European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2015:T250513.20151118 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 18 November 2015 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 2505/13 | ||||||||
Anmeldenummer: | 06026511.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | B29C 51/02 B29C 51/42 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zum Umformen von Formteilen | ||||||||
Name des Anmelders: | SMP Deutschland GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Decoma (Germany) GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.2.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Spät eingereichte Dokumente - eingereicht mit der Beschwerdebegründung (zugelassen) Neuheit - Hauptantrag (ja) Neuheit - Hilfsantrag (nein) Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die am 18. Oktober 2013 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 800 834 zurückzuweisen.
Der Einspruch war auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ 1973 (mangelnde Neuheit und fehlende erfinderische Tätigkeit) gestützt.
II. Am 18. November 2015 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde oder hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage der mit Schreiben vom 6. Oktober 2015 als Hilfsantrag HA3 eingereichten Ansprüche 1 bis 6.
IV. Es wird auf die folgenden Dokumente Bezug genommen:
E2: DE 20 2005 010 218 U1;
E3: WO 01/21382 A1;
E15: DE 199 49 923 A1;
E17: DE 34 09 093 A1.
V. Der unabhängige Anspruch 1 (wie erteilt) des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Verfahren zum Umformen von Formteilen (1) aus thermoplastischen Kunststoffen für den Einsatz als Bauteil für Kraftfahrzeuge, wobei vorgefertigte Formteile (1) partiell in dem umzuformenden Bereich mit Hilfe einer Heizeinrichtung (4) bis zu einer für den jeweiligen Kunststoff geeigneten Umformtemperatur erwärmt werden und anschließend mit einem Umformwerkzeug (2, 3) in dem partiellen Bereich die gewünschte Umformung durchgeführt wird, dadurch gekennzeichnet, dass die vorgefertigten Formteile (1) als Grundtyp für verschiedene Ausstattungsvarianten von Fahrzeugbauteilen vorgesehen sind und das Umformen mit Hilfe einer Matrize (3) und eines Stempels (2) erfolgt, wobei die Matrize (3) auf das erwärmte Formteil (1) gefahren und die gewünschte Umformung mit dem Stempel (2) erzeugt wird."
VI. Der Wortlaut des unabhängigen Anspruchs 1 nach dem Hilfsantrag HA3 ist folgender:
"Fahrzeugbauteil (1), hergestellt nach einem Umformverfahren, bei dem ein vorgefertigtes, ausschließlich aus thermoplastischem, spritzgegossenem Kunststoff bestehendes Formteil (1) partiell in einem umzuformenden Bereich mit Hilfe einer Heizeinrichtung (4) bis zu einer für den jeweiligen Kunststoff geeigneten Umformtemperatur erwärmt wird und anschließend mit einem Umformwerkzeug (2, 3) in dem partiellen Bereich die gewünschte Umformung durchgeführt wird, dadurch gekennzeichnet, dass das Umformen mit Hilfe einer Matrize (3) und eines Stempels (2) erfolgt ist, nämlich die Matrize (3) auf das erwärmte Formteil (1) gefahren und die gewünschte Umformung mit dem Stempel (2) erzeugt worden ist."
VII. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Zulassen der Dokumente E15 und E17
Die mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Dokumente E15 und E17 seien ins Verfahren zuzulassen. Dabei sei die Entgegenhaltung E15 für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit als hochrelevant anzusehen, während das Dokument E17 als allgemeiner Nachweis für die Qualifikation des im vorliegenden Fall anzusetzenden Fachmanns diene. Darüber hinaus belege das Dokument E17, dass Hersteller in der kunststoffverarbeitenden Industrie branchenübergreifend tätig seien, insbesondere für den Sanitärbereich und den Fahrzeugbau.
