T 0515/14 () of 30.11.2017

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2017:T051514.20171130
Datum der Entscheidung: 30 November 2017
Aktenzeichen: T 0515/14
Anmeldenummer: 06019736.5
IPC-Klasse: B65H 23/188
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Regelung der Bahnspannung einer Warenbahn
Name des Anmelders: Bosch Rexroth Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: Siemens Aktiengesellschaft
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention 1973 Art 83
Schlagwörter: Spät vorgebrachte Argumente - zugelassen (ja)
Spät eingereichte Beweismittel - Beweismittel hätten bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht werden müssen (nicht zugelassen)
Spät eingereichte Beweismittel - Beweismittel hätten bereits mit der Beschwerdebegründung vorgebracht werden müssen (nicht zugelassen)
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit - nicht naheliegende Lösung (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischen­entscheidung der Einspruchsabteilung, dass das euro­päische Patent Nr. 1 790 601 in der gemäß dem Haupt­antrag geänderten Fassung den Erfordernissen des Europäischen Patent­über­einkommens genüge.

II. Der Einspruch der Beschwerdeführerin (Einsprechende) stützte sich auf die in Artikel 100 a) und b) EPÜ 1973 genannten Einspruchsgründe der fehlenden Neuheit, Artikel 54 EPÜ 1973 und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ 1973.

III. Am 30. November 2017 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des euro­päischen Patents.

V. Die Beschwerdegegnerin beantragte:

- als Hauptantrag, die angefochtene Entscheidung auf­zuheben und das Patent in der im Einspruchs­verfah­ren geänderten Fassung des Patents mit der Maßgabe aufrechtzuerhalten, dass die in der mündlichen Ver­handlung vor der Beschwerdekammer am 30. November 2017 vorgelegte Seite 3 der Beschreibung die in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsab­tei­lung am 27. November 2013 vorgelegte Seite 3 der Be­schrei­bung ersetzt;

- als Hilfsantrag 1, die Beschwerde zurückzuweisen;

- als Hilfsantrag 2, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen und der Beschwerdeführerin die dadurch entstehenden Kosten aufzuerlegen, falls die Druckschriften A1 bis A6 im Verfahren zugelassen werden;

- als Hilfsantrag 3, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geändertem Umfang auf Grundlage der Ansprüche 1 und 2, eingereicht mit Schreiben vom 6. Oktober 2014 als Hilfsantrag 1 aufrechtzuerhalten.

VI. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:

"Verfahren zur Regelung der Bahnspannung einer mit­tels einer Transporteinrichtung (1) bewegten Warenbahn (2) mit einem Bahnspanungsregler [sic] (3) unter Be­stimmung von Regelkreisparametern, wobei Antriebe der Transporteinrichtung (1) mittels einer virtuellen Leit­achse gesteuert werden, wobei die Regelkreisparameter des Bahnspannungsreglers (3) gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie (50) in Abhängigkeit von einer Geschwindigkeit (54) der virtuellen Leitachse bestimmt werden,

wobei mit dem Bahnspannungsregler (3) eine PI-Regelung vorgenommen wird und als Regelkreisparameter der Pro­por­tional- und/oder der Integral-Anteil des PI-Reglers verwendet werden oder

wobei mit dem Bahnspannungsregler (3) eine PID-Regelung vorgenommen wird und als Regelkreisparameter der Pro­portional- und/oder der Integral- und/oder der Dif­fe­rential-Anteil des PID-Reglers verwendet werden."

VII. Im Beschwerdeverfahren wurde auf folgende Druckschrif­ten Bezug genommen:

A1: DE 101 10 122 A1;

A2: EP 1 505 023 A2;

A3: DE 33 18 250 A1;

A4: DE 196 26 287 A1;

A5: DE 198 347 25 A1 (Priorität vom Patent E8);

A6: DE 102 01 993 A1;

A7: "Virtuelle Leitachsen in der Druckindustrie", Dr.Klaus Peters, "Antriebs Praxis", Ausgabe 04/2006, Seiten 52 bis 54 (nach dem Prioritäts­datum des Streitpatents veröffentlicht);

E1: EP 0 933 201 A1;

E8: EP 0 976 674 A1 (im Einspruchsverfahren auch als D1 bezeichnet);

D3: "Siemens Standardprojektierung Achswickler SPW420 für Technologiebaugruppe T400 - SIMADYN D Hand­buch", Ausgabe 05.01, Bestellnummer 6DD1903-0AA0,(243 Seiten);

D5: "Siemens SIMOVERT MASTERDRIVES Motion Control Kom­pendium", Ausgabe AD für den Geräte­software-stand V1.4 mit den Inhalten bis zum Jahr 2000, Bestell­nummer 6SE7080-0QX80 (1064 Seiten);

D7: "Siemens SIMOVERT MASTERDRIVES Motion Control Kom­pendium", Ausgabe AE 05.2006, Bestellnummer 6SE7080-0QX70 (1515 Seiten).

N1: Bildschirmausdruck vom Internetaufruf der Siemens-Support Homepage https://support-industrv.siemens.com/cs/document/8793576/benutzerhandbuch-t400 achswickler?dti=Q&lc=de-WW (aufgerufen am 23. November 2017;

N2: Lieferschein für MLFB (Maschinen­les­ba­re Fabri­katebezeichnung) 6DD1903-0AB0 mit WA-Datum (Wa­ren­ausgangsdatum) vom 7. Juni 2002 an die Siemens Factory Automation in Beijing;

N3: Auszug aus der Lieferliste des Jahres 1999 für MLFB 6SE7080-0QX50 mit WA-Datum 9. Juli 1999;

N4: Bildschirmausdruck zum Siemens-internen PLM Pro­zess des Handbuchs (Nr. 6SE7080-0QX50) inklusive des PM300 (Versandfreigabe) vom 1. Oktober 1998;

N5: Auszug aus der Lieferliste für MLFB 6SE7080-0QX70 mit Bestellungen aus 2003, 2004 und 2005 und z.B. ein WA-Datum vom 18. März 2003;

N6: Auftrag eines Kunden mit Auftragsposition Nr. 11 6SE7080-0QX70 und dem Lieferschein WA-Datum 5. Januar 2004.

