekörper als Reaktion auf die Eingabe der Beschwerdeführerin / Einsprechende 2 vom 30. Juni 2017 erfolgte.
1.7 Somit hätte die Beschwerdegegnerin auch ausreichend Zeit gehabt, etwaige Beweismittel zur Veranschaulichung der technischen Lehre des Streitpatents vorzubereiten und entsprechend rechtzeitig einzureichen, soweit solche aus ihrer Sicht notwendig waren. Dies wäre im Hinblick auf die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren, das die Parteien verpflichtet, alle Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge so frühzeitig und vollständig wie möglich einzureichen, und auch aus Gründen der Fairness gegenüber den Beschwerdeführerinnen, geboten gewesen. Hinsichtlich der unzureichenden Beschreibung der Probekörper sowie des unspezifischen Gegenstandes des angekündigten Vergleichs mit dem Stand der Technik, der erst am Tage der mündlichen Verhandlung hätte aufgeklärt werden können, ist die Kammer der Auffassung, dass die Vorbereitung der Beschwerdeführerinnen ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung unangemessen erschwert würde.
1.8 Die Kammer hält es deshalb für angemessen, ihr Ermessen gemäß Artikel 13(1) und (3) VOBK so auszuüben, dass die Probekörper, erstmals angekündigt mit Schreiben vom 28. Juli 2017, nicht zugelassen werden.
2. Erfinderische Tätigkeit
2.1 D1 wurde in der Entscheidung der Einspruchsabteilung als nächstliegender Stand der Technik gesehen. Die Parteien im Beschwerdeverfahren sahen insbesondere das Beispiel 5 der D1 als nächstliegenden Stand der Technik. Die Kammer sieht keinen Grund, von dieser Auswahl abzuweichen.
2.2 D1 betrifft polymerische Gegenstände, welche eine strukturierte Oberfläche und ein mattiertes bzw. mattes Aussehen aufweisen, und Harze zur Herstellung dieser Gegenstände (Absatz 1). D1 offenbart insbesondere extrudierte polymerische Gegenstände, umfassend eine Polymermatrix und Kunststoffpartikel, die im wesentlichen kugelförmig und stark vernetzt sind und eine mittlere Teilchengröße von 15 bis 70 mym und eine Teilchengrößeverteilung zwischen 10 und 110 mym besitzen, wobei der Gegenstand eine mattierte und/oder eine strukturierte Oberflächenbeschaffenheit aufweist (Anspruch 1).
2.3 Das Beispiel 5 der D1 offenbart Polymermischungen auf Basis einer modifizierten PMMA-Polymermatrix und Kunststoffpartikeln aus vernetztem Styrol/Methylmethacrylat/Allylmethacrylat mit einer mittleren Teilchengröße von 48 mym (Seite 12, Zeile 45) und in Mengen von 5, 10, 15 und 20 Gew.-% in der Polymermischung (Tabelle, Absatz 80). Unbestritten war, dass die Teilchengröße der Kunststoffpartikel im Beispiel 5 (48 mym) außerhalb des beanspruchten Bereichs von 1 bis 30 mym liegt.
2.4 In diesem Beispiel sind die Vicaterweichungstemperatur der eingesetzten Polymermatrix sowie eines aus der Polymermischung erhaltenen spritzgegossenen Probekörpers nicht offenbart. Das Beispiel 5 beschreibt auch die Herstellung von extrudierten sowie spritzgegossenen Probekörper, wobei die extrudierte Probekörper zur Bestimmung der Oberflächenrauhigkeit dienten und die spritzgegossene Probekörper zur Messung der Lichttransmission und der mechanischen Eigenschaften dienten (Absatz 80). In D1 wurde somit die Rauhigkeit und den Glanz der Oberflächen nicht auf einem spritzgegossenen Probekörper gemessen, wie in Anspruch 1 des Streitpatents verlangt wird, sondern auf einem extrudierten Probekörper. In Bezug auf die Eigenschaften eines aus der beanspruchten Polymermischung spritzgegossenen Probekörpers ist demnach ein unmittelbarer Vergleich zwischen der beanspruchten Polymermischung und einer gemäß D1 nicht vorhanden. Damit ist nicht bekannt, ob die Vicaterweichungstemperatur der eingesetzten Polymermatrix und die drei anspruchsgemäßen Eigenschaften eines aus der beanspruchten Polymermischung spritzgegossenen Probekörpers weitere Unterscheidungsmerkmale darstellen.