Hauptantrag - Neuheit und erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand von Anspruch 1 sei nicht neu im Hinblick auf das Dokuments E15 (vgl. Spalte 1, Absatz 3; Spalte 7, Absatz 5, Anspruch 9 und Figur 3). Bezüglich der Anspruchsmerkmale, die den Einsatz des Formteils als Fahrzeugbauteil beträfen, sei festzuhalten, dass mögliche Anwendungen des in dem Dokument E15 offenbarten Verfahrens nicht auf die beispielhaft angegebenen Produkte wie Duschwannen beschränkt seien, zumal auch der streitgegenständliche Anspruch 1 nicht auf ein spezielles Bauteil eingeschränkt sei. Außerdem müssten die hergestellten Formteile nach der anspruchsgemäßen Formulierung "Formteile [...] für den Einsatz als Bauteil für Kraftfahrzeuge" lediglich dafür geeignet sein, als Kraftfahrzeugbauteile eingesetzt zu werden. Mit Reisemobilen seien jedoch seit langem Fahrzeuge bekannt, die mit Duschwannen ausgestattet seien. In diesem Lichte sei der Gegenstand von Anspruch 1 im Vergleich mit Dokument E15 nicht neu. Für den Fall, dass der Einsatz des Formteils als Fahrzeugbauteil jedoch formal die Neuheit herstelle, so könne dieses Merkmal gleichwohl keine erfinderische Tätigkeit begründen. Die zu lösende Aufgabe sei darin zu sehen, ein Fahrzeugbauteil mit hoher Wirtschaftlichkeit herzustellen. Der zur Lösung dieser Aufgabe aufgerufene Fachmann müsse keineswegs auf dem Gebiet des Fahrzeugbaus tätig sein, da der streitige Anspruch keine kraftfahrzeugspezifischen Merkmale aufweise. Vielmehr sei hier aufgrund der erforderlichen verfahrenstechnischen Kenntnisse insbesondere auf dem Gebiet der Umformtechnik und der Kunststoffverarbeitung ein Ingenieur der Kunststofftechnik anzusetzen. Für einen solcherart qualifizierten Fachmann liege es nahe, einen aus einem Umformverfahren zur Herstellung von schalenförmigen Formteilen, beispielsweise von sanitären Becken, für diesen Zweck bekannten Ansatz analog in einem Umformverfahren zur Herstellung von nicht näher spezifizierten Kraftfahrzeugbauteilen einzusetzen, zumal das Dokument E17 belege, dass ein Fachmann auf dem Gebiet der Kunststoffverarbeitung branchenübergreifend tätig sei. Das Verfahren nach Anspruch 1 des Hauptantrags beruhe folglich nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Hilfsantrag HA3 - Neuheit
Der Gegenstand von Anspruch 1 nach Hilfsantrag HA3 betreffe ein Fahrzeugbauteil, das über sein Herstellungsverfahren definiert sei. Strukturell schlage sich dies in den Produktmerkmalen eines thermoplastischen spritzgegossenen Fahrzeugbauteils nieder, weshalb es im Hinblick auf die thermoplastische spritzgegossene Griffmulde nach Dokument E2 nicht neu sei. Die Tatsache, dass das Umformen des spritzgegossenen Teils dort mittels Druckluft erfolge, während nach dem Streitpatent dafür ein Stempel und eine Matrize eingesetzt würden, sei nicht als Produktmerkmal anzusehen, da sich Abdrücke von Stempel und/oder Matrize am hergestellten Fahrzeugbauteil aufgrund der geforderten Oberflächengüte verböten. Folglich sei das beanspruchte Produkt strukturell nicht von dem aus dem Dokument E2 bekannten Fahrzeugbauteil zu unterscheiden.
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin kann wie folgt zusammengefasst werden:
Zulassen der Dokumente E15 und E17
Es sei kein Grund für die Berücksichtigung der Dokumente E15 und E17 im Beschwerdeverfahren ersichtlich: Die späte Vorlage insbesondere des Dokuments E15 sei weder durch das Verhalten bzw. die Verteidigungsstrategie der Beschwerdegegnerin im Einspruchsverfahren, noch durch die angefochtene Entscheidung, das Patent wie erteilt aufrecht zu erhalten, begründet. Zudem sei es inhaltlich nicht relevant, da es kein als ein Bauteil für Kraftfahrzeuge ausgebildetes Formteil zeige und damit der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents nicht entgegenstehe. Gleiches gelte für das gattungsfremde Dokument E17, das im Rahmen der Diskussion der Qualifikation des Fachmanns lediglich colorandi causa genannt worden sei.
