European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2017:T024214.20170406 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 06 April 2017 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0242/14 | ||||||||
Anmeldenummer: | 03729697.7 | ||||||||
IPC-Klasse: | E01B 7/02 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | WEICHE MIT VERSTÄRKTER ZUNGENSCHIENE | ||||||||
Name des Anmelders: | VAE EISENBAHNSYSTEME GMBH VAE GmbH |
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Name des Einsprechenden: | Schreck-Mieves GmbH VOSSLOH COGIFER (S.A.) Deutsche Bahn AG |
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Kammer: | 3.2.03 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 1 516 091 (im Folgenden: "Patent") betrifft eine Weiche mit einem Stammgleis und einem Zweiggleis.
II. Gegen das Patent im gesamten Umfang wurden drei Einsprüche eingelegt. Als Einspruchsgründe wurden mangelnde Neuheit sowie mangelnde erfinderische Tätigkeit geltend gemacht (Artikel 100 a) EPÜ).
III. Am Ende der mündlichen Verhandlung am 12. November 2013 entschied die Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 in der erteilten Fassung nicht neu sei und das Patent in geändertem Umfang gemäß Hilfsantrag I den Erfordernissen des EPÜ genüge.
IV. Die Patentinhaberinnen und die Einsprechende 2 haben jeweils Beschwerde gegen diese Zwischenentscheidung eingelegt.
V. Die Einsprechende 1 hat mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2013 ihren Einspruch zurückgenommen und ist mithin an diesem Verfahren nicht mehr beteiligt.
VI. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) teilte die Kammer ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde mit.
VII. Die mündliche Verhandlung fand am 6. April 2017 in Anwesenheit der Patentinhaberinnen und der Einsprechenden 2 statt. Die ordnungsgemäß geladene Einsprechende 3 war nicht erschienen. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
VIII. Anträge
Die Patentinhaberinnen beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form auf der Basis eines der mit der Beschwerdeerwiderung vom 18. August 2014 als Hilfsanträge I bis V eingereichten Anspruchssätze.
Die Einsprechende 2 beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
IX. Patentansprüche
Der erteilte Patentanspruch 1 lautet folgendermaßen:
"1. Weiche mit einem Stammgleis und einem Zweiggleis, wobei jeweils eine Schiene eines jeden Gleises als Zungenschiene ausgebildet und in Anlage an die jeweilige Backenschiene bewegbar ist, wobei wenigstens eine Backenschiene (1) im Bereich ihrer
Anlage an die Zungenschiene (2) mit einer im Vergleich zum außerhalb der Anlage liegenden Bereich verringerten Breite des Schienenkopfes ausgebildet ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Breite des Backenschienenkopfes ausgehend von der Zungenspitze (3) bis zu einem Punkt (4) innerhalb des Anlagebereichs, an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene (2) in Berührung kommt, abnimmt und im daran anschließenden Anlagebereich zunimmt und dass die Zungenschiene (2) zur Backenschiene (1) hin entsprechend der Verringerung der Breite des Backenschienenkopfes im Querschnitt verstärkt ausgebildet ist."
Die abhängigen Patentansprüche 2 bis 10 betreffen besondere Ausführungsformen der im Anspruch 1 definierten Weiche.