P1: Präsentationsunterlagen "Reduktion von durch Rol­len­wechsel ver­ursachten Registerfeh­lern", VDD-Seminarvor­trag, IDD TU-Darmstadt, Dr. Mario Göb, Dr. Stephan Schultze, Bosch Rexroth AG, 22. Juni 2017.

VIII. Die Beschwerdeführerin hat im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Fol­gendes vorgetragen:

Eingaben A1 bis A6 und N1 bis N6

Die Zweifel am Veröffentlichungsdatum der Hand­bü­cher D3, D5 und D7 wurden erstmals in der mündlichen Ver­hand­lung vor der Einspruchsabteilung geäußert. Die­ser Umstand habe eine Zusatzrecherche veranlasst, aus der die Druckschriften A1 bis A7 hervorgingen, welche mit der Beschwerdebegründung vorgelegt wurden. Diese Druck­schriften seien relevant und seien zum Verfahren zuzu­lassen.

Die Unterlagen N1 bis N6 sind nicht umfangreich und be­stehen aus Bildschirm- und Da­ten­bankausdrucken zu der Auslieferung der Handbücher D3, D5 und D7 an Kunden. Es sei schwierig, solche Unterlagen innerhalb einer großen Organisation wie der der Beschwerdeführerin zu be­schaf­fen. An Hand der Kodie­rungen und Arti­kelnummern lasse sich belegen, dass die Handbücher D3, D5 und D7 vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents an Kunden ausgelie­fert wurden, so dass die Handbücher D3, D5 und D7 zum Stand der Technik nach Artikel 54(2) EPÜ 1973 gehö­ren. Die Unterlagen N1 bis N6 seien zum Verfahren zuzu­las­sen.

Unzulässige Erweiterung

Diese Einwand wurde rechtzeitig einen Monat vor der münd­lichen Verhandlung vorgebracht und die Einspruchs­entscheidung befasse sich bereits mit diesem Ein­spruchs­grund. Der Einwand der unzulässige Erweiterung sei zum Verfahren zuzulassen.

Das strittige Merkmal des Anspruchs 1, dass die Regel­kreisparameter [...] in Abhängigkeit von einer Ge­schwin­digkeit der virtuellen Leitachse bestimmt werden, bilde eine Zwischenverallgemeinerung. Die Abhängigkeit von der Ge­schwin­digkeit sei ursprünglich nur in den Ab­sätzen [0015] und [0016] und entsprechenden ursprüng­lichen abhängigen Ansprüchen 6 und 7 der veröffent­lich­ten Fas­sung der Anmeldung in Kombination mit weiteren Merkmalen (hyperbo­lische Kenn­linie, respektive stück­weise aus Funk­tio­nen zu­sam­mengesetzte Kennlinie) offenbart worden. Die Auffassung der Einspruchs­ab­tei­lung, dass das der Begriff "vorteilhaft" (im Satz "Daher ist es vorteil­haft, wenn die Regelkreisparameter gemäß einer hyper­bo­lischen Kennlinie in Abhängigkeit von der Leitachsge­schwindigkeit der Warenbahn bestimmt werden", Absatz [0015]) derart zu lesen wäre, dass eigentlich eine allgemeinere Abhängigkeit ausgedrückt werden sollte, könne nicht zugestimmt werden. Absatz [0015] offenbare nur die Kombination mit einer hyperbo­lische Kenn­linie und beziehe sich zudem nicht auf eine virtuelle Leitachse. Absatz [0014] bilde eine getrennte Offenbarung der zwei Alternativen für die Leitachse und sei nicht in Kom­bi­nation mit der Absätzen [0015] und [0016] zu lesen: Die Absätze [0017] und [0018] offen­bar­ten, dass die Regel­kreisparameter auch von anderen Faktoren als der Ge­schwin­digkeit der Leitachse abhängig sein könnten. Absatz [0014] mache zudem keine Aussagen zur Geschwindigkeit der Leitachse. Absatz [0034] be­schrei­be nur eine ganz bestimmte Kenn­linie für die P-Verstär­kung gemäß dem Aus­führungsbeispiel der Figur 2 und bilde keine Grundlage für das strittige Merk­mal des Anspruchs 1. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei unzu­läs­sig erweitert worden.

Artikel 100 b) EPÜ 1973

Das Ausführungsbeispiel offenbare nur eine Kennlinie für die P-Verstärkung - im Anspruch Proportional-Anteil genannt. Der Fachmann wisse nicht, wie der Integral- bzw. der Differential-Anteil umgesetzt werden sollen. Der Differen­tial-Anteil werde aus dem Verlauf der zu re­gelnden Größe selbst erstellt. Somit sei die gefor­derte Ermittlung des Differential-Anteils nicht aus­führ­bar. Somit sei dem Fachmann nicht klar, wie die Stabilität erreicht werde, bzw. wie der Integral-Anteil bestimmt werde. Es seien zahlreiche Experimente notwen­dig. Das übliche Fachwissen trage nicht zum Verständnis der technischen Lehre aus Patentanspruch 1 bei. Das Aus­führungsbeispiel der Figur 2 sei unklar, weil keine konkreten Werte offenbart werden, so dass der Fachmann nicht wisse, wo er ansetzen solle. Der Fachmann bekäme auch keine Lehre zu den "Funktionen". Es sei dem Fach­mann daher nicht möglich ohne erfin­derisches Zutun, die technische Lehre des An­spruchs 1 auszuführen. Der Ge­genstand des An­spruchs 1 sei nicht Ausführ­bar.

Artikel 100 a) EPÜ 1973 - Neuheit

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber der Druckschrift E8 (Anschnitte [0001], [0013], [0016], [0026], [0030] bis [0032], Figur 5). Das Merkmal der virtuellen Leitachse sei zwar in der Druckschrift E8 namentlich nicht genannt, jedoch sei das genannte BUS-System (SERCOS-Bussystem) für den Fachmann ein Hinweis auf den Einsatz einer virtuellen Leitachse.

Zulassung des Einwands der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom Handbuch D3

Die Beschwerdebegründung verweise auf das Handbuch D3 und auf die Argumentation aus dem Einspruchsschrift­satz. Die relevanten Passagen des Handbuchs D3 (Seite 11, Abschnitt 1.3; Seite 175 und Seite 42, Bild 3-4) seien überschaubar. Die Einspruchsentscheidung befasse sich mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausge­hend vom Handbuch D3 im Abschnitt 2.2.5.2. Der Einwand der fehlenden erfin­derischen Tätigkeit ausgehend vom Handbuch D3 solle zum Verfahren zugelassen werden.