Hauptantrag - Neuheit und erfinderische Tätigkeit
Die Beschwerdegegnerin weist unter Bezugnahme auf Spalte 2, erster Absatz darauf hin, dass der Verfasser des Dokuments E15 ausschließlich sanitäre Becken wie Pools, Badewannen, Duschwannen oder Waschbecken im Auge gehabt habe. An dieser Offenbarung ändere auch der allgemeine Hinweis nichts, dass die Anwendung nicht auf diese Produkte beschränkt sei. Aufgrund dieser fokussierten Beschreibung sei es gerechtfertigt und sachgerecht, den Offenbarungsgehalt des Dokuments E15 auf den Sanitärbereich zu beschränken. Folglich unterscheide sich der Gegenstand von Anspruch 1 vom Dokument E15 in den zwingenden Merkmalen "Formteile für den Einsatz als Bauteil für Kraftfahrzeuge" und "vorgefertigte Formteile als Grundtyp für verschiedene Ausstattungsvarianten von Fahrzeugbauteilen". Der Gegenstand von Anspruch 1 sei mithin neu.
Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit sei festzustellen, dass sich das Dokument E15 infolge der dort beschriebenen spezifischen Anwendung im Sanitärbereich nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung der vorliegenden, im Kraftfahrzeugsektor angesiedelten Erfindung geeignet sei. Vielmehr bilde das dem Automobilwesen entstammende Dokument E2 den nächstkommenden Stand der Technik.
Des Weiteren sei der Beschwerdeführerin bei ihrem Vorschlag betreffend die Qualifikation des Fachmanns als einem Ingenieur der Kunststofftechnik nicht zu folgen, da dies zu spezifisch sei. Unter den Erfindern des beanspruchten Gegenstands seien Maschinenbauingenieure mit allgemeinen Kenntnissen auf dem Gebiet des Fahrzeugbaus. Folglich sei auch der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit ein derart qualifizierter Fachmann zugrunde zu legen.
Sogar für den Fall, dass man vom Dokument E15 als nächstkommendem Stand der Technik ausgehen wollte, wäre der Gegenstand von Anspruch 1 nicht naheliegend. Die technische Aufgabe wäre dann die Optimierung des konkreten Verfahrens aus dem Dokument E15 für die Herstellung von Fahrzeugbauteilen. Der Fachmann könnte weder dem ausschließlich auf tiefgezogene Sanitärartikel ausgerichteten Dokument E15 noch einer anderen Entgegenhaltung eine Veranlassung entnehmen, das dort beschriebene Umformverfahren auf die Herstellung von Fahrzeugbauteilen anzuwenden, die aufgrund der für diesen Einsatzzweck geforderten Oberflächengüte notwendigerweise spritzgegossen seien. Insofern könne das Vorbringen der Beschwerdeführerin die erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag nicht in Frage stellen.
Hilfsantrag HA3 - Neuheit
Die strukturellen Merkmale des unter Bezugnahme auf seine Herstellung definierten Fahrzeugbauteils nach Anspruch 1 des Hilfsantrags HA3 beträfen ein thermoplastisches spritzgegossenes Fahrzeugbauteil. Zudem sei die Umformung mittels Stempel und Matrize aufgrund der Wanddickenunterschiede und Abdrücke in der Oberflächenstruktur an dem hergestellten Produkt zu erkennen. Dies sei als strukturelles Merkmal anzusehen, das das beanspruchte Fahrzeugbauteil von dem spitzgeblasenen Haltegriff nach dem Dokument E2 unterscheide. Somit sei der Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag HA3 neu.
Entscheidungsgründe
1. Zulassen der Dokumente E15 und E17
1.1 Die Bestimmungen von Artikel 12 (4) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) sehen vor, dass die Kammer das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Artikel 12 (1) VOBK zu berücksichtigen hat, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse des Artikels 12 (2) VOBK erfüllt. Das Nicht-Zulassen von Tatsachen, Beweismitteln oder Anträgen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind, wird in Artikel 12 (4) VOBK jedoch ausdrücklich ins Ermessen der Kammer gestellt.
1.2 Daraus folgt, dass ein Beteiligter eines Beschwerdeverfahrens kein Anrecht darauf hat, dass ein Beweismittel, das er im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorlegen können, aber erst mit der Beschwerdebegründung tatsächlich vorgelegt hat, im Beschwerdeverfahren zugelassen wird. Folglich kann ein Einsprechender das streitgegenständliche Patent nur dann auf der Grundlage eines derartigen Beweismittels angreifen, wenn dieses von der Kammer nach Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens zugelassen worden ist.
In dieser Hinsicht ist unter anderem zu bewerten, ob die Änderung der Angriffslinie als eine unmittelbare und sachlich adäquate Reaktion auf Entwicklungen im Verfahren vor der ersten Instanz, insbesondere auf Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung, gerechtfertigt ist.