X. Beweismittel
In ihren Beschwerdebegründungen nahmen die Patentinhaberinnen und die Einsprechende 2 auf folgende bereits im Zuge des Einspruchsverfahrens eingereichte und in der angefochtenen Entscheidung genannte Entgegenhaltung Bezug:
D3: Auszug aus "Oberbau-Richtlinien und Oberbau-Zusatzrichtlinien (OR/OR-Z) des VDV für Bahnen nach der BOStrab", VDV-Schrift 600, Blatt 01 (im Folgenden "D3.1") und Blatt 02 (im Folgenden "D3.2"), Dezember 1995
Die Patentinhaberinnen haben folgendes Dokument in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht:
D3a: Maßstabsgetreue Darstellung der Backenschiene mit der anliegenden, eingelassenen Zungenschiene im Schnitt gemäß Ansicht A von D3.1
In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Einsprechende 2 folgende Dokumente eingereicht:
D21a: Auszug aus "Modern Railway Track", C. Esveld, 2. Auflage, 2001, MRT-Productions, Deckblatt, Seiten 17 und 20
D3b: Maßstabsgetreue Darstellung der möglichen Lage des ersten Kontakts des Laufrades mit der eingelassenen Zungenschiene in D3.1
XI. Das schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Patentinhaberinnen und der Einsprechenden 2 lässt sich, soweit es für diese Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
a) Neuheit
Vorbringen der Patentinhaberinnen:
Entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung sei der Gegenstand von Anspruch 1 im Hinblick auf die in D3.1 offenbarte Rillenschienenweiche für Straßenbahnen neu.
Insbesondere seien dort die Merkmale des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 nicht offenbart, wonach "die Breite des Backenschienenkopfes ausgehend von der Zungenspitze bis zu einem Punkt innerhalb des Anlagebereichs, an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene in Berührung kommt, abnimmt und im daran anschließenden Anlagebereich zunimmt und dass die Zungenschiene zur Backenschiene hin entsprechend der Verringerung der Breite des Backenschienenkopfes im Querschnitt verstärkt ausgebildet ist".
Bei dem hier genannten Punkt handle es sich nicht um einen genauen mathematischen Punkt, sondern um den Bereich der ersten seitlichen Berührung des Spurkranzes des Laufrades mit der Zungenschiene, wie in der Beschreibung des Patents bestätigt werde (siehe Absätze 14 und 15 der Patentschrift; Bereich 4 in Figur 1).
In Ansicht A von D3.1 bezeichne die "Spurmeßebene" diejenige Ebene, in der vorschriftsgemäß der Spurkranz des Laufrades die Schiene berühre, so dass sich eine Berührung entlang der Fahrkante ergebe. Den Normen entsprechend sei bei der in D3.1 offenbarten Rillenschienenweiche die Spurmeßebene 10 mm unterhalb der gemeinsamen Fahrflächentangente (GFT) angeordnet. In der Praxis könne sich die Berührung der Schiene durch den Spurkranz geringfügig ober- oder unterhalb der Spurmeßebene ergeben, z. B. weil sich das ursprünglich hergestellte Schienenprofil durch Verschleißerscheinungen verändert hat oder weil die Schiene nicht mit dem vorschriftsgemäßen Laufrad befahren wird (siehe dazu Figur 6 der Patentschrift bzw. Dokument D3a).
Ansicht A von D3.1 zeige, dass an der Zungenspitze die Zungenschiene 6 mm unterhalb der gemeinsamen Fahrflächentangente (GFT) liege. Die Zungenschiene reiche somit bereits an der Zungenspitze weit in den Bereich der Spurmeßebene hinein. Dies werde durch das Dokument D3a bestätigt, das eine maßstabsgetreue Darstellung von Ansicht A zeigt. Es sei daher davon auszugehen, dass der Spurkranz des Laufrades bereits an der Zungenspitze seitlich auf die Zungenschiene auflaufe, und dies selbst wenn die Berührung knapp ober- oder unterhalb der Spurmeßebene erfolgen sollte. Damit sei in D3.1 nicht offenbart, dass die erste seitliche Berührung in jenem Bereich stattfinde, wo der Schienenkopf der Backenschiene eine Einlassung von 9 mm und die Zungenschiene eine entsprechende Verdickung von 9 mm aufweisen.
