T 0050/14 (Kompensation von Beschleunigungsstörgrößen/WIPOTEC) of 6.10.2016

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2016:T005014.20161006
Datum der Entscheidung: 06 October 2016
Aktenzeichen: T 0050/14
Anmeldenummer: 06742234.5
IPC-Klasse: G01G 23/12
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 320 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: WÄGEVORRICHTUNG, INSBESONDERE MEHRSPUR-WÄGEVORRICHTUNG
Name des Anmelders: Wipotec Wiege- und Positioniersysteme GmbH
Name des Einsprechenden: Bizerba GmbH & Co. KG
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent mit der Nummer 1 872 100 wegen mangelnder Neuheit im Hinblick auf folgendes Dokument zu widerrufen:

D6 = DE 694 12 335 T2.

II. Beschwerde gegen die Entscheidung wurde am 20. Dezember 2013 eingelegt und die Beschwerdegebühr wurde am gleichen Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung ging am 25. Februar 2014 ein. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage von Ansprüchen 1-16 des Antrags eingereicht mit der Einspruchserwiderung vom 21. Oktober 2010.

Die Beschwerdeführerin hat auch einen bedingten Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

III. Mit Schreiben vom 26. Juni 2014 hat die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

IV. Mit einer Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit.

V. Am 6. September 2016 reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Hauptantrag, mit Ansprüchen 1-13, sowie einen neuen ersten und zweiten Hilfsantrag, mit respektiven Ansprüchen 1-11 und 1-7, ein.

VI. Die mündliche Verhandlung fand am 6. Oktober 2016 in Anwesenheit beider Parteien statt. Im Laufe der Verhandlung reichte die Beschwerdeführerin Ansprüche 1-13 gemäß neuen Hilfsanträge 1 und 2, mit den respektiven Überschriften "Hilfsantrag 3" und "Hilfsantrag 4", ein.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent aufrecht zu erhalten auf der Grundlage von Ansprüchen 1-13 des Hauptantrags eingereicht am 6. September 2016 oder Ansprüchen 1-13 eines der Hilfsanträge 1 und 2 eingereicht während der mündlichen Verhandlung.

VIII. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

IX. Der Hauptantrag weist einen einzigen unabhängigen Anspruch auf, Anspruch 1, der wie folgt lautet:

"Wägevorrichtung

(a) mit mehreren, mechanisch miteinander starr verbundenen Wägezellen (3), welche jeweils einen mit einer Last beaufschlagbaren Lastaufnehmer (7) mit einer vorgegebenen Lasteinleitungsrichtung aufweisen,

(b) mit wenigstens einem Beschleunigungssensor (9) zur Erfassung wenigstens einer Beschleunigungs­störgröße und

(c) mit wenigstens einer Auswerte­einheit, welcher die von den Wägezellen (3) erzeugten Gewichtssignale und die von den Beschleunigungssensoren (9) erzeugten Störgrößen­signale zugeführt werden,

(d) wobei die wenigstens eine Auswerteeinheit so ausgebildet ist,

dass sie für jede Wägezelle (3) aus dem Störgrößensignal des wenigstens einen Beschleunigungssensors (9) abhängig vom geometrischem [sic] Ort der betreffenden Wägezelle (3) in Bezug auf den geometrischen Ort des wenigstens einen Beschleunigungssensors (9) jeweils eine Korrekturgröße ermittelt, welche den am geometrischen Ort der betreffenden Wägezelle (3) wirksamen Einfluss der wenigstens einen Beschleunigungsstörgröße berücksichtigt, und

(ii) dass sie das mit der wenigstens einen Beschleunigungs­störg[r]öße behaftete Gewichtssignal der betreffenden Wägezelle (3) so mit der Korrekturgröße verknüpft oder rechnerisch verarbeitet, dass der Einfluss der wenigstens einen Beschleunigungsstörgröße auf das Gewichtssignal im Wesentlichen kompensiert wird,

dadurch gekennzeichnet,

(e) dass die Anzahl und Art der Beschleunigungssensoren (9) so festgelegt und die Auswerteeinheit so ausgebildet ist, dass