1.3 Im vorliegenden Fall ist diesbezüglich zu berücksichtigen, dass die Einspruchsabteilung noch im Ladungszusatz vom 8. Mai 2013 den Gegenstand des erteilten unabhängigen Anspruchs 1 als nicht erfinderisch gegenüber den mit der Einspruchsschrift eingereichten Dokumenten E2 und E3 angesehen hat, während der Gegenstand des erteilten unabhängigen Anspruchs 9 im Hinblick auf das Dokument E2 als nicht neu betrachtet wurde. Im Lichte der Diskussion in der mündlichen Verhandlung hat die Einspruchsabteilung ihre vorläufige Einschätzung dann offenbar revidiert und den Gegenstand der erteilten Ansprüche in der angefochtenen Entscheidung schließlich als neu und erfinderisch beurteilt. Die Einsprechende und nunmehrige Beschwerdeführerin hatte also bis zur letzten Phase des erstinstanzlichen Verfahrens keine Veranlassung, zusätzliche Beweismittel zum Stand der Technik vorzulegen. In einer solchen Situation kann die im Einspruchsverfahren unterlegene Beschwerdeführerin zu Recht versuchen, ihre Position im Beschwerdeverfahren zu verbessern, indem sie, wie im vorliegenden Fall, zu Beginn des Beschwerdeverfahrens weitere, ihrer Auffassung nach für die Fragen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit offensichtlich bedeutsame Dokumente vorbringt. Unter diesen Umständen können die Dokumente E15 und E17 im Beschwerdeverfahren nicht unberücksichtigt bleiben. Sie werden daher nach Artikel 12 (4) VOBK ins Verfahren zugelassen.
2. Hauptantrag
2.1 Neuheit
2.1.1 Die Beschwerdeführerin greift die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 auf der Grundlage des Dokuments E15 an, wobei diesbezüglich zwischen den Parteien zum Einen streitig ist, ob die nach dem Verfahren nach Anspruch 1 hergestellten Formteile zwingend Fahrzeugbauteile sein müssen oder ob die hergestellten Formteile lediglich geeignet sein müssen für den Einsatz als Fahrzeugbauteile. Zum Anderen divergieren die Auffassungen der Parteien hinsichtlich der Frage, ob die nach Dokument E15 hergestellten schalenförmigen Formteile (geeignet für den Einsatz als) Fahrzeugbauteile im Sinne des Streitpatents sind oder nicht.
2.1.2 Die Kammer stellt zunächst fest, dass der streitige Anspruch 1 in den folgenden zwei Merkmalen auf (Kraft)fahrzeugbauteile Bezug nimmt:
- "Verfahren zum Umformen von Formteilen (1) aus thermoplastischen Kunststoffen für den Einsatz als Bauteil für Kraftfahrzeuge" und
- "die vorgefertigten Formteile (1) als Grundtyp für verschiedene Ausstattungsvarianten von Fahrzeugbauteilen vorgesehen sind"
Aus der Betrachtung des Wortlauts von Anspruch 1 als Ganzes, insbesondere aus dem zweiten genannten Merkmal, folgt, dass die nach dem beanspruchte Verfahren umgeformten Formteile tatsächlich (Kraft)fahrzeugbauteile sind.
2.1.3 Damit hängt die Beurteilung der Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 von der Frage ab, ob die nach dem Dokument E15 umgeformten schalenförmigen Formteile als Fahrzeugbauteile im Sinne des Streitpatents anzusehen sind oder nicht.
Das Dokument E15 geht von den Schwierigkeiten bei der Herstellung von Badewannen in verschiedenen Varianten, insbesondere als Normalwanne und als Whirlwanne, aus und schlägt vor, dass in einem ersten Tiefziehschritt ein die Endgrundform bildender Schalenrohling geformt wird und dass in wenigstens einem weiteren Tiefziehschritt in einem vorgegebenen Teilbereich der Schalenwandung die Hinterschneidung durch begrenztes Verformen der Schalenwandung eingeformt wird. Auch wenn der unabhängige Anspruch 1 im Dokument E15 allgemein als ein Verfahren zur Herstellung eines schalenförmigen Formteils formuliert ist, betreffen sämtliche konkreten Anwendungsbeispiele in dieser Entgegenhaltung ausschließlich die Herstellung von sanitären Becken. In dem Zusammenhang wird insbesondere auf die Spalte 2, Zeilen 3 bis 9 des Dokuments E15 verwiesen, wo aufgezählt wird, was unter anderem unter einem anspruchgemäßen schalenförmigen Formteil zu verstehen ist:
"Der Begriff "schalenförmiges Formteil" im Sinne der vorliegenden Erfindung umfaßt insbesondere sanitäre Becken, d. h. sogenannte Pools, Badewannen, Duschwannen, Waschbecken oder dergl., aber auch Wendelelemente für Dusch- und/oder Dampfbadewannen. Die Anwendung ist jedoch nicht auf diese Produkte beschränkt."