Die Einsprechende 2 habe keinen Nachweis für die Behauptung erbracht, dass in der Praxis aufgrund des Spurspiels und des Sinuslaufes des Laufrades die seitliche Berührung des Laufrads mit der Zungenschiene nicht bereits an der Zungenspitze erfolgen werde, sondern erst im Bereich der Einlassung, die 80 mm beabstandet von der Zungenspitze angeordnet ist. Die von der Einsprechenden 2 vorgelegte schematische Darstellung D3b der möglichen Lage der seitlichen Berührung in der Weiche nach D3.1 gehe von falschen Annahmen voraus. Ein relativ großes Spurspiel von 9 mm sei für die Normalspur der Vollbahnen fachüblich (siehe D21a, Seite 17, Spurweite von 1435 mm und Spurmaß von 1429 mm), nicht aber bei Rillenschienenweichen für Straßenbahnen der in D3.1 offenbarten Gattung. Ein Sinuslauf des Laufrades trete bei einem konischen Radprofil auf (siehe D21a, Seite 20), nicht aber bei einem zylindrischen Radprofil. Bei Straßenbahnen würden üblicherweise Laufräder mit einem zylindrischen Radprofil eingesetzt und es ergebe sich dann kein Sinuslauf. Im Übrigen werde bei der Rillenschienenweiche gemäß D3.1 ein Sinuslauf des Laufrades durch die Leitschiene verhindert, die in Ansicht A und Schnitt B-B gezeigt ist.
Vorbringen der Einsprechenden 2:
Im kennzeichnenden Teil von Anspruch 1 werde auf einen Punkt Bezug genommen, "an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene in Berührung kommt". Dieser Berührungspunkt sei unklar definiert. Insbesondere werde er in den Absätzen 14 und 15 der Patenschrift abwechselnd "Stelle" und "Bereich" genannt. Wie im ähnlich gelagerten Fall T 1049/99 dürfe der beanspruchte Gegenstand nicht auf der Grundlage dieses unklaren Merkmals als neu gegenüber D3.1 angesehen werden.
Darüber hinaus seien die Merkmale des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 in D3.1 zumindest implizit offenbart, und dies aus folgenden Gründen.
Wie von der Einspruchsabteilung festgestellt, sei der Berührungspunkt kein mathematischer Punkt, sondern der Bereich des ersten Kontaktes des Laufrades mit der Zungenschiene. In der Praxis könne dieser Bereich entlang der Zungenschiene aufgrund vieler Einflussfaktoren wandern, insbesondere aufgrund der Radgeometrie, des Sinuslaufes des Laufrades und des Spurspiels zwischen Spurweite und Spurmaß. Die tatsächliche Lage des ersten Kontaktes hänge also u. a. von der Geometrie des Laufrades ab, das nicht Teil des beanspruchten Gegenstands sei.
Die in D3.1 dargestellte Weiche sei so ausgebildet, dass in der Praxis unter bestimmten Umständen die erste seitliche Berührung zwischen Laufrad und Zungenschiene genau dort stattfinden würde, wo die Backenschiene eine Einlassung von 9 mm aufweist. So sei errechnet worden, dass bei einer Weiche gemäß D3.1 mit einem Radius von 25 m und einem fachüblichen Spurspiel von 10 mm (siehe D21a, Seite 17) die erste Berührung aufgrund des Sinuslaufs auf jeden beliebigen Punkt eines 510 mm langen Bereichs, der sich von der Zungenspitze weg erstreckt, und somit unter anderem im Bereich der Einlassung erfolgen könne, die 80 mm hinter der Zungenspitze angeordnet ist. Die Weiche von D3.1 sei weder zur Verwendung mit Laufrädern mit einem zylindrischen Radprofil noch zum Einbau in Straßenbahnen beschränkt. Erstens sei in D3a gezeigt, dass das Laufrad ein konisches Radprofil haben könne. Zweitens gehe aus D3.1 explizit hervor, dass ein Radius von 150 m möglich sei, und damit sei die Weiche von D3.1 ohne weiteres zum Einbau in Vollbahnen geeignet.
b) Erfinderische Tätigkeit
Vorbringen der Einsprechenden 2:
Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheide sich von D3.1 nur darin, dass die erste seitliche Berührung des Spurkranzes des Laufrades mit der Zungenschiene genau dort erfolge, wo die Backenschiene eine Einlassung von 9 mm und die Zungenschiene eine entsprechende Verdickung aufweise.