Artikel 100 a) EPÜ 1973 - erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift E8 mit Fachwissen

Die Druckschrift E8 bilde den nächstliegenden Stand der Technik. Das Merkmal der virtuellen Leitachse sei in der Druckschrift E8 nicht genannt. Der Einsatz einer virtuellen Leitachse im Bereich Druckmaschinen sei im Wissenstand des Fachmanns enthalten. PI- und PID-Regler seien technisch stark verwandt. Somit offenbare die explizite Nennung eines PI-Reglers in der Druck­schrift E8 ebenfalls einen PID-Regler und umgekehrt.

Die Verwendung einer virtuellen Leitachse entspräche einer separaten Aufgabe, die unabhängig ist von der, die Parameter der PI- bzw. PID-Regler für eine bessere Bahnzugregelung einzu­stel­len. Die Vorteile einer virtuellen Leitachse bezüglich Genauigkeit seien dem Fachmann bekannt (siehe, z.B. das Handbuch D5, Seite 8.3-19, Blatt 832, Seiten 9.12 und 9.72). Das Handbuch D5 sei zum Verfah­ren zuzulassen.

Es sei für den Fachmann ebenfalls offensichtlich, Ver­besserungsmöglichkeiten für die Bahnzugregelung zu su­chen. Im Streitpatent sei als Stand der Technik aner­kannt, dass die Geschwindigkeitsabhängigkeit durch eine adap­tive Kennlinie des P-Anteils des Reglers mo­delliert werden könne (Spalte 1, Absatz [0004], Zeilen 44 bis 46). Es gebe keinen Grund diese Aussage bezüglich des Standes der Technik anzuzweifeln. Der VDD Vortrag P1 offenbare zudem, dass der Erfinder des Streitpa­tents anerkennt, dass im Kontext des Bahnzugs eine ge­schwin­digkeitsabhängige Kp-Adaption bereits seit 1998 bekannt sei (Vortrag P1, Seite 9). Der Vortrag P1 sei relevant und solle zum Verfahren zugelassen werden. Somit ist auch das Merkmal der geschwindigkeitsabhängi­gen Regel­parameter für den Fachmann offensichtlich. Wenn eine virtuelle Leitachse verwendet werde, sei es für den Fachmann weiter offensichtlich deren Geschwin­dig­keit zur Bestimmung der Regelparameter zu verwenden.

Somit beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderisch Tätigkeit ausgehend von der Druck­schrift E8 in Kombination mit dem Fachwissen.

Druckschriften D3, D5 und D7

Die auf diesen Druckschriften beruhenden Einwände wurden im Einspruchsverfahren ausreichend substanzi­iert. Es wurden Fundstellen angegeben aus denen Merk­male des Anspruchs hervorgehen. Die Argumentation aus dem Einspruchsschriftsatz werde aufrechterhalten.

IX. Die Beschwerdegegnerin hat im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Eingaben A1 bis A6 und N1 bis N6

Das späte vorbringen der Druckschriften A1 bis A7 sei keine Reaktion auf die in der Einspruchsentscheidung ausgedrückten Zwei­fel, ob die Handbücher D3, D5 und D7 zum Stand der Technik gehörten: Die Druckschriften A1 bis A7 hätten inhaltlich nichts mit den Handbüchern D3, D5 und D7 zu tun. Stattdessen wären Belege für die Veröffentlichung der Handbücher D3, D5 und D7 mit der Beschwerdebegründung vorzubringen gewesen. Die Druck­schriften A1 bis A7 seien nicht prima facie relevant. Die Druckschriften seien nicht zum Verfahren zuzu­las­sen.

Die Unterlagen N1 bis N6 erreichten die Beschwerde­ge­gnerin erst vier Tage vor der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer und seien unverständlich. Dies sei der Beschwerde­ge­gnerin nicht zuzumuten. Die Unter­lagen hätten bereits mit der Beschwerdebegründung vor­ge­legt werden können. Die Unterlagen N1 bis N6 seien nicht zum Verfahren zuzulassen.

Unzulässige Erweiterung

Dieser Einwand wurde erst einen Monat vor der münd­li­chen Verhandlung vorgebracht und sei nicht im von der Be­schwerdebegründung definierten Beschwerdeumfang ent­halten. Die­ser spät vorgebrachte Einwand sei nicht zum Ver­fahren zuzu­lassen.

Die im Absatz [0014] offenbarten Alternativen für die Leitachse gelten auch für die nachfolgenden Absätze der Beschreibung des Streitpatents. Absatz [0014] offenbare auch, dass die Regelparameter auf die jeweilige Leit­ach­se bezogen seien. Dies gelte auch für die nach­fol­genden Absätze [0015] und [0016] mit spezifischeren Aus­gestaltungsformen der Kennlinie. Laut Oberbegriff des Anspruchs 1 werden die Regelkreis­pa­ra­meter des Bahnspannungsreglers allgemein gemäß einer als Funktion und/oder an einer durch mehrere Stütz­stel­len vorgeb­baren Kennlinie bestimmt. Das strittige Merkmal müsse nicht wörtlich vorliegen, wenn der Fach­mann es aus der Gesamtheit der Anmeldung entnehmen könne. Anspruchs 1 enthalte keine unzulässige Erweiterung.

Artikel 100 b) EPÜ 1973

Der Fachmann sei mit PI- und PID-Reglern allgemein ver­traut und sei in der Lage, die Regelkreisparame­ter Pro­portional-Anteil, Integral-Anteil und Differenzial-An­teil eines PID-Reglers anzugeben und routinemäßig ent­spre­chend der Anwendung zu bestimmen. Der Fachmann wisse auch, dass unterschiedliche Begriffe verwendet werden und dass Proportional-Anteil und P-Verstärkung Synonyme seien. Der Fachmann sei auch in der Lage, ge­eignete geschwindigkeits­abhän­gige Regelkreis­parameter vorzugeben. Im Ausführungs­bei­spiel werde dies bei­spielhaft an Hand des Proportional-Anteils (P-Ver­stär­kung) offenbart. Konkrete Zahlenwerte seien von der konkreten Ausführung der zu regelnden Anlage abhängig und seien von Anlage zu Anlage verschieden. Einen auf einer der üblichen Weisen ermittelten Regel­kreisparame­ter von der Geschwindigkeit einer virtuellen Leitachse abhängig zu gestalten, stelle somit keine Schwie­rig­keit für den Fachmann dar. Der Gegenstand des An­spruchs 1 sei ausführbar.