(i) sowohl eine in Richtung der Lasteinleitungs­richtung jeder Wägezelle (3) existierende Komponente einer rein translatorischen Beschleunigungs­störgröße erfasst und/oder bestimmt wird als auch die in Richtung der Lasteinleitungsrichtung existierenden Komponenten rotatorischer Beschleunigungs­störgrößen, die durch eine ein- oder mehrachsige Rotationsstörbewegung der Wägezellen (3) erzeugt werden, und

zusätzlich zu den Beschleunigungskomponenten in Lasteinleitungsrichtung jeder Wägezelle (3) am Ort jeder Wägezelle ein- oder mehrachsige rotatorische Beschleunigungs­störgrößen erfasst und/oder bestimmt werden, die sich auf das oder die Trägheitsmomente der gegenüber einem ortsfesten Grundkörper beweglichen Teile der Wägezellen (3) um entsprechende Achsen auswirken."

X. Der kennzeichnende Teil des einzigen unabhängigen Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich dadurch vom kennzeichnende Teil des Anspruchs 1 des Hauptantrags, dass

- Merkmal (f) zu Merkmal (e) wird;

- vor diesem Merkmal ein neues Merkmal (e) eingefügt wird, mit dem Wortlaut "dass die Wägezellen eine Hebelmechanik aufweisen, die eine Empfindlichkeit hinsichtlich rotatorischen Störbeschleunigungen um eine Achse aufweist,"; und

- das Wort "Teile" in der vorletzten Zeile durch den Wortlaut "Teile der Hebelmechanik" ersetzt wird.

XI. Der kennzeichnende Teil des einzigen unabhängigen Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich dadurch vom kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1, dass

- im Merkmal (e) der Wortlaut "die Wägezellen" durch "alle Wägezellen" und "eine Achse" durch "die selbe Achse" ersetzt wird; und

- der Wortlaut "entsprechende Achsen" in den letzten beiden Zeilen durch "die selbe Achse" ersetzt wird.

XII. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - unzulässige Erweiterung; Artikel 123(2) EPÜ

2.1 Laut Beschwerdegegnerin geht der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Hauptantrags über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus.

2.2 Gemäß dem ursprünglichen Anspruch 1 sei die Auswerteeinheit so ausgebildet, dass "unter Verwendung einer vorgegebenen Vorschrift" für jede Wägezelle aus dem Störgrößensignal des wenigstens einen Beschleunigungssensors, abhängig vom geometrischem Ort der betreffenden Wägezelle in Bezug auf den geometrischen Ort des wenigstens einen Beschleunigungssensors, jeweils eine Korrekturgröße ermittelt werde, welche den am geometrischen Ort der betreffenden Wägezelle wirksamen Einfluss der wenigstens einen Beschleunigungsstörgröße berücksichtige. Laut Beschwerdegegnerin bedeutet dies, dass für jede Wägezelle eine vorgegebene Vorschrift verwendet werde. Weil der Ausdruck "unter Verwendung einer vorgegebenen Vorschrift" im Anspruch 1 des Hauptantrags gestrichen wurde, seien nun auch Auswertevorrichtungen umfasst, die nicht nur eine Vorschrift für alle Wägezellen gemeinsam oder für jede Wägezelle eine eigene separate Vorschrift anwendeten, sondern auch Vorrichtungen, die für eine erste und eine zweite Gruppe von Wägezellen eine erste bzw. weitere Vorschriften anwendeten.