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich im Dokument E15 keine expliziter oder impliziter, jedoch unmittelbarer und eindeutiger Hinweis auf die Umformung von Kraftfahrzeugbauteilen findet. Am Fehlen dieser unmittelbaren Offenbarung ändert auch nichts, dass mit Reisemobilen Fahrzeuge bekannt sind, die mit Duschwannen ausgestattet sind. Damit unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von der Lehre des Dokuments E15 in dem Merkmal, dass die hergestellten Formteile Kraftfahrzeugbauteile sind. Der Gegenstand von Anspruch 1 ist also neu, Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973.
2.2 Erfinderische Tätigkeit
2.2.1 Nächstkommender Stand der Technik
Der Rechtsprechung der Beschwerdekammern folgend wird bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit von einem nächstliegenden Stand der Technik ausgegangen. Bei der Auswahl dieses Ausgangspunktes wird in der Regel darauf abgestellt, dass er einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit demselben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat, der also die wenigsten strukturellen Änderungen erfordert (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage, 2013, Abschnitt I.D.3.1).
Das Streitpatent zielt auf ein Umformverfahren ab, das es erlaubt, auf einfache Weise die Stückzahlen pro Werkzeug zu erhöhen und so zu einer höheren Wirtschaftlichkeit zu kommen, ohne dabei auf zusätzliche Variationsmöglichkeiten zu verzichten. Erreicht wird dieses Ziel dadurch, dass das Werkzeug so gestaltet wird, dass das damit hergestellte Formteil als Rohling für eine Vielzahl von Varianten eingesetzt werden kann und nur noch in partiellen Bereichen durch entsprechende Maßnahmen der endgültigen Form angepasst werden muss. Diese Anpassung geschieht dann durch Erwärmen und anschließendes Umformen des Formteils in den betreffenden Bereichen mit Hilfe einer Matrize und eines Stempels (vgl. Streitpatent, Absätze [0007] und [0010] sowie Anspruch 1).
Das von der Beschwerdeführerin im Hinblick auf die Neuheit genannte Dokument E15 betrifft ein Umformverfahren für tiefgezogene schalenförmige Formteile, insbesondere für Badewannen, das es erlaubt, für zwei verschiedene Varianten eines Wannenmodells nicht zwei Tiefziehformen vorzuhalten, was mit einem beträchtlichen Kostenaufwand für die Werkzeuge verbunden ist. Die Entgegenhaltung E15 schlägt deshalb vor, dass in einem ersten Tiefziehschritt ein Schalenrohling geformt wird und in einem weiteren Tiefziehschritt in einem vorgegebenen Teilbereich der Schalenwandung die variantenspezifische Hinterschneidung durch begrenztes Erwärmen und Verformen der Schalenwandung eingeformt wird (vgl. E15, Spalte 1, Zeilen 43 bis 65).
Im Vergleich dazu stellt sich das Dokument E2, das in der angefochtenen Entscheidung als nächstkommender Stand der Technik angesehen wird, die Aufgabe, einen Haltegriff, beispielsweise in Türverkleidungen von Kraftfahrzeugen, mit einer hinterschnittenen Griffmulde zu schaffen, welche störende Unebenheiten innerhalb der Griffmulde vermeidet. Gelöst wird diese Aufgabe dadurch, dass der Haltegriff hergestellt wird durch ein Spritzblasformverfahren mit den Schritten des Herstellens eines Spritzgussformlings und des anschließenden Blasformens des Spritzgussformlings in einer hinterschnittenen Kavität eines Blasformwerkzeugs, wobei die Griffmulde gratfrei ist. Damit unterscheidet sich die Lehre des Dokuments E2 sowohl hinsichtlich ihrer Zielsetzung als auch bezüglich der vorgeschlagenen Lösung wesentlich vom Streitpatent.
