European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2017:T111914.20171025 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 25 October 2017 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1119/14 | ||||||||
Anmeldenummer: | 08164813.1 | ||||||||
IPC-Klasse: | B60J 5/06 E05D 15/10 B61D 19/00 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Schwenkschiebetürsystem | ||||||||
Name des Anmelders: | TER GmbH Komponenten für Aufzüge und Verkehrsmittel | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Gebr. Bode GmbH & Co. KG | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein) Spät eingereichte Hilfsanträge 1 bis 4 Spät eingereichte Hilfsanträge - Rechtfertigung für späte Vorlage, Verfahrensökonomie (nein) Hilfsantrag 11 - unzulässige Zwischenverallgemeinerung (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 2 039 549 Beschwerde eingelegt.
II. Gegen das vorliegende Patent wurde Einspruch eingelegt aufgrund des Einspruchsgrunds der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gemäß Artikel 100 a) EPÜ. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 unter anderem erfinderisch gegenüber dem Dokument DE 199 46 501 A1 (P1) und dem Fachwissen sei.
III. Mit der Beschwerdeerwiderung vom 8. Dezember 2014 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 5 ein.
IV. Die Parteien wurden mit Mitteilung vom 20. März 2017 zu einer mündlichen Verhandlung geladen.
V. Die Beschwerdeführerin nahm mit Schreiben vom 8. Mai 2017 Stellung zu der Beschwerdeerwiderung und den Hilfsanträgen 1 bis 5. Daraufhin reichte die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 25. September 2017, eingegangen am 26. September 2017, in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung neue Hilfsanträge 1 bis 11 ein. Zeitgleich erging am 25. September 2017 eine Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536).
VI. Zwei Tage vor dem für die mündliche Verhandlung angesetzten Termin reichte die Beschwerdegegnerin am 23. Oktober 2017 Hilfsanträge 1 bis 4 ein.
VII. Am 25. Oktober 2017 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 und 2, eingereicht während der mündlichen Verhandlung, oder eines der mit Schreiben vom 23. Oktober 2017 eingereichten Hilfsanträge 3 und 4, oder des mit Schreiben vom 25. September 2017 eingereichten Hilfsantrags 11 aufrechtzuerhalten. Alle anderen Anträge nahm die Beschwerdegegnerin zurück.
VIII. Anspruch 1 wie erteilt lautet in der Merkmalsgliederung der angefochtenen Entscheidung:
1) Schwenkschiebetürsystem (1) eines Fahrzeugs, insbesondere eines Personenbeförderungsfahrzeugs,
2) mit zumindest einem an einer horizontalen Tragstange (7) einer Lagereinheit (9) verschiebbar gelagerten Türflügel (2, 3),
3) der zum Öffnen aus einer Türöffnung (4) ausfahrbar und in seiner Offenstellung an einer Außenwand (8) des Fahrzeugs längs verschiebbar ist und in Bewegungsumkehr die Türöffnung (4) wieder verschließt,
4) wobei die Lagereinheit (9) senkrecht zur Verschieberichtung des zumindest einen Türflügels (2, 3) aus- und einfahrbar ist und
5) eine zur Tragstange (7) parallele Riegelwelle (32), die über ein Koppelgetriebe die Lagereinheit (9) aus- und einfährt, und
6) einen elektrischen Getriebemotor (33) aufweist, der mit der Riegelwelle (32) verbunden ist und diese rotatorisch antreibt,dadurch gekennzeichnet, dass
7) die Lagereinheit (9) und die Tragstange (7) oberhalb der Türöffnung (4) in den Fahrzeuginnenraum zurückversetzt angeordnet sind und
8) der zumindest eine Türflügel (2, 3) mit der Tragstange (7) über eine winkelförmige Vertikalhalterung (14, 15) verbunden ist.
Im Oberbegriff des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 1 bis 2 wurde folgendes Merkmal aufgenommen [eine aus den Figuren abgeleitete Ergänzung gemäß Hilfsantrag 3 und 4 ist in Fettdruck in eckige Klammern gesetzt]:
6a) sowie eine drehbar in zwei sich gegenüberliegenden Seitenwangen (10, 11) gelagerte Gewindespindel (27) umfasst, die parallel zu [und neben] der Riegelwelle (32) angeordnet ist,
Die für die nachfolgende Diskussion relevante Änderung im kennzeichnenden Teil der Ansprüche 1 gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 4 besteht darin, dass als weiteres Merkmal vor Merkmal 7) eingefügt wurde, dass "die Lagereinheit (9) nur eine Tragstange (7) umfasst" und Merkmal 8) ersetzt wurde durch folgendes Merkmal
8') zwei Türflügel (2, 3) mit der Tragstange (7) über jeweils eine winkelförmige Vertikalhalterung (14, 15) verbunden sind, die jeweils mit einem der Rohrabschnitte (16, 17) verbunden ist
In Hilfsantrag 11 wurde der Oberbegriff des erteilten Anspruchs 1 unverändert übernommen. Der kennzeichnende Teil wurde wie folgt geändert (gegenüber dem erteilten Anspruch 1 hinzugefügte Merkmale sind durch Unterstreichen - aus der Beschreibung entnommene Merkmale zusätzlich durch Fettdruck - gekennzeichnet, gestrichene Merkmale durch Durchstreichen):
[deleted: dadurch gekennzeichnet, dass] wobei die Lagereinheit (9) nur eine Tragstange (7) umfasst,
7) wobei die Lagereinheit (9) und die Tragstange (7) oberhalb der Türöffnung (4) in den Fahrzeuginnenraum zurückversetzt angeordnet sind und
8) der zumindest eine Türflügel (2, 3) mit der Tragstange (7) über eine winkelförmige Vertikalhalterung (14, 15) verbunden ist, die mit einem Rohrabschnitt (16, 17) verbunden ist, und wobei ein an dem zumindest einen Türflügel (2, 3) befestigter Verbindungsflansch (12, 13), die Vertikalhalterung (14, 15), ein Rohrabschnitt (16, 17), eine an dem Verbindungsarm (30, 31) angebrachte Spindelmutter (28, 29) und eine Halterung (46, 47), in der eine Führungsrolle drehbar gelagert ist, einstückig, vorzugsweise als ein Gussteil, ausgebildet sind und wobei der zumindest eine Türflügel (2, 3) eine Halterung mit einer als der Rohrabschnitt (16, 17) ausgebildeten Kugellängsführung aufweist, wobei die Kugellängsführung an der Tragstange (7) verschiebbar gelagert ist und in Schließstellung des zumindest einen Türflügels (2, 3) der Rohrabschnitt (16, 17) im Wesentlichen mit einer Schließkante (18, 19) des Türflügels (2, 3) bündig abschließt.