2.3 Laut Beschwerde­führerin lese der Fachmann den ursprünglichen Wortlaut so, dass für jede Wägezelle eine vorgegebene Vorschrift verwendet werde. Die Beziehungen nach den Gleichungen I bis IV der Beschreibung des Streitpatents bezögen sich zwar auf eine allgemeine Vorschrift zur Berechnung der Korrekturgrößen für jede der Wägezellen, jedoch werde diese allgemeine Vorschrift für jede der Wägezellen durch das Berücksichtigen der geometrischen Orte der Wägezellen in Bezug auf die geometrischen Orte der Beschleunigungssensoren zu einer speziellen Vorschrift. Zudem sei es für den Fachmann implizit, dass zum jeweiligen Ermitteln der Korrekturgröße eine vorgegebene Vorschrift verwendet werde. Damit liege durch die Streichung des Merkmals "unter Verwendung einer vorgegebenen Vorschrift" keine unzulässige Erweiterung vor.

2.4 Die Kammer stimmt der Beschwerde­führerin in dieser Hinsicht zu.

2.5 Laut Beschwerdegegnerin wird das hinzugefügte zweite Teilmerkmal des Merkmals (e) des Anspruchs 1 des Hauptantrags, laut dem sich die Merkmale e(i) und e(ii) nun auch auf die Auswerteeinheit beziehen, nicht durch die ursprüngliche Offenbarung des Streitpatents gestützt (siehe Schreiben vom 6. September 2016, Seiten 1 und 2).

2.6 Laut Beschwerdeführerin folgt bereits aus dem ursprünglichen Anspruch 1, dass auch die Auswerte­einheit so ausgebildet sein soll, dass die Störgrößen, welche in den in den ursprünglichen Ansprüchen 5 und 7 offenbarten Merkmalen (e)(i) und (e)(ii) des neuen Anspruchs 1 erwähnt werden, erfassbar/bestimmbar sind, weil nur so die Auswerte­einheit die bereits im ursprünglichen Anspruch 1 in Merkmal (d)(i) erwähnte Korrekturgröße ermitteln kann.

2.7 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass das Streitmerkmal implizit von der ursprünglichen Offenbarung des Streitpatents gestützt wird: Die Erfassung/Bestimmung der unter (e)(i) und (e)(ii) genannte Störgrößen wäre nicht möglich, wenn die Auswerteeinheiten nicht entsprechend ausgebildet wären.

2.8 Die Kammer ist deshalb der Auffassung, dass keine Verletzung von Artikel 123(2) EPÜ vorliegt.

3. Hauptantrag - Neuheit; Artikel 54 EPÜ 1973

3.1 Es ist unumstritten, dass der Oberbegriff des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Dokument D6 offenbart ist. Die Argumente, die beide Parteien während der Verhandlung vorgetragen haben, waren deshalb auf die Merkmale des kennzeichnenden Teils des Anspruchs beschränkt.

3.2 Laut Beschwerdegegnerin ist aus den Passagen in D6 auf Seite 13, Zeilen 9-17 und Seite 14, Zeilen 4-29 ersichtlich, dass die Anzahl und Art der Beschleunigungssensoren ("Blindzellen") so festgelegt und die Auswerteeinheit in D6 so ausgebildet ist, dass die Bedingungen (i) und (ii) im Merkmal (e) erfüllt sind.

Die Passage auf Seite 13 offenbare die hierzu notwendige zweidimensionale, nicht-kolineare Verteilung der Beschleunigungssensoren.

Auf Seite 14, Zeilen 6-9 sei offenbart, dass nicht nur eine in Richtung der Lasteinleitungsrichtung jeder Wägezelle existierende Komponente einer rein translatorischen Beschleunigungsstörgröße, sondern auch die in Richtung der Lasteinleitungsrichtung existierende Komponente rotatorischer Beschleunigungsstörgrößen, die durch eine ein- oder mehrachsige Rotationsstörbewegung der Wägezellen (3) erzeugt würden, erfasst/bestimmt würden.

Was die Bedingung (ii) betrifft, hat die Beschwerdegegnerin angemerkt, dass jeder Körper ein Trägheitsmoment habe, und dass die rotatorischen Beschleunigungsstörgrößen, welche in D6 erfasst/bestimmt würden, sich deshalb selbstverständlich auf die Trägheitsmomente der beweglichen Teile der Wägezellen um entsprechende Achsen auswirkten.