2.5 Das Streitpatent selbst enthält vier Beispiele und zwei Vergleichsbeispiele, die in den Tabellen 1 und 2 auf Seite 18 zusammengefasst sind. In diesen Beispielen und Vergleichsbeispielen sind Mischungen von (Meth)acrylat(co)polymeren beschrieben, die aus den Komponenten d), e) und f) bestehen, wobei die Komponente e) ein Schlagzähmodifizierungsmittel auf Basis von vernetzten Poly(meth)acrylaten ist, welches nicht kovalent an die Matrix gebunden ist und demnach der Komponente b) der erfindungsgemäßen Polymermischung entspricht und wobei die Komponenten d) und f) die Polymermatrix a) entsprechen. Die Tabelle 1 fasst die Komponenten und deren Mengen in den Polymermischungen zusammen.
2.6 Abgesehen von der Polymermischung des Beispiels 4, wofür die Menge der Komponenten d), e) und f) in der Tabelle 1 nicht angegeben ist, basieren sonst alle anderen Polymermischungen der Beispiele 1-3 und Vergleichsbeispiele 1-2 gleichermaßen auf derselben Zusammensetzung an Polymermatrix und Schlagzähmodifizierungsmittel. Für diese Polymermischungen wurden allerdings unterschiedliche Mattierungsmittel, beziehungsweise Kunststoffpartikel c), eingesetzt.
2.7 Die Beispiele 1-3 sind gemäß Anspruch 1 des Streitpatents. Die Polymermischungen enthalten Kunststoffpartikeln mit Teilchengrößen von 7 µm (Partikel aus vernetztem Styrol-/Butylacrylat- Copolymerisat, Mattierungsmittel 1, Beispiele 1 und 2) und 20 µm (Perlpolymerisat aus vernetztem Polymer, hauptsächlich Methylmethacrylat und Benzylmethacrylat, Mattierungsmittel 2, Beispiel 3).
2.8 Im Vergleichsbeispiel 1 wurde allerdings kein Mattierungsmittel verwendet und im Vergleichsbeispiel 2 wurden 45 µm große Partikeln eines Perlpolymerisats aus einem vernetzten Methylmethacrylat-/Styrol- Copolymerisat (Mattierungsmittel 3) verwendet. Dieses Mattierungsmittel ist auf Grund seiner Teilchengröße (45 µm) nicht gemäß Anspruch 1 des Streitpatents (1-30 µm). Das Vergleichsbeispiel 2 des Streitpatent ist allerdings dem Beispiel 5 der D1 am ähnlichsten, denn die Teilchengrößen der eingesetzten Kunststoffpartikel (45 µm vs. 48 µm) in beiden Polymermischungen vergleichbar sind.
2.9 Die Polymermischungen der Beispiele 2 und 3 und des Vergleichsbeispiels 2 basieren auf vergleichbaren Mengen der Polymermatrix, Schlagzähmodifizierungsmittel und Kunststoffpartikel (Beispiele 2, 3: 11,11 Gew.-% an Kunststoffpartikeln und Vergleichsbeispiel 2: 13,63 Gew.-% an Kunststoffpartikeln) und unterscheiden sich hauptsächlich durch die Teilchengröße der Kunststoffpartikel (7 µm in Beispiel 2, 20 µm in Beispiel 3 und 45 µm in Vergleichbeispiel 2). Dazu kommen weiteren Zusatzstoffen zur Einfärbung der Mischungen (Absatz 140). Diese Polymermischungen werden dann mittels Extruder abgemischt (Absatz 137), bevor sie zu Prüfkörpern spritzgegossen wurden (Absatz 138). Glanz, Rauhigkeit, eine visuelle Beurteilung der Spritzgussplatten sowie die mechanische Eigenschaften, die Wärmeformbeständigkeit und die Rheologie wurden anhand dieser spritzgegossenen Prüfkörper bestimmt.