Auf Grundlage der oben genannten, in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien sieht die Kammer das Dokument E15 als nächstkommenden Stand der Technik für das Verfahren nach Anspruch 1 an, da es mit einem in die gleiche Richtung gehenden Ziel entwickelt wurde wie die vorliegend beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat.
Von der Offenbarung in dem Dokument E15 unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 im Wesentlichen darin, dass die hergestellten Formteile Kraftfahrzeugbauteile sind.
2.2.2 Objektive technische Aufgabenstellung
Im Lichte dieses Unterscheidungsmerkmals besteht die zu lösende objektive technische Aufgabe darin, für das bekannte Umformverfahren alternative Anwendungsmöglichkeiten vorzuschlagen.
2.2.3 Qualifikation des Fachmannes
Zwischen den Parteien ist streitig, über welche Qualifikation der im vorliegenden Fall anzusetzende Fachmann verfügen muss. Während die Beschwerdeführerin darauf verweist, dass aufgrund der erforderlichen verfahrenstechnischen Kenntnisse insbesondere auf dem Gebiet der Umformtechnik und der Kunststoffverarbeitung ein Ingenieur der Kunststofftechnik als Fachmann anzusetzen sei, stellt die Beschwerdegegnerin ab auf einen Maschinenbauingenieur mit allgemeinen Kenntnissen auf dem Gebiet des Fahrzeugbaus.
Die Kammer weist zunächst darauf hin, dass der streitige Anspruch 1 gerichtet ist auf ein Verfahren zum Umformen von Formteilen aus thermoplastischem Kunststoff. Schon aus diesem Grund muss der hier anzusetzende Fachmann die dafür erforderlichen verfahrenstechnischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Umformtechnik und der Kunststoffverarbeitung aufweisen. Auch die von der Beschwerdegegnerin vorgeschlagene Formulierung der Aufgabenstellung, das konkrete Verfahren aus dem Dokument E15 für die Herstellung von Fahrzeugbauteilen zu optimieren, deutet auf die Notwendigkeit verfahrenstechnischer Kenntnisse auf dem Gebiet Kunststoffverarbeitung hin. Im Übrigen definiert der Anspruch zwar allgemein, dass die umgeformten Formteile Fahrzeugbauteile sind, er weist jedoch keine kraftfahrzeugspezifischen Merkmale auf, die spezielle Kenntnisse auf diesem Gebiet erfordern würden. Aus diesen Gründen ist der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der Sachverstand eines Ingenieurs der Kunststofftechnik zugrunde zu legen.
2.2.4 Naheliegen des Anspruchsgegenstandes
Der nächstkommende Stand der Technik in Form des Dokuments E15 weist die Abfolge sämtlicher im streitigen Anspruch 1 definierten Verfahrensschritte auf, nämlich das Bereitstellen und partielle Erhitzen vorgefertigter Formteile, sowie das anschließende Umformen in dem partiellen Bereich mit Hilfe von Matrize und Stempel im Hinblick auf verschiedene Ausstattungsvarianten des hergestellten Bauteils. Wie im Absatz 2.2.12.2.1 oben festgestellt, entspricht auch die Zielsetzung in der Entgegenhaltung E15 (Senkung der Werkzeugkosten bei einem in verschiedenen Varianten herzustellenden Produkt, vgl. E15, Spalte 1, Zeilen 43 bis 55) im Wesentlichen jener des Streitpatents. Der Unterschied zwischen dem Gegenstand von Anspruch 1 und der Offenbarung des Dokuments E15 besteht, wie ebenfalls unter Punkt 2.2.12.2.1 festgestellt, darin, dass die hergestellten Formteile Kraftfahrzeugbauteile sind.