Artikel 100 a) EPÜ 1973 - Neuheit

Die Beschwerdeführerin setze sich nicht mit der Ein­spruchsentscheidung auseinander und zitiere stattdessen nur einige Abschnitte der Druckschrift E8. Diese Aus­führungen der Beschwerdeführerin stellen keinen eine Beschwerdebegründung darstellenden Vortrag dar. Mangels Nachvollziehbarkeit sei der Vortrag zur Druckschrift E8 nicht zu berücksichtigen. Unabhängig davon zeige die Druckschrift E8 zumindest nicht die Merkmale,

- dass die Antriebe der Transporteinrichtung mittels einer virtu­ellen Leitachse gesteuert werden,

- dass die Regelkreis­parameter des Bahnspannungsreg­lers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie in Abhängigkeit von einer Ge­schwindigkeit der virtuellen Leitachse bestimmt werden,

- dass mit dem Bahnspannungsregler eine PI-Regelung vorgenommen werde und als Regelkreisparameter der Pro­portional- und/oder der Integral-Anteil des PI-Reglers verwendet werden oder

- dass mit dem Bahnspan­nungsregler eine PID-Regelung vorgenommen werde und als Regel­kreis­parameter der Proportional- und/oder der Integral- und/oder der Differential-Anteil des PID-Reglers verwendet wer­den.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei daher neu.

Zulassung des Einwands der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom Handbuch D3

Der allgemeine Verweis in der Beschwerdebegründung auf die Handbücher D3, D5 und D7 und auf die Argumentation aus dem Ein­spruchsschrift­satz entspreche nicht den Anfor­derungen einer Beschwerdebegründung nach Artikel 12(2) der Ver­fah­rensordnung der Beschwerdekammern (VOBK). Der konkrete Einwand der fehlenden erfin­deri­sche Tä­tigkeit ausgehend vom Handbuch D3 unter Verweis auf verteilte Stellen sei erst während der mündlichen Ver­handlung vor der Beschwerdekammer vor­gebracht wor­den. Dieser Einwand sei nicht Teil des Beschwerdeum­fangs, weil er nicht in der Beschwerdebegründung vor­ge­tragen wurde. Dieser Einwand sei der Beschwerdegegnerin auch nicht mehr zuzumu­ten, weil sie dazu ein Fachmann be­fragen müsste. Die Sub­stanziierung der Veröffent­li­chung der Handbücher D3, D5 und D7 sei zwar mangelhaft, aber die Lebens­er­fahrung zeige, dass der­artige Hand­bücher veröffentlicht werden, so dass keine Zweifel mehr an der Veröffent­lichung der Handbücher vor dem Priori­täts­tag des Streit­patents be­stünden. Der Einwand der feh­lenden erfin­derische Tätigkeit ausgehend vom Hand­buch D3 solle zum Verfahren nicht zugelassen wer­den.

Artikel 100 a) EPÜ - erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift E8 mit Fachwissen

Der durch die Erfindung erreichte Vorteil entspräche der Aufgabe, mit einfachen Mitteln die Regelung der Bahnspannung zu opti­mie­ren. Die sich von der Druck­schrift E8 unterscheidenden Lösung bestehe darin, die Regelkreisparameter des Bahnspannungsreglers in Ab­hängigkeit von einer Geschwindigkeit der Leitachse zu bestimmen, so dass die Regelung bei unterschiedlichen Betriebszuständen optimal sei. Mit dem Einsatz einer virtuellen Leitachse ergebe sich die Möglichkeit, die Regelkreisparameter in Ab­hängigkeit von der Geschwin­dig­keit dieser genaueren virtuellen Leitachse zu bestimmen, was mit einfachen Mitteln die Regelung der Bahnspannung weiter opti­mie­re. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, warum die Aufgabe mittels einer Anpassung der Regelkreisparameter in Ab­hängigkeit von der Geschwin­dig­keit zu erreichen sei und warum zu­sätz­lich dabei eine virtuellen Leitachse, bzw. die Ge­schwin­dig­keit der virtuellen Leitachse zu verwenden sei. Der Fachmann hätte andere Möglichkeiten gehabt, die Aufga­be anzugehen. Die Argumentation der Beschwer­de­führerin beruhe auf einer rückschauenden Betrach­tungs­weise. In der Druckschrift E8 seien nicht erwähnt:

- die Regelkreisparameter,

- deren Abhängigkeit von der Geschwin­dig­keit und

- dass es sich dabei um die Ge­schwin­dig­keit der virtuellen Leitachse handele.

Es wurde nicht nachgewiesen, dass die voranstehenden neuheitsgebenden Merkmale dem Fachmann nahegelegt seien. Es gebe keine Veranlassung, für den Fachmann zur Lösung der Aufgabe diese Merkmale zu Kombinieren.

Der Text Spalte 1, Zeilen 44 bis 46 des Streitpatents sowie die persönliche Meinung des Erfinders in den Prä­sentationsunterlagen P1 sei lediglich inter­ner Stand der Technik, welcher nicht öffentlich sei. Die erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebrachten Präsentationsunterlagen P1 seien zum Verfahren nicht zuzulassen. Auch das Handbuch D5 sei zum Verfah­ren nicht zuzulassen. Es werde nicht mehr be­strit­ten, dass der Fachmann für Druckmaschinen mit vir­tuel­len Leit­achsen vertraut sei.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe auf einer erfin­de­rischen Tätigkeit.

Druckschriften D3, D5 und D7

Der Vortrag der Beschwerdeführerin sei nicht ausrei­chend substanziiert und daher nicht zu berücksichtigen. Ein pauschaler Verweis auf das erstinstanzliche Vor­bringen ("Daher wird die Argumentation aus dem Ein­spruchsschriftsatz weiterhin aufrecht erhalten") könne dies nicht ersetzen.