2.10 Die Ergebnisse dieser Messungen zeigen (Tabelle 2, auch Seite 17, Zeilen 49-52), dass die erfindungsgemäßen Prüfkörper (Beispiele 2 und 3) einen niedrigeren Glanzgrad R(60°) (Beispiele 2 und 3 jeweils 31 und 35,5) und eine feinere Oberfläche (Beispiele 2 und 3 jeweils samtmatt und fein gekörnt) aufweisen, als diejenigen gemäß Vergleichsbeispiel 2 (Glanz R(60°) von 42,3 und eine grob gekörnte Oberfläche).
2.11 Allerdings weisen alle Prüfkörper der Beispielen 2 und 3 sowie des Vergleichsbeispiels 2 eine ähnlich gute Widerstandsfähigkeit (Schlagzähigkeit Charpy, E-Modul, VST (Minivicat B), Viskosität, Strangaufweitung B und Schmelzindex (MVR)). Auch die Vicaterweichungstemperatur (110°C, 114°C und 115°C) und die Rauhigkeitswerte Rz (1,17 mym, 1,28 mym und 1,03 mym) aller Prüfkörpern sind gemäß Anspruch 1 des Streitpatents (mindestens 90°C und mindestens 0,7 mym). Einen Effekt der Vicaterweichungstemperatur der Polymermatrix kann auch nicht festgestellt werden, da dieser Parameter in keinem der Beispiele erfasst wurde.
2.12 Bei der Formulierung der zu lösenden Aufgabe können nur die Effekte berücksichtigt werden, die in den zur Verfügung stehenden Daten tatsächlich belegt wurden. Daraus folgt, dass die ausgehend vom Beispiel 5 der D1 zu formulierende Aufgabe die Bereitstellung von Polymermischungen ist, die geeignet für die Herstellung von Spritzgussteilen mit guten optischen Eigenschaften sind. Die Lösung dieser Aufgabe ist die im Anspruch 1 des Streitpatents definierte Polymermischung enthaltend Kunststoffpartikel aus vernetzten Polymerisaten auf Basis des Polymethylmethacrylats, des Polystyrols und/oder Polysilikonen, mit einer mittleren Teilchengröße im Bereich von 1 bis 30 µm.
2.13 Die entscheidende Frage für die erfinderische Tätigkeit ist dann, ob es für den Fachmann naheliegend war, Kunststoffpartikel mit einer mittleren Teilchengröße im Bereich von 1 bis 30 µm in den nach D1 hergestellten Polymermischungen zu verwenden, um Polymermischungen mit guten optischen Eigenschaften herzustellen.
2.14 D1 betrifft vornehmlich extrudierte polymerische Gegenstände, wobei die Gegenstände eine mattierte und/oder strukturierte Oberflächenbeschaffenheit aufweisen (Anspruch 1). Gemäß D1 können aber diese Gegenstände auch später spritzgegossen werden, um das gewünschte Aussehen zu erhalten (D1, Absätze 6 und 44). D1 deutet demnach schon auf die mögliche Herstellung von Spritzgussteilen mit mattierter und/oder strukturierter Oberflächenbeschaffenheit hin, auch wenn diese aus extrudierten Gegenständen gewonnen werden. Dies ist im Grunde auch im Streitpatent der Fall, da die Polymermischungen gemäß Streitpatent durch Schmelzen und Vermengen der Einzelkomponenten im Schmelzezustand zu Formmassen in einem Extruder weiterverarbeitet werden können (Absatz 93).
2.15 In den Beispielen des Streitpatents wurden die Polymermischungen auch zu Formmassen extrudiert, bevor diese zur Herstellung von Spritzgussteilen verwendet wurden (Absatz 137). Somit ist die Lehre der D1 in Bezug auf die Verarbeitung von Polymermischungen zur Formteilen mit mattierter und/oder strukturierter Oberflächenbeschaffenheit für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Streitpatents relevant. Darüber hinaus besteht gemäß D1 (Absatz 11) der Zweck der vernetzten Kunststoffpartikel darin, den thermoplastischen Zusammensetzungen eine strukturierte Oberfläche und ein mattiertes Aussehen zu verleihen, wobei die Oberflächenstruktur durch den Vernetzungsgrad und die mittlere Teilchengröße der Kunststoffpartikel kontrolliert bzw. gesteuert wird. Dies ist auch insofern für das Streitpatent relevant, als die dem Fachmann gestellte Frage den Einfluss der mittleren Teilchengröße der Kunststoffpartikel auf das mattierte Aussehen und Strukturierung der Oberflächen von Spritzgussteilen betrifft.
