European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2015:T056313.20150703 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 03 Juli 2015 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0563/13 | ||||||||
Anmeldenummer: | 07846816.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | B60T 13/68 B60T 17/18 B60T 17/04 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | FESTSTELLBREMSVORRICHTUNG MIT EINER FESTSTELLBREMSE-NOTLÖSEEINRICHTUNG UND -VERFAHREN | ||||||||
Name des Anmelders: | KNORR-BREMSE Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | WABCO GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein) -Hilfsantrag 1 (nein) Hilfsantrag 2 - Zulassung in das Verfahren Hilfsantrag 2 - (nein) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung mit der das europäische Patent EP 2 099 666 in geändertem Umfang aufrechterhalten wurde.
II. Die Einspruchsabteilung befand, dass der Gegenstand der Ansprüche gemäß dem während der mündlichen Verhandlung vom 14. November 2012 eingereichten Hauptantrag die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
Dabei hat sie unter anderem die folgenden Druckschriften aus dem Stand der Technik berücksichtigt
D2: DE-A-35 22 432,
D4: DE-A-103 36 611.
III. Am 3. Juli 2015 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag) oder hilfsweise das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche 1 und 2 des Hilfsantrags 1, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 18. September 2013 oder des Hilfsantrags 2, eingereicht während der mündlichen Verhandlung, aufrechtzuerhalten.
IV. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 3 gemäß Hauptantrag lauten wie folgt (Merkmalsgliederung, wie von der Einspruchsabteilung vorgeschlagen):
1a) Feststellbremseinrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12)
1b) über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar ist, um ein Feststellen und Lösen einer Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit
1c) einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) die bei Ausfall der Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) zum Lösen der Feststellbremse dient,
dadurch gekennzeichnet dass
1d) die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) unabhängig von der Steuereinrichtung elektrisch ansteuerbar ist.
3a) Verfahren zum Steuern einer Feststellbremsvorrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12),
3b) über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar wird, um ein Feststellen und Lösen einer Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit
3c) einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) die bei Ausfall der Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) die Feststellbremse löst
dadurch gekennzeichnet dass
3d) die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) unabhängig von der Steuereinrichtung elektrisch angesteuert wird.
Die Ansprüche 1 und 2 in der Fassung gemäß dem Hilfsantrag 1 lauten wie folgt:
1. Feststellbremseinrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12), über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar ist, um ein Feststellen und Lösen einer Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24), die bei Ausfall der Feststellbremsbetätigungs-einrichtung (14,16,18) zum Lösen der Feststellbremse (20,22) dient, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) unabhängig von der Steuereinrichtung (12) ansteuerbar ist, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) elektrisch ansteuerbar ist und wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) ein bistabiles Magnetventil (24) umfasst, dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) variierbar ist.
2. Verfahren zum Steuern einer Feststellbremsvorrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12), über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar wird, um ein Feststellen und Lösen einer Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) die bei Ausfall der Feststellbremsbetätigungs-einrichtung (14,16,18) die Feststellbremse löst, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) unabhängig von der Steuereinrichtung (12) angesteuert wird, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) elektrisch angesteuert wird und wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) ein bistabiles Magnetventil (24) umfasst, dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) variierbar wird.
Die Ansprüche 1 und 2 in der Fassung gemäß dem Hilfsantrag 2 lauten wie folgt (Änderungen gegenüber der Fassung gemäß Hilfsantrag 1 in Fettdruck):
1. Feststellbremseinrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12), über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar ist, um ein Feststellen und Lösen einer linken und rechten Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24), die bei Ausfall der Steuereinrichtung und/oder der Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) zum Lösen der Feststellbremse (20,22) dient, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) unabhängig von der Steuereinrichtung (12) ansteuerbar ist, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) elektrisch ansteuerbar ist und wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) ein bistabiles Magnetventil (24) umfasst, dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) variierbar ist, wobei die Steuereinrichtung (12) und die Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) bei einem Ausfall der jeweils anderen Funktionstüchtig ist und umfassen jeweils eine ECU oder einen Controller mit einem Prozessor und einen Speicher und wobei die Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) mit der Steuereinrichtung (12) gekoppelt ist, um Rückschlüsse über den Zustand der Steuereinrichtung (12) ziehen zu können und damit einen möglichen Ausfall der Steuereinrichtung ermitteln zu können.