IX. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei unstrittig neu, jedoch sei die Einspruchsabteilung von einem Fachmann ausgegangen, der offensichtliche Lösungen eines Problems nicht in Erwägung ziehen würde, weil es auch andere Lösungen gegeben hätte und/oder ihn bestimmte technische Gegebenheiten im Stand der Technik von der Anwendung dieser Lösungen abhalten würden. Bei dem zu berücksichtigenden Fachmann handele es sich jedoch um eine erfahrene Person der Praxis auf dem Gebiet der Schwenkschiebetürsysteme für Fahrzeuge der Personenbeförderung mit durchschnittlichen Kenntnissen und Fähigkeiten. Zu seinem Fachwissen gehöre die Umsetzung der Grundfunktion einer Schwenkschiebetür (Aufhängung, Antrieb, Führung, Verriegelung), ohne dass ein- und aussteigende Fahrgäste behindert oder verletzt würden. Antrieb und Verriegelung seien oftmals vom Fahrzeughersteller vorgegeben. Die Komponenten müssten zwar geeignet miteinander interagieren und seien typischerweise kompakt in einer Lagereinheit im oberen Bereich der Türöffnung unterzubringen. Es gehöre jedoch zu den üblichen Aufgaben des Fachmanns, dieses Problem durch eine geeignete Dimensionierung und Anordnung von Komponenten zu lösen, solange keine technischen Gründe oder Platzvorgaben dagegen sprächen.
Schwenktürsysteme mit den Merkmalen des Oberbegriffs seien aus P1 bekannt (Absatz [003] des Streitpatents). Nachteilig bei P1 sei die innerhalb der (zum Ein- und Aussteigen vorgesehenen) Türöffnung angeordnete Lagereinheit, was bei der Dimensionierung der Höhe der Türöffnung zu berücksichtigen sei. Dieses Problem solle durch die kennzeichnenden Merkmale des Anspruchs 1 gelöst werden. Ein solches Schwenkschiebetürsystem sei gegenüber P1 und dem Fachwissen als naheliegend anzusehen:
Die Lagereinheit in P1 sei bezüglich der Seitenwand bereits zurückversetzt. Eine winkelförmige Halterung der Türflügel bedeute nichts anderes als dass ein Winkel zwischen beiden Enden vorliege (wie in P1, da auch dort die Halterung einen Höhenunterschied zwischen Türflansch und Tragstange zu überbrücken habe). Der einzige Unterschied des Gegenstands von Anspruch 1 gegenüber P1 sei also die Anordnung von Lagereinheit und Tragstange oberhalb der Türöffnung. Damit werde allenfalls ein ästhetischer Vorteil erreicht. Außerdem ermögliche dies eine kleinere Dimensionierung der Türöffnung, also eines von der Größe der Personen abhängigen, gegebenen Parameters. Dies sei bereits Motivation genug für den Fachmann, die Lagereinheit und Tragstange nach oben zu versetzten. Es sei für den Gegenstand von Anspruch 1 unbeachtlich, ob ausreichend Raum oberhalb der Türöffnung vorhanden sei oder nicht. Die Lagereinheit der P1 mit zwei übereinander liegenden Tragstangen baue nicht kompakt (siehe Absatz [0004] und [0009] des Streitpatents), aber wie eine geringere Bauhöhe erreicht werden solle sei nicht beansprucht.
Eine Vergrößerung der Türöffnung selbst sei keine Lösung der Aufgabe der Erfindung. Der Antrieb müsse bei einer Versetzung nach oben und nach innen im Vergleich zur Anordnung der P1 keine größeren Kräfte in dem Maße aufnehmen, dass der Fachmann davon abgehalten würde. Das Gewicht der Tür hänge bei P1 über den jeweiligen Rohrabschnitt an der Tragstange, wobei die Tür typischerweise zusätzlich an ihrer Unterseite in einer Führungsschiene abgestützt werde. Das Basisblech könne beim Zurückversetzen von Lagereinheit und Tragstange zwar nicht mehr den Türrahmen bilden und müsse woanders angeordnet werden, was aber ohne erfinderische Tätigkeit durchführbar sei, indem z. B. das Basisblech als separates Bauteil über ein Trägerelement an der Innenseite der Außenwand angebracht werde (entsprechend Figur 3 des Streitpatents). Es gehöre zu den üblichen Problemstellungen des Fachmanns, Haltewinkel oder Haltebleche an einer Schwenkschiebetür so zu gestalten (z. B. umzubiegen, anzuschrauben, anzuschweißen), dass sie daran angebrachte Komponenten in eine bestimmte Position brächten. Gerade oder gebogene Vertikalhalterungen seien möglich, aber kein Argument gegen das Naheliegen einer winkelförmigen Vertikalhalterung.