Die zu lösende Aufgabe ausgehend von D3.1 liege daher darin, die dort offenbarte Weiche so weiterzuentwickeln, dass die Bruchgefahr vermindert wird (siehe Absatz 5 der Patentschrift).
Der Fachmann erkenne auf Anhieb, dass diese Aufgabe gelöst werden könnte, wenn die erste seitliche Berührung dort stattfinden würde, wo die Zungenschiene am meisten verstärkt ist, nämlich wo sie eine Verdickung von 9 mm aufweist. Um diese Änderung zu bewerkstelligen würde er das nächste Blatt von D3 heranziehen (D3.2), das eine ähnliche Weiche mit einer unterschlagenden Zungenschiene zeigt. Im Lichte von D3.2 (Ansicht A und Schnitt B-B) würde der Fachmann in D3.1 die Zungenspitze so weit absenken, dass die erste seitliche Berührung im Idealfall dort erfolgt, wo die Zungenschiene die Verdickung von 9 mm aufweist. So würde er in naheliegender Weise zum beanspruchten Gegenstand gelangen.
Vorbringen der Patentinhaberinnen:
Der Anspruch 1 unterscheide sich von D3.1 durch die Merkmale des kennzeichnenden Teils. Ausgehend von D3.1 sei es die Aufgabe der beanspruchten Erfindung, die Verschleißfestigkeit der Zungenschiene und ihre Liegedauer zu erhöhen und die Bruchgefahr zu vermindern (siehe Absätze 5 und 6 der Patentschrift). Weder D3.1 noch D3.2 liefere einen Hinweis, zur Lösung der Aufgabe die in D3.1 offenbarte Weiche mit den Merkmalen des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 zu versehen. Insbesondere habe der Fachmann keine Veranlassung die Lage der ersten seitlichen Berührung von der Zungenspitze bis hin zu der Einlassung zu versetzen, die 80 mm hinter der Zungenspitze angeordnet ist.
XII. Die Einsprechende 3 hat im Lauf des Beschwerdeverfahrens hinsichtlich der Beschwerden, insbesondere des Hauptantrags der Patentinhaberinnen, keine Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
1. Zulassung der Dokumente D3a, D3b und D21a zum Verfahren
1.1 Die Dokumente D3a, D3b und D21a wurden erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und damit in einem sehr späten Verfahrensstadium eingeführt.
1.2 Die Einreichung von D3a und D3b stellt jedoch eine sachdienliche Reaktion der Patentinhaberinnen und der Einsprechenden 2 auf die Feststellung der Kammer in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK dar, dass dem Dokument D3.1 keine maßstabsgetreue Darstellung der Weiche entnehmbar sei (siehe Punkt 6.3 der Mitteilung). So zeigen D3a und D3b jeweils eine maßstabsgetreue Darstellung der Backenschiene und der eingelassenen Zungenschiene gemäß D3.1.
1.3 Die Einsprechende hat das Dokument D21a zum Nachweis des allgemeinen Fachwissens eingereicht, dass sich aufgrund des Spurspiels ein sogenannter "Sinuslauf" des Fahrzeugs einstellen kann.
1.4 Diese Dokumente sind jeweils hochrelevant für die Frage der Neuheit bzw. der erfinderischen Tätigkeit der Erfindung und dienen nur dazu, das erstinstanzliche Vorbringen der Beteiligten zu untermauern.
1.5 Die Kammer entschied daher, diese Dokumente in das Verfahren zuzulassen und zu berücksichtigen (Artikel 114 (2) EPÜ und Artikel 13 (1) VOBK).
2. Auslegung von Patentanspruch 1
2.1 Der kennzeichnende Teil von Anspruch 1 verlangt unter anderem, dass die größte Verstärkung der Zungenschiene und die geringste Breite des Backenschienenkopfes an jenem Punkt des Anlagebereichs positioniert sind, "an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene in Berührung kommt". Es ist zwischen den Beteiligten streitig, wie dieses Merkmal des Anspruchs 1 auszulegen ist.