2. Verfahren zum Steuern einer Feststellbremsvorrichtung (10) für ein pneumatisches Bremssystem eines Nutzfahrzeuges mit einer Steuereinrichtung (12), über die eine Feststellbremsbetätigungseinrichtung (14,16,18) ansteuerbar wird, um ein Feststellen und Lösen einer Feststellbremse (20,22) zu bewirken, und mit einer Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) die bei Ausfall der Feststellbremsbetätigungs-einrichtung (14,16,18) die Feststellbremse löst, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) unabhängig von der Steuereinrichtung (12) angesteuert wird, wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) elektrisch angesteuert wird und wobei die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (24) ein bistabiles Magnetventil (24) umfasst, dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) variierbar wird, wobei die Steuereinrichtung (12) und die Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) bei einem Ausfall der jeweils anderen Funktionstüchtig ist und umfassen jeweils eine ECU oder einen Controller mit einem Prozessor und einen Speicher und wobei die Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (26) mit der Steuereinrichtung (12) gekoppelt ist, um Rückschlüsse über den Zustand der Steuereinrichtung (12) ziehen zu können und damit einen möglichen Ausfall der Steuereinrichtung ermitteln zu können.
V. Zur Stützung ihres Vorbringens brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes vor:
Dem Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag könne im Hinblick auf die naheliegende Kombination der D2 mit den allgemeinen Kenntnissen des Fachmanns keine erfinderische Tätigkeit zuerkannt werden (Art. 56 EPÜ 1973). Eine rein elektrische Ansteuerung als Alternative zur manuellen Betätigung des Notlöseventils 20 von D2 sei angesichts des allgemeinen Trends zur Verwendung von elektrischen Betätigungsmitteln bzw. elektrischen Energieformen naheliegend.
Auch der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Der Fachmann finde in der Druckschrift D4 (vgl. Absatz [0044] i.V.m. Figur 2 sowie im Absatz [0107] i.V.m. Figur 9 von D4) eine Ausführung eines bistabilen Ventils für die elektrische Ansteuerung der Feststellbremsfunktion, das für die Steuerung der Feststellbremse-Notlöseeinrichtung als Alternative zum manuell betätigbaren Ventil 20 in naheliegender Weise einsetzbar sei.
Diese Argumentationslinien sollten gleicherweise für den jeweiligen Verfahrensanspruch gelten.
Durch den erst in der mündlichen Verhandlung eingereichten neuen Hilfsantrag 2 werde ein veränderter Sachverhalt in die Diskussion eingebracht, der eine Reihe von neuen und komplexen Fragen mit sich bringe. Insbesondere sei fraglich, ob die durchgeführten Änderungen die formellen Erfordernisse des EPÜ in Hinblick auf Artikel 123(2) EPÜ sowie auf Artikel 84 EPÜ (Klarheitsmängel) erfüllten. Insbesondere verstöße die "und/oder" Formulierung in Bezug auf den erwähnten Ausfall der Steuereinrichtung (12) oder der Feststellbremsbetätigungseinrichtung (26) gegen die Bestimmungen des Artikels 123(3) EPÜ. Völlig überraschend seien neue Merkmale aus der Beschreibung in die Ansprüchen aufgenommen worden. Dies mache eine neue Recherche erforderlich, was wegen der späten Einreichung nicht mehr möglich sei. Dieser neue Hilfsantrag sei deshalb als verspätet zurückzuweisen.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag werde durch die Druckschrift D2 nicht nahegelegt. Gleichgültig, ob nur das Ventil 20 oder die Gesamtheit der Ventile 20,32 als Feststellbremse-Notlöseeinrichtung betrachtet werde, so sei festzustellen, dass das Betätigen des Bedienhebels 28 der Feststellbremse (Steuereinrichtung im Sinne des Anspruchs 1) einen pneumatischen Steuerimpuls erzeuge, durch welchen die als Notlöseventil 20 ausgebildete Feststellbremse-Notlöseeinrichtung zwangsdeaktiviert werde (vgl. D2: Seite 5, Zeilen 13 bis 24). Damit sei die Rückstellung des Notlöseventils 20 mit der Betätigung des Bedienhebels 28 der Feststellbremse gekoppelt und nicht unabhängig davon. D2 offenbare deshalb nicht die Merkmale 1d) und 3d) der unabhängigen Ansprüche 1 und 3, wonach die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung unabhängig von der Steuereinrichtung ansteuerbar sei. Mithin sei der gesamten Argumentation der Einsprechenden zur Frage nach der erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination von D2 mit den Kenntnissen des Fachmanns die Grundlage entzogen.