Die nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 seien zurückzuweisen, da sie eine puzzleförmige Zusammenstellung eines neuen Anspruchsgegenstandes darstellten, der nicht auf erteilten Ansprüchen beruhe. Die Beschwerdegegnerin hätte genug Zeit gehabt, das Merkmal eines zweiflügeligen Schwenkschiebetürsystems in Anspruch 1 aufzunehmen, habe diese Möglichkeit jedoch bei Einreichung von 11 Hilfsanträgen am 26. September 2017 nicht wahrgenommen. Zudem sei im Oberbegriff nur das zusätzliche Merkmal des allein auf Anspruch 7 rückbezogenen erteilten Anspruchs 9 (ohne die Merkmale des Anspruchs 7) aufgenommen worden.
Eine Vorbereitung auf die Vielzahl der eingereichten Hilfsanträge sei nicht zumutbar, insbesondere wenn sie wie Hilfsantrag 11 erst einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden. Die Beschwerdegegnerin habe auch nicht angegeben, worauf sich Hilfsantrag 11 beziehe. Es sei zudem ein bekannter Sachverhalt, dass der erteilte Anspruch 1 nicht auf "nur eine Tragstange" eingeschränkt sei.
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 11 sei unzulässig erweitert, da er Unteransprüche mit einzeln aus der Beschreibung herausgepickten Merkmalen kombiniere. Das Merkmal nur einer Tragstange sei nur in Kombination mit zwei Türflügeln offenbart (siehe Figur 2 als Grundlage für die Ausführungsformen sowie Spalte 5, Zeilen 1 bis 13). Die drehbar gelagerte Führungsrolle sei auch nur zusammen mit weiteren Merkmalen offenbart.
X. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin kann wie folgt zusammengefasst werden:
Das aus P1 bekannte Schwenkschiebetürsystem sei in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen verdeckten die Tragstangen einen Teil der Türöffnung, zum anderen beginne bei Straßenbahnen oberhalb der Türöffnung der abgeschrägte Dachbereich mit wenig Raum, um Komponenten unterzubringen. Es bestehe das Bedürfnis, eine Lagereinheit eines Schwenkschiebetürsystems mit geringer Bauhöhe zu schaffen, so dass sie problemlos auch bei oberhalb der Türöffnung abgeschrägten Fahrzeugseitenwänden befestigbar sei. Der Fachmann sehe aber keine Veranlassung, das voll funktionsfähige Schwenkschiebetürsystem aus P1 zu ändern.
P1 zeige keine "winkelförmige Vertikalhalterung", sondern nur schräg (nicht winklig) verlaufende Halterungen, so dass der Fachmann ohne weitere Anleitung keine Veränderung in Angriff nehmen würde. Mit "Vertikalhalterung" sei eine winklige Halterung mit deutlicher Erstreckung in vertikaler Richtung gemeint (keine Halterung, die nur vertikale Kräfte übertrage). Außerdem sei die Lagereinheit in P1 integraler Bestandteil der Seitenwand und damit nicht im Sinne des Streitpatents "in den Fahrzeuginnenraum zurückversetzt angeordnet", d. h. an die Fahrzeuginnenwand angelehnt.
Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheide sich vom Offenbarungsgehalt der P1 in den kennzeichnenden Merkmalen 7) und 8), die zwei Teilaufgaben lösten. Ein Schwenkschiebetürsystem sei so auszubilden, dass der nutzbare Bereich der Türöffnung verbessert sei, und zwar auch bei oberhalb der Türöffnung abgeschrägten Seitenflächen des Fahrzeugs (die Vertikalhalterung bewirke, dass man nach oben gehen könne). Die oben genannten Probleme blieben beherrschbar, wenn nur eine Tragstange verwendet und diese nach oben versetzt angeordnet werde, also bei kompakter Bauweise der Lagereinheit, und bei Anbindung über eine winkelförmige Vertikalhalterung. Dies sei für den Fachmann nicht nahegelegt. Weder ein teilweises Anheben der Anordnung aus P1 noch ein Zurückversetzen allein führe zu einem Vorteil, sondern erst die Kombination führe zu einer kompakteren Bauart und dem Vorteil, dass zweiflügelige Türen an einer einzigen Tragstange gelagert werden könnten. Für den Fachmann gebe es nicht nur eine naheliegende Möglichkeit - Merkmale 7) und 8) - zur Lösung der Aufgabe, die ein Fachmann als die einzige mögliche Lösung in Erwägung ziehen würde.
Es sei zwar keine Option für den Fachmann, die Größe der Türöffnung zu verändern, da diese den maximalen Ausschnitt bei Bahnen und Bussen darstelle. Er könne aber anstelle der an sich ausfahrbar gestalteten Lagereinheit aus P1 die Halterung des Türflügels als ausschwenkbaren Hebel ausbilden. Führungen für die Türe könnten dann auf der Außenfläche des Fahrzeugs vorgesehen sein oder beim Aufschwenken der Türe an der Türe vorgesehene Führungen mit der Türe nach außen schwenken. Eine weitere Möglichkeit bestehe darin, die gesamte Lager- und Antriebseinheit außerhalb der Türöffnung anzuordnen, z. B. unterhalb der Türöffnung und nicht aus der Fahrzeugkontur hervorstehend. Bei Anordnung unterhalb einer Bodenfläche bestünde für den Fachmann zudem keine Veranlassung, die Lagereinheit auch noch in den Innenraum zurückversetzt anzuordnen und von den aus P1 bekannten nicht-winkelförmigen Halterungen abzuweichen.