Entscheidungsgründe

1. Zulässigkeit der Unterlagen N1 bis N6

1.1 Nach Artikel 13(1) VOBK liegt es im Ermessen der Kam­mer, ob spät vor­ge­brachte Änderungen des Vortrags einer Partei zum Verfahren zu­gelassen werden. Gemäß Artikel 13(3) VOBK werden Ände­rungen des Vorbringens nicht zugelassen, wenn sie Fra­gen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder den an­deren Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Ver­hand­lung nicht zuzumuten ist.

1.2 Die Unterlagen N1 bis N6 wurden erst mit dem Schreiben vom 23. November 2017 eingereicht als Beleg für die Veröffent­lichung der Handbücher D3, D5 und D7 vor dem Prioritätstag des Streitpatents.

1.3 Die Unterlagen N1 bis N6 sind erst eine Woche vor der Verhandlung vor der Kammer eingereicht worden, be­stehen aus Bildschirm- und Datenbankausdrucken zu der Auslie­ferung der Handbücher D3, D5 und D7 an Kunden und sind nicht unmittelbar ver­ständlich, da sie sich nur via Kodie­rungen und Arti­kelnummern entziffern lassen. Die Berücksichtigung dieser Unterlagen in der münd­li­chen Verhandlung ist der Be­schwer­de­gegnerin deshalb nicht zumutbar.

1.4 Mit den in der Einspruchsentscheidung ausgedrückten Zweifeln, ob die Handbücher D3, D5 und D7 zum Stand der Technik (Artikel 54 EPÜ 1973) gehören (Einspruchsentschei­dung, Seite 14, letzter Absatz) bestand bereits ein Anlass für die Beschwerdeführerin die Unterlagen N1 bis N6 mit der Beschwerdebegründung einzureichen, was aber nicht geschehen ist.

1.5 Die Beschwerdegegnerin räumte im weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer ein, dass sie keine Zweifel mehr an der Veröffent­lichung der Handbücher vor dem Prioritätstag des Streitpatents habe. Die Unterlagen N1 bis N6 sind damit nicht mehr entscheidungsrelevant.

1.6 Die Kammer lässt aus den voranstehenden Gründen die Unter­lagen N1 bis N6 zum Verfahren nicht zu (Artikel 13(1) und 13(3) VOBK).

2. Zulässigkeit der Druckschriften A1 bis A7

2.1 Nach Artikel 12(4) VOBK hat die Kammer die Befugnis Tat­sachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vor­gebracht werden können.

2.2 Die in der Einspruchsentscheidung ausgedrückten Zwei­fel, ob die Handbücher D3, D5 und D7 zum Stand der Technik (Artikel 54 EPÜ 1973) gehören (Einspruchsent­schei­dung, Seite 14, letzter Absatz) ist keine Recht­fer­tigung dafür, dass die Beschwerdeführerin weiteren Stand der Technik in Form der Druckschriften A1 bis A7 im Beschwerdeverfahren einreicht. Stattdessen wäre da­für die rechtzeitige Vorlage von Belegen für die Veröf­fentlichung der Handbücher D3, D5 und D7 erforderlich gewesen. Die Druckschriften A1 bis A7 haben zudem in­haltlich nichts mit dem Inhalt der Handbücher D3, D5 und D7 zu tun.

2.3 Darüber hinaus bestand zumindest schon durch die mit der Ladung zur mündlichen Verhand­lung vor Einspruchs­abteilung geäußerte negative vor­läu­fige Meinung der Einspruchsabteilung bereits eine Ver­an­las­sung für die Beschwerdeführerin gegebenenfalls derartige Druck­schrif­ten bereits im Ein­spruchverfahren vor­zu­brin­gen. Es gibt somit keine an­gemessene Rechtfertigung die Druck­schrif­ten A1 bis A7 erst im Beschwerdeverfahren vorzulegen.

2.4 Die Kammer lässt aus den voranstehenden Gründen die Druck­schriften A1 bis A7 nicht zum Verfahren zu (Arti­kel 12(4) VOBK).

3. Einwand der unzulässigen Erweiterung

3.1 Zulassung

Die Einspruchs­entscheidung befasst sich mit diesem Ein­spruchsgrund im Abschnitt 2.2.2. Dieser Einwand wurde erst einen Monat vor der münd­lichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer vor­gebracht, aber der Umfang des dies­bezüglichen Vorbrin­gens ist in diesem Fall überschau­bar, so dass es der Be­schwerdegegnerin zumutbar ist, sich mit dieser Sache auseinanderzusetzen.

Die Kammer lässt aus den voranstehenden Gründen diesen spät vorgetragenen Einwand der unzulässigen Erweiterung zum Verfahren zu (Artikel 13(1) VOBK).

3.2 Das strittige Merkmal des Anspruchs 1 ist, dass "die Regel­kreisparameter ... in Abhängigkeit von einer Ge­schwin­digkeit (54) der virtuellen Leitachse bestimmt werden"

Absatz [0014] (veröffentlichte Fassung der Anmeldung) offenbart einerseits, dass eine virtuelle Leitachse ei­ne Alternative zu einer realen Leitachse ist und ande­rer­seits, dass die Regelparameter auf die jeweilige Leit­achse bezogen sind. Der Fachmann, der die Anmeldung als Ganzes liest, wird diese Lehre auch auf die unmit­tel­bar folgen­den Absätze beziehen, sofern diese nicht explizit davon abgehen.

Absatz [0015] lautet "Die Zeitkonstante der Regel­strecke ist proportional zu dem Kehrwert der Ge­schwin­digkeit der Warenbahn. Daher ist es vorteilhaft, wenn die Regelkreisparameter gemäß einer hyperbolischen Kenn­linie in Abhängigkeit von der Leitachsgeschwindig­keit der Warenbahn bestimmt werden" (Hervorhebung durch die Kammer). Somit wird die hyperbolische Kennlinie aus­drücklich als spezieller Fall der allgemeinen Ab­hängigkeit von der Geschwindigkeit der gegebenenfalls virtuellen Leitachse (gemäß Absatz [0014]) betrachtet. Gleiches gilt für die Offenbarung im Absatz [0016], wo­nach eine stückweise aus Funktionen zusammengesetzte Kennlinie in Abhängigkeit von der Leitachsgeschwindig­keit als "besonders einfach zu realisierende Ausfüh­rungs­form" gewählt werden kann. Aus der Tatsache, dass diese beiden Ausführungsformen als (besonders) vor­teilhaft beschrieben werden, wird der Fachmann somit nicht ableiten, dass nur diese vom Offenbarungsgehalt des Streitpatents umfasst werden. Er wird vielmehr aus diesem Wortlaut verstehen, dass noch weitere Ausfüh­rungs­formen der Regelkreisparameterabhängigkeit bezüg­lich der Leitachsgeschwindigkeit von der Erfindung er­fasst sind.