3.3 Laut Beschwerdeführerin trifft die Argumentation der Beschwerdegegnerin dann nicht zu, wenn die Wägezellen bewegliche Teile enthalten, welche gegenüber rotatorischen Beschleunigungsstörgrößen um entsprechende Achsen dieser Teile empfindlich sind. Wägezellen, die eine solche Empfindlichkeit aufwiesen, seien beispielsweise Wägezellen mit einer Hebelmechanik, um die Lastkraft in eine zu erfassende Größe umzusetzen, wie dies beispielsweise bei Wägezellen der Fall sei, die nach dem Prinzip der elektromagnetischen Kraftkompensation arbeiteten.

3.4 Hierzu hat die Beschwerdegegnerin bemerkt, dass der Anspruch keine Einzelheiten bezüglich der in den Wägezellen vorhandenen Messmechanik enthalte, und dass die Achsen im Anspruch 1 nicht in Bezug auf dergleichen bewegliche Teile definiert seien. Die Achsen seien also beliebig ausgerichtet, wie dies auch in D6 der Fall sei; siehe Seite 16, Zeilen 27 ff.

3.5 Die Kammer hält die Argumente der Beschwerdegegnerin für überzeugend und kommt deshalb zur Schlussfolgerung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber D6 nicht neu ist; Artikel 54 EPÜ 1973.

4. Hilfsanträge; Artikel 13(1) VOBK

4.1 Was Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 betrifft, so stützt sich das hinzugefügte Merkmal, "dass die Wägezellen eine Hebelmechanik aufweisen, die eine Empfindlichkeit hinsichtlich rotatorischen Störbeschleunigungen um eine Achse aufweist," laut Beschwerdeführerin auf die ursprüngliche Beschreibung, Seite 13, erster Absatz.

4.2 Die Beschwerdegegnerin hat hierzu angemerkt, dass in der genannten Passage die Wägezellen lediglich eine Empfindlichkeit hinsichtlich Drehschwingungen bzw. rotatorischen Störbeschleunigungen um eine Achse parallel zur x-Achse aufwiesen. Diese Beschränkung sei im Anspruch nicht übernommen worden, und weil die ursprüngliche Anmeldung als Ganzes keine Wäge­vorrichtung ohne diese zusätzliche Beschränkung offenbare, verletze eine solche Zwischen­verallgemeinerung Artikel 123(2) EPÜ.

4.3 Die Kammer stimmt der Beschwerdegegnerin zu, dass Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 prima facie Artikel 123(2) EPÜ verletzt. Eine ins Einzelne gehende Prüfung von Artikel 123(2) EPÜ hätte daher zwingend zur Folge, dass insoweit komplexere Überlegungen anzustellen wären. Das wäre aber im vorliegenden Verfahrensstadium nicht verfahrensökonomisch. Der Hilfsantrag 1 wird aus diesem Grund nach Artikel 13(1) VOBK nicht zum Verfahren zugelassen.

4.4 Auch im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 stützt sich das hinzugefügte Merkmal, "dass alle Wägezellen eine Hebelmechanik aufweisen, die eine Empfindlichkeit hinsichtlich rotatorischen Störbeschleunigungen um die selbe Achse aufweist," laut Beschwerdeführerin auf die ursprüngliche Beschreibung, Seite 13, erster Absatz.

Auch hier wurde die oben (unter Nr. 4.2) genannte zusätzliche Beschränkung nicht aufgenommen. Aus dem gleichen Grund wie für Hilfsantrag 1 wird damit Artikel 123(2) EPÜ prima facie verletzt. Die Kammer lässt deshalb aus Gründen, die den oben (unter Nr. 4.3) zu Hilfsantrag 1 zum Ausdruck gebrachten Gründen entsprechen, auch den Hilfsantrag 2 nicht zum Verfahren zu.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Quick Navigation