2.2 Dieses Merkmal ist im Gesamtzusammenhang des Anspruchs 1 zu lesen. Ein fachkundiger Leser von Anspruch 1 erkennt aufgrund seines allgemeinen Fachwissens auf Anhieb, dass der in diesem strittigen Merkmal erwähnte Berührungspunkt kein Punkt im mathematischen Sinne ist, sondern der sensible Bereich des Überganges/Auflaufens des Laufrades auf die Zungenschiene, wo die seitlichen Richtkräfte wirken. Insbesondere weiß der Fachmann, dass in der Praxis der Berührungspunkt aufgrund vieler Einflussfaktoren, wie insbesondere Sinuslauf, Radgeometrie und Verschleiß, wandern kann. Der Berührungspunkt gleicht mithin eher einer Fläche als einem mathematischen Punkt.
2.3 Das strittige Merkmal ist demnach sinnvoll nur so zu verstehen, dass die größte Verstärkung der Zungenschiene und die geringste Breite des Backenschienenkopfes im sensiblen Bereich des Überganges des Laufrades von der Backenschiene auf die Zungenschiene positioniert sind.
2.4 Im Übrigen wird dieses technische Verständnis durch die Lehre des Patents bestätigt (in der Patentschrift siehe Spalte 2, Zeilen 49 bis 52; Spalte 3, Zeilen 57 und 58; Spalte 4, Zeilen 45 und 46; Spalte 5, Zeilen 35, 36 und 42 bis 44; Bereich 4 in den Zeichnungen).
3. Patentanspruch 1 - Neuheit
3.1 D3.1 (nachfolgend wiedergegeben) zeigt die ausgearbeite Backenschiene und die darin eingelassene Zungenschiene einer Rillenschienenweiche für Straßenbahnen. In diesem Zusammenhang ist implizit offenbart, dass die Weiche ein Stammgleis und ein Zweiggleis aufweist, wobei jeweils eine Schiene eines jeden Gleises als Zungenschiene ausgebildet und in Anlage an die jeweilige Backenschiene bewegbar ist. In der oberen Figur von D3.1 ist gezeigt, dass die Backenschiene im Bereich ihrer Anlage an die Zungenschiene mit einer im Vergleich zum außerhalb der Anlage liegenden Bereich verringerten Breite des Schienenkopfes ausgebildet ist. Aus der Zusammenschau der beiden oberen Figuren von D3.1 ist ersichtlich, dass die Breite des Backenschienenkopfes ausgehend von der Zungenspitze bis zu einer minimalen Breite abnimmt, wo der Backenschienenkopf 9 mm eingefräst ist und die Zungenschiene in der Backenschiene eingelassen ist, wobei der Abstand zwischen der Einlassung und der Zungenspitze 80 mm beträgt. Im daran anschließenden Anlagebereich nimmt die Breite des Backenschienenkopfes zu. Die Zungenschiene ist zur Backenschiene hin entsprechend der Verringerung der Breite des Backenschienenkopfes im Querschnitt verstärkt ausgebildet. So weist die Zungenschiene im Bereich der Einlassung eine Verdickung von 9 mm auf, die der Einfräsung des Backenschienenkopfes entspricht.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
3.2 Es ist zwischen den Beteiligten streitig, ob in D3.1 das Merkmal des Anspruchs 1 offenbart ist, wonach die größte Verstärkung der Zungenschiene und die geringste Breite des Backenschienenkopfes an jenem Punkt des Anlagebereichs positioniert sind, "an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene in Berührung kommt".
3.3 Die Einsprechende 2 macht im Wesentlichen geltend, dass dieses Merkmal in D3.1 verwirklicht sei, weil in der Praxis der Übergang des Laufrades von der Backenschiene auf die Zungenschiene in jenem Bereich erfolgen kann bzw. könnte, wo die 9 mm Einlassung der Zungenschiene in der Backenschiene vorgesehen ist.