Die Frage, wie diese allgemei­neren Kenn­linien aussehen, erschließt sich dem Fachmann beim Lesen des ur­sprüngli­chen An­spruchs 1, wonach die Regelkreispara­me­ter des Bahn­spannungsreglers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie bestimmt werden.

Vor dem Hintergrund der gesamten Offenbarung insbeson­dere der Abschnitte [0014] bis [0018] ist dem Fachmann somit aus den oben beschriebenen Gründen klar, dass die in den Abschnitten [0015] und [0016] beschriebenen Aus­führungsformen der Kennlinie spezielle sind, dass wei­tere, allgemeinere Formen vom Offenbarungsgehalt mit erfasst sind, und wie diese weiteren, allgemeineren Aus­führungsformen aussehen.

Somit bildet das Merkmal, dass "die Regelkreisparameter des Bahnspannungsreglers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie in Abhängigkeit von einer Geschwindigkeit der virtuellen Leitachse bestimmt werden" keine Erweiterung des Offen­barungsgehaltes.

Folglich erfüllt der Gegenstand des Anspruchs 1 das Erfordernis des Arti­kels 123(2) EPÜ.

4. Artikel 100 b) EPÜ 1973

4.1 Die Offenbarung des Streitpatents wendet sich an den Fachmann und der Fachmann ist in diesem Fall ein mit der Bahnspannungsregelung von bahnverarbeitenden Ma­schinen vertrauter Ingenieur.

PI bzw. PID Regelkreise gehören zu den Grundlagen der Regeltechnik. Es gehört somit zum üblichen Han­deln des Fachmanns, die entsprechenden Regel­kreis­pa­ra­me­ter

- Proportional-Anteil, Kp

- Integral-Anteil Ki und

- Differenzial-Anteil Kd

eines PID-Reglers entspre­chend der Anwendung zu be­stim­men, bzw. geeignete Re­gel­kreisparameter vorzugeben.

Der Fachmann kennt auch die unterschiedlichen Begriffe, die je nach Anwendungs­gebiet hierbei verwendet werden, und erkennt, dass die in dem Streitpatent verwendeten Begriffe Proportional-Anteil und P-Verstärkung Synonyme sind.

Auch ein Ver­ständnis des Be­griffs "Funktion", um z.B. eine Abhän­gigkeit eines Regel­kreis­pa­ra­me­ters von einer Ge­schwindigkeit mathematisch darzustellen, gehört zu den (mathema­ti­schen) Grundkenntnissen des Fachmanns. So versteht der Fachmann auch, dass eine an mehreren Stütz­stellen vorgebbare Kennlinie einer besonderen Aus­gestaltung einer Funktion entspricht. Im Ausführungs­bei­spiel wird dies bei­spielhaft an Hand des Propor­tio­nal-Anteils (P-Ver­stär­kung) offenbart. Weiter weiß der Fachmann, dass wenn er eine Funktion, wie sie im Aus­füh­rungsbeispiel der Figur 2 exemplarisch darge­stel­lt ist, umsetzen wolle, er für einen auf der Abszisse an­gesiedelten Wert jeweils maximal einen auf der Or­di­nate angesiedelten Wert aufweisen darf. Der Fach­mann liest das Streitpatent mit dem Willen, es zu ver­stehen und nicht mit dem Willen, es zu missverstehen.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Konkrete Zahlenwerte sind von der konkreten Ausführung der jeweils zu regelnden Anlage abhängig und sind von Anlage zu Anlage verschieden. Der Fachmann kennt die üblichen Werte für die Leitachs­ge­schwindigkeit und die Reglerverstärkung und er kann die Erfindung mit diesen Werten ausführen. Einen auf die übliche Weise ermittel­ten Regel­kreisparame­ter von der Ge­schwin­digkeit einer virtuellen Leitachse abhängig zu gestalten, stellt kei­ne Schwie­rig­keiten für den Fachmann dar, der bereits im Rahmen seines üb­lichen Han­delns fähig ist, die Regel­kreis­pa­ra­me­ter eines PID-Reglers entspre­chend der Anwendung zu be­stim­men. Das­selbe gilt für die Integral- und Diffe­rentialan­teile des Reglers, denn auch diese Parameter sind dem Fach­mann auch aus seinem allgemeinen Fachwissen bekannt und sie sind für ihn zumindest auf die übliche Weise zu er­mit­teln. Der Fach­mann vervoll­ständigt die im Streitpatent enthal­te­nen In­for­mationen mit seinem allgemeinen Fachwissen.

Es wurden keine Widersprüche in der Beschreibung von der Beschwerde­führerin hervorgehoben.

Somit ist nicht nachvollziehbar, warum der Fachmann die Erfindung nicht so ausführen können sollte, dass die Regelkreis­parameter (Proportional-Anteil, Integral-Anteil und ge­ge­benenfalls Differenzial-Anteil) eines PI- bzw. PID-Bahnspannungs­reglers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie in Ab­hängigkeit von einer Geschwindigkeit der virtuellen Leit­achse bestimmt werden.

Somit ist die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Arti­kel 83 und 100 b) EPÜ 1973).

5. Neuheit des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag gegenüber der Druck­schrift E8

5.1 Die Druckschrift E8 war bereits im Einspruchsverfahren. Die Einspruchsentscheidung setzt sich mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift E8 (dort D1 benannt) auseinander (Punkt 2.2.5.1). Die Kammer sieht keinen Grund, den mit der Beschwerde­be­grün­dung vorgebrachten Einwand der mangelnden Neuheit zum Ver­fahren nicht zuzulassen (Artikel 12(2) und 12(4) VOBK). Dieser Punkt wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer von der Beschwerdegegnerin auch nicht mehr bestritten.