Schließlich könne die Dachwölbung des Fahrzeugs erhöht werden, was ein Versetzen der Lagereinheit nach oben ermögliche. Dies würde aber eine Verkomplizierung bedeuten, da eine andere Halterung der Türflügel erforderlich sei und andere mechanische Verhältnisse bei der Längsführung der Türflügel während des Schließens vorlägen. Der Fachmann werde abgehalten, die aus P1 bekannte Lagereinheit "einfach" nach oben oberhalb einer Türöffnung zu versetzen, da die Verbindung zu der Türflügelhalterung dann gegen die oberhalb der Türöffnung befindliche Außenwand stoßen würde. Die längeren Hebelarme aufgrund des vergrößerten Abstands zwischen der Türhalterung und der Tragstange seien problematisch, da damit größere Kräfte auf die Lager- und Antriebseinheit einwirkten und insbesondere einen größeren Einfluss auf die Kugellängsführung der Rohrabschnitte ausübten, mit denen die Türflügel verschiebbar auf den Tragstangen gelagert seien. Im Falle einer Kugellängsführung mit Drehmomentübertragung wirkten größere Kräfte auf die Kugeln, so dass die Bewegung in Längsrichtung stärker gebremst würde, was größere Kräfte für die Längsführung erfordere. Bei einer Kugellängsführung ohne Drehmomentübertragung wirke ein größeres Drehmoment auf den Rohrabschnitt und belaste damit die Gewindespindel (der Antrieb erfolge über die Gewindespindel mittels einer winkelig dazu angeordneten Gewindemutter; die Kraft der Türe wirke auf diese nicht ausschließlich in Richtung der Wirkung der Gewichtskraft, sondern auch mittels eines über die Halterung auf der Tragstange auf die Gewindemutter ausgeübten Drehmoments). Bei größerem Abstand zwischen der auf der Tragstange geführten Halterung und der Türe werde das Drehmoment größer, das von der Gewindemutter und der Gewindespindel abgefangen werden müsse. Der Fachmann würde diese mechanischen Beeinträchtigungen infolge längerer Hebel nicht in Kauf nehmen, die ergänzende Maßnahmen erforderten. Eine Führung der Türflügel im unteren Bereich müsse in P1 nicht vorhanden sein. Außerdem zeige P1 eine spielbehaftete Rollenführung, mit der keine Krafthaltung der Türflügel möglich sei.
Es gäbe auch keine Veranlassung, die Lagereinheit und die Tragstange aus P1 weiter in den Fahrzeuginnenraum zurückzuversetzen, da die in P1 offenbarte Lösung mit einem die Türöffnung auf der Oberseite begrenzenden Basisblech dann nicht mehr realisierbar wäre. Außerdem gehe Stehhöhe im Innenraum verloren, was längere Hebelarme mit den bereits angesprochenen Problemen zur Folge hätte.
In den in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträgen 1 und 2 seien nur zwei Merkmale gegenüber den Hilfsanträgen 3 und 4 vom 23. Oktober 2017 gestrichen. Mit den Hilfsanträgen vom 23. Oktober 2017 sei eine Abgrenzung in Reaktion auf die negative vorläufige Auffassung der Kammer versucht worden. Die Hilfsanträge gingen zurück auf den mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 4 (mit Merkmalen aus der Beschreibung), der um das Merkmal von zwei Türflügeln ergänzt und auf nur eine Tragstange beschränkt worden sei, also auf Aspekte, die immer schon eine Rolle gespielt hätten. Ein zweiflügeliges Schwenkschiebetürsystem mit zwei auf nur einer Tragstange gelagerten Türflügeln sei immer ein Thema im Verfahren gewesen und von der Beschwerdeführerin auch behandelt worden, selbst wenn diese Merkmale nicht aus der erteilten Ansprüchen stammten. Eine drehbar gelagerte Gewindespindel sei nicht nur in Anspruch 9 offenbart, sondern auch in der Beschreibung (Spalte 6).
Hilfsantrag 11 sei in Reaktion auf einen Einwand unter Artikel 123 (2) EPÜ eingereicht worden. Unter den am 26. September 2017 eingereichten Hilfsanträgen 1 bis 11 seien 5 Hilfsanträge identisch zu den mit der der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträgen und weitere 5 Hilfsanträge zur Klarstellung demgegenüber auf "nur eine Tragstange" eingeschränkt worden. In dem auf Hilfsantrag 10 beruhenden Hilfsantrag 11 sei eine als nicht offenbart angesehene Merkmalkombination gestrichen worden und Anspruch 1 einteilig abgefasst.
Die Einschränkung in Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 11 stamme aus Absatz [0009] oder Spalte 5, Zeilen 9 bis 13 der Beschreibung, wobei die sprachliche Formulierung "auch bei zweiflügeligen Schwenkschiebetürsystemen" klar explizit aussage, dass die Lagerung auf nur einer Tragstange auch für einflügelige Systeme gelte. Das Merkmal der drehbar gelagerten Führungsrolle konkretisiere die im erteilten Anspruch 12 enthaltene Halterung und stelle keine unzulässige Erweiterung dar.