3.4 Aus folgenden Gründen vermag der diesbezügliche Vortrag der Einsprechenden 2 nicht zu überzeugen.
3.4.1 Aus dem Dokument D3a (nachfolgend wiedergegeben), welches eine maßstabsgetreue Darstellung der Backenschiene mit der anliegenden, eingelassenen Zungenschiene gemäß Ansicht A von D3.1 zeigt, geht klar hervor, dass die Zungenschiene bereits an ihrer Spitze deutlich oberhalb der Spurmeßebene hineinreicht, die 10 mm unterhalb der gemeinsamen Fahrflächentangente (GFT) der beiden Schienen liegt. Unter idealisierten Radführungsbedingungen läuft der Spurkranz des Laufrads mithin bereits an der Zungenspitze seitlich auf die Zungenschiene auf, nicht aber erst im Bereich der 9 mm Einlassung, die 80 mm beabstandet von der Zungenspitze angeordnet ist.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
3.4.2 Die Kammer kann der Einsprechenden 2 und der Einspruchsabteilung insoweit folgen, dass in der Praxis nicht sichergestellt werden kann, dass der tatsächliche Übergang des Laufrades von der Backenschiene auf die Zungenschiene stets auf dem Niveau der Spurmeßebene bzw. knapp oberhalb bzw. unterhalb davon liegen wird, wie im Idealfall vorgesehen. So kann der tatsächliche Übergang aufgrund vieler Einflussfaktoren wandern (siehe Punkt 2.2 oben) und möglicherweise hinter der Zungenspitze erfolgen. Es liegt jedoch kein eindeutiger Nachweis vor, dass der tatsächliche Übergang bis hin zu der 9 mm Einlassung wandern wird.
3.4.3 Die Einsprechende hat anhand der Darstellung D3b ausgeführt (siehe Detail unten), dass bei einer Weiche gemäß D3.1 mit einem Radius von 25 m aufgrund des Spurspiels und des Sinuslaufs der Übergang des Laufrades von der Backenschiene auf die Zungenschiene auf jeden beliebigen Punkt eines 510 mm langen Bereichs, der sich von der Zungenspitze weg erstreckt, und damit insbesondere im Bereich der Einlassung von 9 mm erfolgen könnte.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Dieser Vortrag beruht jedoch auf der Annahme, dass bei der Weiche gemäß D3.1 ein Spurspiel von 10 mm vorhanden ist und sich ein Sinuslauf einstellen kann. Ein solches Spurspiel ist bei Rillenschienenweichen für Straßenbahnen, wie in D3.1 offenbart, jedoch nicht fachüblich. Auch tritt der Sinuslauf bei Rad-Schiene-Systemen mit konisch profilierten Laufrädern auf (siehe u. a. D21a, Seite 20), nicht aber bei Laufrädern mit einem zylindrischen Radprofil, wie sie bei Straßenbahnen üblich sind. Ferner weist die Weiche gemäß D3.1 eine Leitschiene auf, die den Sinuslauf verhindern soll (siehe Ansicht A und Schnitt B-B). Deshalb ist in D3.1 nicht implizit offenbart, dass der Übergang des Laufrades von der Backenschiene auf die Zungenschiene wie in D3b dargestellt erfolgt.
3.5 Im Zusammenhang der Neuheit hat die Einsprechende 2 auf die Entscheidung T 1049/99 verwiesen. Dort vertrat die Kammer die Auffassung, dass aus Gründen der Rechtssicherheit das unklare funktionelle Merkmal "photostabil" nicht dazu benutzt werden kann, die beanspruchte Erfindung vom Stand der Technik abzugrenzen (siehe Nr. 4.4 der Gründe). Diese Entscheidung ist hier nicht relevant, weil die Merkmale des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 als solche dem Fachmann eine klare, glaubhafte technische Lehre vermitteln (siehe Punkt 2 oben).
3.6 Der Gegenstand von Anspruch 1 ist daher neu im Sinne des Artikels 54 (1) und (2) EPÜ.
4. Patentanspruch 1 - Erfinderische Tätigkeit
4.1 Die Beteiligten sind sich einig, dass D3.1 einen geeigneten Ausgangspunkt zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bildet.