Im Bestreben, die Werkzeugkosten bei einem in verschiedenen Varianten herzustellenden Produkt niedrig zu halten, wäre es für einen auf dem Gebiet der Kunststoffverarbeitung versierten Fachmann grundsätzlich naheliegend, einen aus einem Umformverfahren zur Herstellung von sanitären Becken für diesen Zweck bekannten Ansatz analog in einem Umformverfahren zur Herstellung von Kraftfahrzeugbauteilen einzusetzen. Hinzu kommt, dass das vorbekannte Verfahren (vgl. E15, Anspruch 1) für sich genommen keine Schritte enthält, die spezifisch für den späteren Einsatz des hergestellten Formteils als sanitäres Becken sind, wie auch das streitgegenständliche Verfahren an sich keine Schritte aufweist, die spezifisch für die Anwendung als Fahrzeugbauteil konzipiert sind. So ist das beanspruchte Verfahren überdies nicht, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, implizit auf spritzgegossene Formteile beschränkt, da sich aus einem späteren Einsatz im Kraftfahrzeugbereich per se noch keine generellen Anforderungen an die Oberflächengüte ableiten lassen. Unter den genannten Umständen bietet es sich für einen brachenübergreifend tätigen Kunststoffverarbeitungsfachmann (vgl. Dokument E17, Seite 2, zweiter Absatz) an, das bekannte Verfahren unabhängig vom beabsichtigten Einsatzbereich des herzustellenden Produkts anzuwenden, um so die mit diesem Verfahren verbundenen, ebenso bekannten Vorteile hinsichtlich der gesenkten Werkzeugkosten zu erreichen. Aus diesen Gründen musste der Fachmann nicht erfinderisch tätig werden, um das Umformverfahren aus dem Dokument E15 bei der Herstellung von Kraftfahrzeugbauteilen anzuwenden und so zum Gegenstand von Anspruch 1 zu gelangen. Folglich sind die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ 1973 nicht erfüllt.
3. Hilfsantrag HA3
3.1 Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag HA3 ist gerichtet auf ein Fahrzeugbauteil, das als sogenannter "Product-by-Process" Anspruch formuliert ist, also das zu schützende Erzeugnis im Wesentlichen über sein Herstellungsverfahren definiert.
Der gefestigten Rechtsprechung folgend ist ein derartiger Patentanspruch als auf das Erzeugnis als solches gerichtet anzusehen, für das er absoluten Schutz gewährt. Damit geht notwendigerweise einher, dass ein derartiger Anspruch nur dann erteilt oder aufrechterhalten werden kann, wenn die beanspruchten Erzeugnisse als solche die Voraussetzungen der Patentierbarkeit erfüllen, d. h., dass sie aufgrund ihrer strukturellen Merkmale unter anderem neu und erfinderisch sind (vgl. auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage, 2013, Abschnitt II.A.7.2).
3.2 Im vorliegenden Fall ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Gegenstand von Anspruch 1 die strukturellen Merkmale eines thermoplastischen spritzgegossenen Fahrzeugbauteils aufweist. Einigkeit besteht weiter darin, dass ein derartiges Erzeugnis aus dem Dokument E2 bekannt ist, das eine thermoplastische spritzgegossene Griffmulde, beispielsweise in Türinnenverkleidungen von Kraftfahrzeugen, zeigt (vgl. E2, Absätze [0001], [0009] und [0013]).
3.3 Die Beschwerdeführerin macht als zusätzliches strukturelles Anspruchsmerkmal geltend, dass die Umformung mittels Stempel und Matrize erfolgt, was das beanspruchte Produkt aufgrund der unregelmäßigen Wanddicke und der Abdrücke in der Oberflächenstruktur ihrer Auffassung nach von einen blasgeformten Bauteil nach Dokument E2 unterscheide und die Neuheit des Anspruchsgegenstandes begründe.
Diesem Vorbringen kann sich die Kammer so nicht anschließen, da es von einer Vielzahl von Einflussfaktoren, wie der Qualität der Umformwerkzeuge, der Wanddickengestaltung am vorgefertigten Formling, den Umformungsbedingungen und dem Grad der Umformung, abhängt, ob sich im Falle einer Umformung mit Stempel und Matrize diese Mittel im Gegensatz zur Umformung durch Luftdruck tatsächlich in einer unregelmäßigen Wanddicke und Abdrücken in der Oberflächenstruktur niederschlagen. Hinzu kommt, dass diese Auswirkungen nachteilig sind und der Fachmann daher bestrebt sein wird, ihr Auftreten so weit wie möglich zu verhindern. Damit spiegeln sich die geltend gemachten Verfahrensunterschiede nicht notwendigerweise in strukturellen Merkmalen wider, die es erlauben, das beanspruchte, mit Stempel und Matrize umgeformte Erzeugnis in jedem Fall unmittelbar und eindeutig von einem blasgeformten Bauteil nach Dokument E2 zu unterscheiden.
Demzufolge ist der Gegenstand von Anspruch 1 nach Hilfsantrag HA3 nicht neu, Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.