Entscheidungsgründe
1. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
1.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents beruht gegenüber P1 und dem allgemeinen Fachwissen nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
1.2 Unstrittig sind die Merkmale 1) bis 6) des Oberbegriffs des erteilten Anspruchs 1 aus P1 bekannt.
Bemerkung: Wie mit Merkmal 2) ausgedrückt ("horizontale Tragstange einer Lagereinheit"), ist die Tragstange Bestandteil der Lagereinheit. Im Folgenden wird deshalb der Begriff "Lagereinheit" oft abkürzend und synonym für eine "Lagereinheit und/mit Tragstange" verwendet (wie z. B. in Merkmal 7) ausgedrückt).
1.3 Die Lagereinheit aus P1 (siehe Figur 2) ist bereits in den Fahrzeuginnenraum zurückversetzt angeordnet, allerdings nicht" oberhalb der Türöffnung", wie mit Merkmal 7) zusätzlich gefordert. Die Beschwerdegegnerin ging zwar von einem Verständnis des Teilmerkmals ,,in den Fahrzeuginnenraum zurückversetzt angeordnet" aus Merkmal 7) aus, wonach die Lagereinheit an die Fahrzeuginnenwand angelehnt sei und insbesondere nicht integral mit der Seitenwand ausgebildet wie in P1 gezeigt. Dieser Sichtweise konnte sich die Kammer jedoch nicht anschließen, da in P1 die integrale Ausbildung mit der Seitenwand nur als eine mögliche Ausführungsform neben einem separat an der Seitenwand befestigten Bauteil genannt wird (siehe Spalte 5, Zeilen 40-47: "Ein Basisblech 14 (siehe Fig. 2) ... ist entweder einteilig mit einer Fahrzeugstruktur oder Seitenwand 4 gebildet oder als separates Bauteil z. B. durch Schweißen oder Schrauben daran befestigt.").
Ein Türflügel ist in P1 auch über eine Halterung mit der Tragstange verbunden, wobei strittig war, ob diese Halterung als ,,winkelförmige Vertikalhalterung" entsprechend Merkmal 8) aufzufassen sei.
1.4 Folgt man der Interpretation der Beschwerdegegnerin in Bezug auf Merkmal 8), dass unter einer ,,winkelförmigen Vertikalhalterung" eine winklige, sich deutlich in vertikaler Richtung erstreckende Halterung zu verstehen sei, unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von dem Schwenkschiebetürsystem aus P1 darin, dass die Lagereinheit nicht oberhalb der Türöffnung angeordnet ist und auch keine winkelförmige Vertikalhalterung zur Verbindung von Tragstange und Türflügel vorgesehen ist.
Allerdings kann die Kammer nicht erkennen, dass diese beiden Unterschiede unabhängig voneinander zu betrachten sind und damit zwei Teilaufgaben lösen, wie von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Denn der Türflügel und die Tragstange der Lagereinheit sind über eine Halterung strukturell miteinander verbunden, und die Anordnung der die Türflügel tragenden Tragstange oberhalb der Türöffnung bedingt zumindest eine Verbindung der Türflügel mit der Tragstange mittels einer sich in vertikaler Richtung erstreckenden Halterung, also einer Vertikalhalterung.
Die aus diesen Unterschieden abzuleitende objektive technische Aufgabe kann darin gesehen werden, ein Schwenkschiebetürsystem so auszubilden, dass der nutzbare Bereich der Türöffnung verbessert ist, wie auch von der Beschwerdegegnerin als erste Teilaufgabe formuliert. Die zusätzlich von der Beschwerdegegnerin angeführte Teilaufgabe, eine solche Ausbildung bei oberhalb der Türöffnung abgeschrägten Seitenflächen des Fahrzeugs vorzusehen, würde im Übrigen bereits einen Hinweis auf die zu erwartende Lösung geben und wäre aus diesem Grund unzulässig. Der von der Beschwerdegegnerin immer wieder betonte Aspekt einer kompakten Bauweise mit geringer Bauhöhe für abgeschrägte Dachbereiche von Bahnen oder Bussen kommt allein deshalb nicht zum Tragen, da der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt nicht auf ,,nur eine Tragstange" beschränkt ist.
1.5 Wie auch von beiden Parteien eingeräumt, ist eine Vergrößerung der Türöffnung bzw. des Türausschnitts in der Fahrzeugaußenwand keine Option für den Fachmann. Damit bleibt ausgehend von der in P1 gezeigten Anordnung von Lagereinheit und Tragstange innerhalb der Türöffnung bei der gestellten Aufgabe nur die Möglichkeit, die Lagereinheit und die Tragstange zumindest teilweise aus dem Bereich der Türöffnung zu entfernen.
1.6 Die Beschwerdegegnerin hat das Naheliegen einer Lösung gemäß den Merkmalen 7) und 8) damit verneint, dass es nicht nur eine naheliegende Möglichkeit gebe, die der Fachmann in Erwägung ziehen würde. Dazu ist anzumerken, dass eine erfinderische Tätigkeit nicht allein deshalb zu bejahen ist, wenn eine Lösung eine Auswahl aus einer Mehrzahl von naheliegenden Lösungen darstellt, d.h. die unterscheidenden Merkmale müssen nicht die einzig mögliche Lösung darstellen.