2.16 In D1 wird eine Oberfläche als matt bezeichnet, wenn ihrer Opazität über einen Wert von 10% liegt (Absatz 50). Dies ist in Beispiel 5 der Fall aller spritzgegossenen Prüfkörper FST-5, FST-10, FST-15 und FST-20 (Tabelle, Absatz 82). Darüber hinaus weisen alle extrudierten Prüfkörper FST-5, FST-10, FST-15 und FST-20 des Beispiels 5 eine strukturierte Oberfläche da ihre Oberflächerauhigkeit gemäß Absatz 48 über 0,5 mym liegt. Auch wenn in D1 darauf hingewiesen wird, dass die Probe FST-20, der 20 Gew.-% Kunststoffpartikel enthält, das beste Aussehen und die strukturierteste Oberfläche besitzt, entsprechen dennoch alle Probekörper FST-5, FST-10 und FST-15 der Lehre der D1.
2.17 D1 lehrt die Verwendung von Kunststoffpartikeln als Mattierungsmittel mit einer mittleren Teilchengröße von 15 bis 70 mym (Absatz 7, Anspruch 1). D1 lehrt auch, dass die Strukturierung der Oberfläche von der mittleren Teilchengröße der Kunststoffpartikel abhängt (Absatz 11). Ausgehend von den Probekörpern FST-5, FST-10 oder FST-15 des Beispiels 5 der D1, die alle ein mattiertes Aussehen und eine strukturierte Oberfläche aufweisen, ist deshalb durch die Lehre von D1 selbst die Veränderung der Teilchengröße von 48 mym auf einen Wert in einem Bereich von 15 bis 70 mym, der den beanspruchten Bereich von 1 bis 30 mym überlappt, um spritzgegossenen Probekörpern gute optische Eigenschaften zu verleihen, als naheliegend zu betrachten.
2.18 Aus den Ausführungen der Beschwerdeführerin / Einsprechenden 2 (Beschwerdebegründung, Seite 7, Absatz 4.9) und der Beschwerdegegnerin (Schreiben vom 28. Juli 2017, Seite 9, vierter Absatz und Seite 14, vorletzter Absatz) entnimmt die Beschwerdekammer, dass Polymermatrizen mit einer Vicaterweichungstemperatur von mindestens 104°C üblich sind und sogar als hochwärmeformbeständige Polymermatrizen dem Fachmann kommerziell zur Verfügung stehen. Die Beschwerdegegnerin machte im Schreiben vom 28. Juli 2017 geltend (Seite 14, vorletzter Absatz), dass sich der Mattierungseffekt trotz Verwendung einer hochwärmeformbeständigen Polymermatrix (VET>104°C) ohne äußere mechanische Einflüsse einstellen kann. Dies ist jedenfalls durch die zur Verfügung stehenden Daten nicht belegt. Deshalb kann nicht geschlossen werden, dass ein Wert von mindestens 104°C zur Lösung der gestellten Aufgabe in erfinderischer Weise beiträgt und unüblich ist.
2.19 In Bezug auf den Rauhigkeitswert Rz von mindestens 0,7 µm, den Glanzgrad (R 60°) von höchstens 40, sowie die Vicaterweichungstemperatur VET von mindestens 90°C eines aus der beanspruchten Polymermatrix spritzgegossenen Prüfkörpers zeigen die Beispiele des Streitpatents, dass diese drei Bedingungen von allen Probekörpern gleichzeitig erfüllt werden, die Kunststoffpartikel mit Teilchengröße im beanspruchten Bereich von 1 bis 30 µm haben. Es wurde weiter nicht gezeigt, dass die Erfüllung dieser Bedingungen zur Lösung der gestellten Aufgabe wesentlich wäre, noch dass diese Werte unüblich sind.
2.20 Somit ist der Gegenstand des Hauptantrages gegenüber D1 nahegelegt und nicht erfinderisch. Da dem beanspruchten Gegenstand die erfinderische Tätigkeit fehlt, ist das Patent schon aus diesem Grund zu widerrufen und die Erörterung der weiteren gegen das Patent erhobenen Einwände für die vorliegende Entscheidung nicht erforderlich.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Europäische Patent Nr. 1 675 907 wird widerrufen.