4.2 Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich von D3.1 nur dadurch, dass die größte Verstärkung der Zungenschiene und die geringste Breite des Backenschienenkopfes an jenem Punkt des Anlagebereichs positioniert sind, "an welchem ein auf dem Gleis fahrendes Laufrad eines Fahrzeuges seitlich mit der Zungenschiene in Berührung kommt".
4.3 Dank diesem Unterscheidungsmerkmal wird im Vergleich zu D3.1 die Verstärkung der Zungenschiene dem Querkraftverlauf angepasst, wodurch die Bruchgefahr vermindert und eine verschleißfestere Weiche mit erhöhter Liegedauer geschaffen wird. Ausgehend von D3.1 besteht die objektiv zu lösende Aufgabe deshalb darin, die Verschleißfestigkeit zu erhöhen bzw. die Bruchgefahr zu vermindern (Absatz 5 in der Patentschrift).
4.4 Entgegen der Auffassung der Einsprechenden 2 gelingt ein mit der genannten Aufgabe befasster Fachmann unter Berücksichtigung von D3.2 und seiner allgemeinen Fachkenntnisse nicht in naheliegender Weise zur beanspruchten Lösung.
4.5 In D3.1 selbst ist die Lösung nicht angeregt. Diesem Dokument kann nur entnommen werden, dass unter idealisierten Radführungsbedingungen der Spurkranz des Laufrades bereits an der Zungenspitze seitlich auf die Zungenschiene auflauft. Es ist nicht ersichtlich, warum der Fachmann ausgerechnet das Auflaufen im Bereich der Einlassung von 9 mm versetzen würde, wie die Einsprechende 2 argumentiert hat. Insbesondere weist die Zungenschiene ihre stärkste Dicke nicht im Bereich der Einlassung auf, denn die Dicke der Zungenschiene steigt von der Zungenspitze weg kontinuierlich an.
4.6 D3.2 (nachfolgend wiedergegeben) zeigt die Backenschiene und die unterschlagende Zungenschiene einer Rillenschienenweiche für Straßenbahnen. Bei der Unterschlagung handelt es sich um eine fachübliche Alternative zu der in D3.1 dargestellten Einlassung dar, um ein sicheres Anliegen der Zungenschiene an die Backenschiene zu gewährleisten. Der Backenschienenkopf weist eine Unterschlagung bzw. Unterschneidung auf, was zur Niederhaltung der an die Unterschlagung angepassten Zungenschiene führt. Ansicht A von D3.2 zeigt, dass die Zungenschiene an der Zungenspitze 12 bzw. 14 mm unterhalb der GFT und damit 2 bis 4 mm unterhalb der Spurmeßebene liegt. Die Höhe der Zungenschiene steigt von der Zungenspitze weg kontinuierlich an, bis sie die GFT erreicht (siehe Schnitt B-B). In einem Abstand von 200 mm liegt die Zungenschiene 9 mm unterhalb der GFT und mithin 1 mm oberhalb der Spurmeßebene (siehe Draufsicht).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Unter idealisierten Radführungsbedingungen läuft der Spurkranz des Laufrads mithin nicht an der Zungenspitze seitlich auf die Zungenschiene auf, wie es in D3.1 der Fall ist, sondern erst in einem Bereich, der mindestens 200 mm von der Zungenspitze entfernt ist. D3.2 kann also keine Anregung vermitteln, in der Weiche gemäß D3.1 den Bereich der ersten seitlichen Berührung genau 80 mm von der Zungenspitze anzuordnen, wo die Zungenschiene eine Verdickung von 9 mm aufweist. Eine Kombination von D3.1 und D3.2 kann deshalb nicht zu der beanspruchten Lösung führen.
4.7 Folglich beruht der Gegenstand von Patentanspruch 1 ausgehend von D3.1 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
5. Die Kammer kommt deshalb zu Ergebnis, dass weder der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit noch der Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegensteht.
6. Auf die Hilfsanträge I bis V der Patentinhaberinnen braucht nicht eingegangen zu werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in unveränderter Form aufrechterhalten.