Nach Auffassung der Kammer sind im Übrigen einige der von der Beschwerdegegnerin angeführten möglichen Lösungen für den Fachmann bereits so fernliegend bzw. nicht naheliegend, da sie eine größere Umkonstruktion der in P1 gezeigten Lagereinheit erfordern, wie z. B. im Falle eines Ersetzens der ausfahrbar gestalteten Lagereinheit durch eine Halterung mittels ausschwenkbarer Hebel oder einer Anordnung der Lager- und Antriebseinheit außerhalb der Türöffnung im Außenbereich des Fahrzeugs. Eine Anordnung unterhalb der Türöffnung mag zwar nicht aus der Fahrzeugkontur hervorstehen und auch eine mögliche Lösung darstellen, kann aber wie bereits ausgeführt das Naheliegen einer oberhalb der Türöffnung angeordneten Lagereinheit nicht ausschließen. Der Wegfall einer winkelförmigen Vertikalhalterung bei einer Anordnung der Lagereinheit unterhalb einer Bodenfläche setzt im Übrigen voraus, dass die Bodenfläche oberhalb der unteren Türkante liegt, wobei in diesem Fall aber vielfach eine Stufe im Eingangsbereich vorliegt und damit ein größerer Versatz der Lagereinheit nach innen erforderlich würde, also auch wieder zu größeren Hebelarmen in der Lagerung der Türflügel führen würde.
1.7 Die Aufhängung der aus P1 bekannten Schwenkschiebetür am Fahrzeug erfolgt - wie bereits ausgeführt - entweder über ein integral mit der Fahrzeugstruktur bzw. Seitenwand ausgeführtes Basisblech, an dem die Lagereinheit und somit die Schwenkschiebetür gelagert ist, oder indem das Basisblech als separates Bauteil an der Fahrzeugstruktur befestigt wird. P1 zeigt weiterhin in Figur 8 eine alternative Ausführungsform zu der integralen Ausbildung gemäß Figur 2, bei der das Basisblech über die Führungsschienen am Obergurt des Türrahmens durch Verschrauben befestigt wird.
Die Kammer sieht es bei der gestellten Aufgabe, den nutzbaren Bereich der Türöffnung zu verbessern, ausgehend von P1 als naheliegend an, die Lagereinheit aus Figur 2 oberhalb der Türöffnung anzuordnen. Denn dazu ist letztlich nur eine Modifikation der in P1 gezeigten Halterungen der Türflügel erforderlich, und zwar derart, dass sie den Höhenversatz zwischen dem auf der Tragstange gelagerten Rohrabschnitt (mit dem die Halterung verbunden ist) und der Befestigung der Halterung am Türflügel überbrückt. Damit würde die Halterung aus P1 zu einer "Vertikalhalterung" im Verständnis der Beschwerdegegnerin, wobei eine winkelförmige Ausbildung der Halterung nach Auffassung der Kammer keine erfinderische Tätigkeit begründen kann. Das Basisblech der Lagereinheit kann dann zwar nicht mehr integral mit der Seitenwand ausgebildet sein, aber eine Befestigung des Basisblechs an der Seitenwand z. B. durch Verschrauben oder Schweißen ist in P1 schon vorgeschlagen und für den Fachmann ohne erfinderisches Zutun zu bewerkstelligen.
1.8 Die Kammer kann nicht erkennen, wieso der Fachmann von einem Versetzen der aus P1 bekannten Lagereinheit nach oben oberhalb einer Türöffnung abgehalten würde. Zum einen würde er wie bereits ausgeführt nicht die aus P1 bekannten Halterungen der Türflügel ohne Modifikation verwenden, da ein größerer Abstand in vertikaler Richtung (und eventuell auch in horizontaler Richtung bei abgeschrägtem Dachbereich, siehe dazu weiter unten) zwischen Türflügel und Tragstange zu überbrücken wäre. Zum anderen war die Kammer nicht davon überzeugt, dass die dabei auftretenden längeren Hebelarme bei der aus P1 bekannten Anordnung zu größeren Kräften auf die Lager- und Antriebseinheit führen. Das Gewicht der Türflügel hängt bei der Anordnung der P1 über den jeweiligen Rohrabschnitt an der Tragstange, die fest an den Seitenwangen der horizontal in Führungsschienen verfahrbaren Lagereinheit angebracht ist. Da in P1 zudem (siehe Spalte 9, Zeilen 3 bis 31) ein Schwenkarm eines Schwenkzylinders in eine nach unten geöffnete Führungsnut am Unterrand des Türflügels bzw. Türblatts eingreift und über ein Gleitstück (das sich an den gegenüberliegenden Innenseiten der Führungsnut abstützt) den Unterrand des Türblatts führt (um synchron mit der Ausfahrbewegung des Fahrwagens den Unterrand des Türblatts in etwa um den gleichen Weg nach außen zu verschieben wie den Oberrand des Türblatts), wird der Türflügel im unteren Bereich durch den Schwenkmechanismus in horizontaler Richtung abgestützt. Die Kammer war deshalb nicht überzeugt, dass ein Drehmoment über die Gewichtskraft und die Hebelarme der Halterung auf die Rohrabschnitte derart ausgeübt wird, dass ein merklicher Einfluss auf die Kugellängsführung bzw. den Antrieb oder auf die Gewindespindel zu erwarten ist. Selbst ein gewisses Spiel in der unteren Führung der Türflügel würde daran nichts ändern, da das Gleitstück sich an den Innenseiten der Führungsnut abstützt.