5.2 In der Einspruchsbegründung führte die Beschwerdefüh­rerin aus, dass sich der Gegenstand des erteilten An­spruchs 1 von der Druckschrift E8 durch das Merkmal "dass die Antriebe mittels einer virtuellen Leitachse ge­steuert werden" unterscheidet (Einspruchsbegründung, Seite 6 von 8, letzter Absatz).

5.3 Der zum Merkmal der "virtuellen Leitachse" von der Be­schwer­de­füh­rerin zitierte Absatz [0026] der Druck­schrift E8 sagt lediglich aus, dass es vor­teil­haft ist, den Bahnspannungssollwert FSOLL bzw. in besonders bevor­zugter Weise den Drehzahlleitsollwert NSOLL der Re­ge­lungsein­richtung über einen schnellen Bus zuzu­führen. Ansonsten geht der zitierte Absatz nur auf die mö­gli­chen Vorteile eines Bus-Systems ein.

Im Absatz [0026] ist keine virtuelle Leit­achse erwähnt und es wurde nicht dargelegt, was der Fachmann aus die­sem Absatz direkt und unmittelbar bezüglich Anspruch 1 entnehmen soll.

Wenn ein "schneller Bus" zur Übertragung von Sollwerten eingesetzt wird, wird dadurch noch keine Angabe ge­macht, ob die Antriebe mittels einer virtuellen Leit­achse gesteuert werden.

5.4 Absatz [0016] und Figur 5 der Druckschrift E8 offenba­ren lediglich Kennlinien 1, 2, und 3 für verschiedene Rege­lungen. Eine PI-Regelung oder PID-Regelung bzw. die Be­stimmung deren Propor­tional-, Integral- und Dif­fe­ren­tial-Anteile wird an dieser zur allgemeinen Dis­kus­sion gehörenden Stelle nicht angesprochen.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Es ist nicht offenbart, dass die Regelkreis­pa­ra­meter als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgeb­ba­ren Kennlinie in Abhän­gig­keit von einer Geschwin­dig­keit einer virtuellen Leitachse bestimmt werden.

5.5 Der im Absatz [0032] angesprochene PI-Regelalgorithmus dient dazu, "einen Nach- oder Voreilungswert zu gewin­nen". Dieser Wert "wird zu dem Drehzahlleitsoll­wert NSOLL addiert bzw. von diesem subtrahiert, und das erhal­tene Ergebnis wird als Eingangsgröße einer Rege­lung der Drehzahl eines Antriebsmotors verwen­det" (Fett­druck durch die Kammer hinzugefügt). Somit dient der im Absatz [0032] angesprochene PI-Regelalgo­rith­mus nur zur Berechnung einer der Eingangsgrößen der eigent­lichen Regelung "der Drehzahl eines Antriebs­mo­tors".

5.6 Die Druckschrift E8 setzt sich vorwiegend mit der ge­ei­gneten Wahl und Kombination der Eingangsgrößen der ei­gent­lichen Regelungen auseinander (Absätze [0030] bis [0032]), aber geht dabei nicht auf die Para­meter der Regelun­gen "bekannter Art" ein (Absatz [0010], letzter Satz).

Somit geht aus der Druckschrift E8 nicht direkt und un­mit­telbar hervor, dass die Regelkreis­para­meter (Pro­portional-Anteil, Integral-Anteil und gegebe­nen­falls Differenzial-Anteil) des Bahnspannungs­reglers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stütz­stel­len vorgebbaren Kennlinie in Abhängigkeit von einer Ge­schwin­digkeit der virtu­el­len Leitachse be­stimmt werden.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit neu gegenüber der Druckschrift E8 (Artikel 54 EPÜ 1973).

6. Zulassung des Einwands der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom Handbuch D3

Die Einspruchsentscheidung befasst sich im Abschnitt 2.2.5.2 mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit aus­gehend vom Handbuch D3.

Die Beschwerdebegründung erwähnt die Handbücher D3, D5 und D7 zusammen mit einem allgemeinen Verweis auf die Argumen­ta­tion aus dem Ein­spruchsschrift­satz (Be­schwer­debegrün­dung, Seite 14, Abschnitt "Die Dokumente D3, D5 und D7"). Ein Einwand der fehlenden erfin­derischen Tä­tigkeit aus­gehend vom Handbuch D3 ist daraus nicht erkenntlich (Artikel 12(2) VOBK).

Dieser Einwand wurde erst während der münd­li­chen Ver­hand­lung vor der Beschwerdekammer vor­gebracht. Er geht somit über den mit der Beschwerdebe­grün­dung fest­ge­leg­ten Umfang der Beschwerde hinaus und stellt eine Ände­rung des Vorbringens der Beschwerdeführerin dar. Die Zu­lassung solches geänderten Vorbringens unterliegt dem Ermessen der Kammer (Artikel 13(1) VOBK).

Da sich die Einspruchsentscheidung schon mit diesem Ein­wand befasst (Abschnitt 2.2.5.2), hatte die Be­schwer­deführerin bereits Veranlassung, ihren Vortrag diesbezüglich in der Be­schwer­debegrün­dung vollständig darzulegen. Diese neue Argumentation erst während der münd­li­chen Ver­hand­lung vor der Beschwerdekammer vorzubringen ist der Beschwerdegegnerin nicht mehr zumutbar, da diese keine Gelegenheit hatte, sich auf diesen Einwand entspre­chend vorzubereiten. Es gab auch keine Begründung für das späte Vorbringen seitens der Be­schwer­deführerin.

Die Kammer lässt aus den voranstehenden Gründen diesen spät vorgetragenen Einwand der fehlenden erfin­deri­schen Tätigkeit ausgehend vom Handbuch D3 nicht zum Verfahren zu (Artikel 13(1) VOBK).

7. Erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift E8 in Kombination Fachwissen

7.1 Die Druckschrift E8 bildet den nächstliegenden Stand der Technik.

7.2 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich davon dadurch,

- dass die Antriebe der Transport­ein­richtung mittels einer virtuellen Leitachse gesteuert wer­den; und

- dass die Regelkreisparameter des Bahnspannungs­reg­lers gemäß einer als Funktion und/oder an mehreren Stützstellen vorgebbaren Kennlinie in Abhängigkeit von einer Geschwindigkeit der virtuellen Leitachse bestimmt werden,

- wobei mit dem Bahnspannungsregler eine PI-Rege­lung vorgenommen wird und als Regelkreis­parameter der Proportional- und/oder der Integral-Anteil des PI-Reglers bestimmt werden oder

- wobei mit dem Bahnspannungsregler eine PID-Rege­lung vorgenommen wird und als Regelkreis­parameter der Proportional- und/oder der Integral- und/oder der Differential-Anteil des PID-Reglers bestimmt werden.

7.3 Die technische Wirkung dieser Unterschiede besteht in einer verbes­serten Regelung der Bahnspannung (Streit­patent, Absätze [0013] und [0014]).

7.4 Die entsprechende objektive Aufgabe besteht darin, ausgehend von der Druckschrift E8 die Regelung der Bahnspannung zu verbessern.

7.5 Im Laufe der mündlichen Verhandlung stimmen die Par­tei­en darin überein, dass der Ein­satz der einer virtuellen Leitachse im Bereich der Druckmaschinen zum allgemeinen Fachwissen des Fachmanns gehört, und dass eine (be­rech­nete) virtuelle Leitachse vorteilhafterweise Un­ge­nauig­keiten in der Messwerteerfassung vermeidet. Das hierfür von der Beschwerdeführerin angeführte Handbuch D5 ist somit nicht mehr entscheidungsrelevant.

7.6 Präsentationsunterlagen P1

Es ist zwischen den Parteien strittig, ob eine ge­schwin­digkeitsabhängige Anpassung des Proportional-Anteils zum Stand der Technik gehört. Eine entspre­chen­de Aussage findet sich zwar im Streitpatent (Spalte 1, Absatz [0004], Zeilen 44 bis 46), aber es wurde seitens der Beschwerdegegnerin angezweifelt, dass es sich dabei um öffentlich zugänglichen Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 EPÜ 1973 handelt. Die Beweislast liegt somit bei der Beschwerdeführerin.

Während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerde­kammer wurden erstmals die Präsentationsunterlagen P1 dies­be­züg­lich vorgelegt. Die Zulassung dieser Änderung des Vorbringens der Beschwerdeführerin unterliegt dem Ermessen der Kammer (Artikel 13(1) VOBK).

Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, han­delt es sich auf Blatt 9 um eine Aussage des Erfin­ders des Streitpatents, welche nicht durch weitere Belege bestätigt wird. Zudem ist das späte Vorbringen erst während der mündlichen Verhandlung vor der Be­schwerde­kammer der Beschwerdegegnerin nicht zumutbar, weil sie dadurch keine ausreichende Gelegenheit hat, sich darauf angemessen vorzubereiten (Artikel 13(3) VOBK).

Die Einspruchsentscheidung befasst sich im Abschnitt 2.2.5.1 bereits mit der Frage der erfinderischen Tä­tig­keit aus­gehend von der Druckschrift E8. Die Beschwer­de­führerin hatte also einen Anlass einen vollständigen Vor­trag diesbezüglich bereits mit der Beschwerdebe­grün­dung vorzulegen (Artikel 12(2) und 12(4) VOBK). Das späte Vorbringen wurde zudem nicht begründet.

Die Kammer lässt aus den voranstehenden Gründen die Prä­sentationsunterlagen P1 nicht zum Verfahren zu (Artikel 13(1) und 13(3) VOBK).

7.7 Naheliegen

Sofern der Ein­satz einer virtuellen Leitachse im Be­reich der Druckmaschinen zum allgemeinen Fachwissen des Fachmanns gehört und eine berechnete virtuelle Leit­achse vorteilhafterweise Un­genauigkeiten in der Mess­wert­erfassung vermeidet, kann der Einsatz einer vir­tu­el­len Leit­achse an sich keine erfinderische Tätigkeit be­grün­den. Der Fachmann würde diese Technik bei Bedarf ent­sprechend anwenden.

Selbst wenn zugunsten der Beschwerdeführerin angenommen wird, dass eine ge­schwin­digkeitsabhängige Anpassung des Proportional-Anteils zum Stand der Technik gehört, so gelangt der Fachmann noch nicht zum Anspruchsgegen­stand, weil er sich von der Ge­schwin­digkeit einer der real vorhan­denen Antriebsachsen zugunsten der der vir­tuellen Leit­achse abwenden müsste.

Wie auch von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich der Fachmann zur Lösung der Aufgabe, eine verbes­serte Regelung der Bahn­spannung bereitzustellen, zwingend der Anpassung der Regelkreisparameter der PI- bzw. PID-Regler zuwenden würde.

Zudem bedarf es noch des weiteren Schritts sich zur Bestimmung der Regelkreisparameter auf die Ge­schwin­digkeit der virtuellen Leit­achse zu beziehen. Auch für diesen Schritt gibt es ohne eine rückschauende Betrach­tungsweise keinen Hinweis im Stand der Technik.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist für den von der Druck­schrift E8 ausgehenden Fachmann daher nicht nahe­liegend. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht auf ei­ner erfin­derischen Tätigkeit (Artikel 56 und 100 a) EPÜ 1973).

8. Druckschriften D3, D5 und D7

Der allgemeine Verweis in der Beschwerdebegründung auf die Handbücher D3, D5 und D7 und auf die Argumentation aus dem Ein­spruchsschrift­satz, entspricht nicht den Anfor­derungen einer Beschwerdebegründung nach Artikel 12(2) der Ver­fah­rensordnung der Beschwerdekammern (VOBK). Konkrete Einwände die durch die Handbücher D3, D5 und D7 gestützt sind, sind aus der Beschwerde­be­gründung nicht erkennbar.

9. Da der Hauptantrag der Beschwerdegegnerin gewährbar ist, ist auf die Hilfsanträge nicht mehr einzugehen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage der folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1 und 2 mit Datum vom 14 Februar 2013, eingereicht mit Schreiben vom 21. Februar 2013;

- Beschreibung, Seiten 2, 4 und 5 der Patentschrift;

- Beschreibung, Seite 3 der Patentschrift, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung am 30. November 2017;

- Zeichnungen 1 bis 3 der Patentschrift.

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