Ein Versetzen der Lagereinheit nach oben führt sogar zu mehr Stehhöhe im Bereich der Fahrzeugseitenwand. Ein zusätzliches Zurückversetzen der Lagereinheit aus P1 in den Fahrzeuginnenraum mag zwar bei einem abgeschrägten Dachbereich erforderlich sein, allerdings ist es rein spekulativ anzunehmen, dass damit mehr Raum verloren geht als durch das Versetzen nach oben geschaffen wird. Zudem ist der Gegenstand von Anspruch 1 nicht in Bezug auf den Dachbereich und damit den verfügbaren Raum oberhalb der Türöffnung festgelegt und umfasst damit auch Fahrzeuge ohne merkliche Dachabschrägung, so dass dieses Argument der Beschwerdegegnerin unbeachtlich ist. Hinsichtlich der Problematik von längeren Hebelarmen bei einem Zurückversetzen der Lagereinheit nach innen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Auch das Argument der Beschwerdegegnerin, dass bei einem Zurückversetzen der Lagereinheit das die Oberseite der Türöffnung bildende Basisblech aus P1 nicht mehr realisierbar sei, kann nicht überzeugen, da wie bereits weiter oben ausgeführt die Lehre von P1 nicht auf diese integrale Ausbildung des Basisbleches mit der Fahrzeugseitenwand beschränkt ist, sondern alternativ auch ein Basisblech als separates an der Seitenwand zu befestigendes Bauteil vorschlägt.
1.9 Die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Einwände für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit konnten also nicht überzeugen.
2. Frage der Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 4
2.1 Gemäß Artikel 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536) steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt.
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern können auch weitere Kriterien ausschlaggebend sein. Beispielsweise müssen stichhaltige Gründe für die Einreichung eines Antrags in einem fortgeschrittenen Stadium vorliegen, die Änderungen müssen prima facie eindeutig gewährbar sein, die Änderungen dürfen den durch die Beschwerdebegründung und Erwiderung abgesteckten Diskussionsrahmen nicht ausdehnen oder eine neue Sachlage einbringen, zu der die anderen Beteiligten nicht Stellung nehmen können. Auch der Zeitpunkt der Einreichung und die Anzahl eingereichter geänderter Anspruchssätze sind zu berücksichtigen.
2.2 Die erst in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträgen 1 und 2 beruhen auf den mit Schreiben vom 23. Oktober 2017 eingereichten Hilfsanträgen 3 und 4, in denen lediglich zwei Merkmale gestrichen wurden. Gegenüber den zuvor im Verfahren eingereichten Hilfsanträgen (der vorliegende Hilfsantrag 3 beruht beispielsweise auf dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 4) wurde im Oberbegriff von Anspruch 1 erstmalig das Merkmal "drehbar in zwei sich gegenüberliegenden Seitenwangen gelagerte Gewindespindel, die parallel zu der Riegelwelle angeordnet ist" aufgenommen. Dieses Merkmal geht auf die Abschnitte [0017] und [0018] der A-Publikation bzw. die erteilten Ansprüche 9 und 10 zurück. Wie von der Beschwerdeführerin bemerkt, ist der erteilte Anspruch 9 lediglich auf Anspruch 7 rückbezogen, der einen die Gewindespindel über eine mechanische Kopplung antreibenden Getriebemotor beschreibt, wobei diese Merkmale keinen Eingang in den geänderten Anspruch 1 gefunden haben. Die Beschwerdegegnerin weist dabei alternativ auf eine Offenbarungsstelle in der Beschreibung (Spalte 6, Zeilen 30 ff.) hin.
Außerdem sind die Hilfsanträge 1 bis 4 jetzt auf eine Ausbildung der Lagereinheit gerichtet, die nur eine Tragstange umfasst, mit der zwei Türflügel verbunden sind, wie in Absatz [0009] (bzw. Spalte 2, Zeilen 23 bis 25) der Patentschrift und auch der A-Publikation beschrieben. Eine Ausbildung mit nur einer Tragstange war zwar schon Gegenstand der am 26. September 2017 eingereichten Hilfsanträgen 2, 4, 6, 8 und 10, die (siehe Seite 2, zweiter Absatz des zugehörigen Schreibens) in Reaktion auf einen Klarheitseinwand der Beschwerdeführerin eingereicht wurden. Jedoch war der Gegenstand von Anspruch 1 in keinem dieser Hilfsanträge auf eine Lagerung von zwei Türflügeln auf einer Tragstange gerichtet.
Bereits mit der Beschwerdebegründung (siehe Seite 11, vierter Absatz) hat die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass eine Lagerung von beiden Türflügeln auf nur einer Tragstange, mit der eine Lagereinheit mit geringer Bauhöhe bereitgestellt werden solle, keinen Eingang in den Patentanspruch 1 gefunden habe. Darauf hat die Beschwerdegegnerin in den mit ihrer Erwiderung vom 8. Dezember 2014 eingereichten Hilfsanträgen 1 bis 5 nicht reagiert, obwohl sie (siehe Seite 3 der Beschwerdeerwiderung) den Verzicht auf die zweite Tragstange als ersten Schritt der erfindungsgemäßen Lösung dargestellt hat, allerdings nicht in Verbindung mit zwei Türflügeln.
Die Beschwerdeführerin hat mit Schreiben vom 8. Mai 2017 (Seite 2, erster Absatz) nochmals darauf hingewiesen, dass sich aus dem geltenden Anspruch 1 in keiner Weise ergebe, dass "zwei Türflügel an nur einer Tragstange gelagert sind oder sein können". Auch ergebe sich aus Anspruch 1 sicher kein Verzicht auf eine zweite Tragstange. Dadurch veranlasst reichte die Beschwerdegegnerin am 26. September 2017 einen neuen Satz von Hilfsanträgen 1 bis 11 ein, wobei die Hilfsanträge 1, 3, 5, 7 und 9 den Hilfsanträgen vom 8. Dezember 2014 entsprachen und in den Hilfsanträgen 2, 4, 6, 8 und 10 in Anspruch 1 das Merkmal "wobei die Lagereinheit eine Tragstange umfasst" ersetzt wurde durch "wobei die Lagereinheit nur eine Tragstange umfasst". Damit wurde zwar die Einschränkung auf nur eine Tragstange aufgenommen, aber immer noch nicht in Verbindung mit einem zweiflügeligen Schwenkschiebetürsystem.
Auch die Kammer hat in ihrer Mitteilung vom 25. September 2017 lediglich die Positionen der Parteien zusammengefasst, darunter auch die Erkenntnis der Beschwerdeführerin, dass Anspruch 1 nicht auf ein System mit zwei Türflügeln auf einer gemeinsamen Tragstange gerichtet ist.
2.3 Die Kammer kann deshalb keinen Grund erkennen, insbesondere auch keine Reaktion auf die negative vorläufige Auffassung der Kammer wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, der die sehr späte Einreichung der Hilfsanträge 1 bis 4 mit Schreiben vom 23. Oktober 2017 und damit zwei Tage vor dem anberaumten Termin für eine mündliche Verhandlung rechtfertigen könnte, mit denen erstmalig ein Schwenkschiebetürsystem mit zwei Türflügeln auf nur einer Tragstange beansprucht wurde. Zudem ging es bei Diskussion der erfinderischen Tätigkeit im Verfahren bisher immer um die Merkmale 7) und 8) und damit die Frage, ob der Fachmann ausgehend von der in P1 im oberen Bereich der Türöffnung angeordneten Lagereinheit diese nach oben (und eventuell weiter nach innen) versetzen würde. Mit den vorliegenden Hilfsanträgen 1 bis 4 wäre nun eine Diskussion zu führen, ob die Lagerung von zwei Türflügeln auf einer einzigen Tragstange eine erfinderische Tätigkeit begründen kann. Dieser Aspekt mag zwar - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen - immer schon im Verfahren angesprochen worden sein, war aber nie Gegenstand eines der früheren Hilfsanträge oder der erteilten Ansprüche und wurde deshalb nicht weiter unter dem Gesichtspunkt der erfinderischen Tätigkeit diskutiert. Außerdem wäre noch eine Diskussion zu führen zur Zulässigkeit der Änderungen, die erstmalig zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung bzw. in der mündlichen Verhandlung eingebracht wurden und - unter Berücksichtigung der Rückbezüge - nicht allein auf der Kombination der erteilten Ansprüche beruhen bzw. eine Grundlage in der Beschreibung haben sollen.
2.4 Unter diesen Umständen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 13(1) VOBK, insbesondere unter Berücksichtigung des Standes des Verfahrens und der Verfahrensökonomie, die Hilfsanträge 1 bis 4 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
3. Hilfsantrag 11
3.1 Zulassung in das Verfahren
Die Beschwerdegegnerin hat explizit angegeben (siehe Schreiben vom 25. September 2017, Seite 2), dass Hilfsantrag 11 auf Hilfsantrag 10 basiert, der wiederum gegenüber Hilfsantrag 9 (identisch zu dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 5) auf das Merkmal "nur eine Tragstange" eingeschränkt wurde. Damit wurde auf den Hinweis der Beschwerdeführerin reagiert, dass der erteilte Anspruch 1 nicht auf "nur eine Tragstange" eingeschränkt ist. Zudem wurde eine von der Einsprechenden als nicht offenbart angegebene Merkmalskombination gestrichen.
Damit stellt die Einreichung von Hilfsantrag 11 nach Ansicht der Kammer eine berechtigte und vorhersehbare Reaktion der Beschwerdegegnerin dar. Der mit Schreiben vom 25. September 2017 eingereichte Hilfsantrag 11 wurde deshalb in das Verfahren zugelassen.
3.2 Zulässigkeit der Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
Anspruch 1 des Hilfsantrags 11 wurde im kennzeichnenden Teil gegenüber dem erteilten Anspruch 1 unter anderem um die Merkmale des erteilten Anspruchs 12 ergänzt. In diesem Zusammenhang wurde die Halterung zusätzlich durch ein Merkmal aus der Beschreibung ("in der eine Führungsrolle drehbar gelagert ist") charakterisiert.
Diese Charakterisierung der Halterung ist den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen nicht unmittelbar und eindeutig offenbart und verstößt somit gegen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
Die drehbar gelagerte Führungsrolle ist ein aus der Beschreibung stammendes Merkmal (siehe Spalte 8, Zeilen 3 bis 7), steht dort allerdings funktionell und strukturell in enger Verbindung mit der Führung in einer Führungsschiene, die oberhalb der Gewindespindel angeordnet ist und die Führungsrolle während der Öffnungs- und Schließbewegung der Türflügel nach Art einer schwenkschiebeartigen Bewegung führt. Die isolierte Aufnahme nur einer drehbar in einer Halterung gelagerten Führungsrolle in Anspruch 1 ohne die weiteren in engem Zusammenhang stehenden Merkmale stellt somit nach Auffassung der Kammer eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung dar.
4. Da somit kein gewährbarer Antrag vorliegt, war das Streitpatent zu widerrufen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.