Zusätzlich, wie die Einspruchsabteilung bereits zutreffend ausgeführt habe, sei dem Stand der Technik gemäß D2 nichts zu entnehmen, was auf eine elektrische Ansteuerung der Notlöseeinrichtung hindeuten würde. Es gebe für den Fachmann überhaupt keine Motivation, die mechanische Betätigung des Notlöseventils 20, durch eine elektrische Ansteuerung zu ersetzen.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 werde durch die Kombination der Druckschriften D2 mit D4 nicht nahegelegt. Mit der beanspruchten Steuerung durch Umpolung werde eine besonders vorteilhafte Steuerungsart ausgewählt (geringer Energiebedarf, kompakter Aufbau mit einer einzigen Spule), die nicht naheliegend sei. Der Fachmann würde aus der Lehre der D4 bezüglich der Ansteuerung der Feststellbremse die funktionelle Einheit (Feststellbremsmodul 2) als Ganzes betrachten, ohne die speziellen Merkmale des bistabilen Ventils 213 herauszupicken und zusätzlich abzuändern.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hauptantrag; erfinderische Tätigkeit
2.1 Die Druckschrift D2 stellt den nächstliegende Stand der Technik dar. Es ist unbestritten, dass die in der Figur 1 von D2 gezeigte Feststellbremsvorrichtung die Merkmale 1a) bis 1c) des Anspruchs 1 aufweist (Oberbegriff des Anspruchs).
Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin ist bei der in D2 offenbarten Feststellbremsvorrichtung die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (Notlöseventil 20) von einer Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung (Handbetätigungsknopf des Notlöseventils 20) ansteuerbar, die unabhängig von der Steuereinrichtung 28 der Feststellbremsbetätigungseinrichtung (Bremsventil 27 und Relaisventil 29 des Federspeicherkreises 19) ansteuerbar ist (Merkmal 1d) mit Ausnahme des Adjektivs "elektrisch"). Wie z.B. aus der Spalte 4, Zeilen 11-14 des Streitspatents hervorgeht - "Beide Steuereinrichtungen 12 und 26 sind voneinander weitgehend unabhängig, insbesondere was die Funktionstüchtigkeit der einen beim Ausfall der anderen betrifft" -, bezieht sich der im Anspruch verwendete Begriff "unabhängig" auf die Unabhängigkeit der Funktionstüchtigkeit beider Steuereinrichtungen.
Der Textstelle auf der Seite 4, zweiter Absatz oder der Seite 9, zweiter Absatz von D2 ist zu entnehmen, dass die Notlösesteuereinrichtung (Notlöseventil 20) per Hand eingeschaltet werden kann, um die infolge eines Schadensfalles in Bremsstellung stehenden Feststellbremsbetätigungseinrichtung zu lösen. Obwohl, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, die Steuereinrichtung von D2 eine zusätzliche Rückstellung des Notlöseventils 20 vorsieht (wenn der Bedienhebel des Bremsventils seine Stellung "Feststellen" einnimmt), ist die beanspruchte Unabhängigkeit in D2 eindeutig auch gewährleistet, denn das Notlöseventil 20 ist manuell in beiden Stellungen sowohl zur Ansteuerung als auch zur Rückstellung der Notlöseeinrichtung unabhängig von dem Bedienhebel betätigbar.
2.2 Als einziger Unterschied der beanspruchten Vorrichtung gegenüber der aus D2 bekannten Feststellbremsvorrichtung verbleibt, dass das Notlöseventil 20 elektrisch statt manuell über die Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung ansteuerbar ist.
2.3 Die Kammer teilt nicht die Auffassung der Beschwerdegegnerin, dass für den Fachmann ausgehend von D2 kein Anreiz bestehe, eine elektrische Ansteuerung des Ventils 20 vorzusehen. Die automatische Rücksetzung des Notlöseventils 20 wird in D2 mittels eines Steuerimpulsgebers 31 realisiert. Dieser Steuerimpulsgeber weist ein 3/2 Magnetventil auf, dessen einer Anschluss mit dem Nebenverbraucherkreis 24 und anderer Anschluss mit dem Steuereingang des Notlöseventils verbunden ist, während der dritte Anschluss zur Atmosphäre entlüftet wird.
Allgemein ist bei der Betätigung von Systemen und Vorrichtungen in Fahrzeugen der Trend zu beobachten, dass ursprünglich mit mechanischer Kraft ausgeführte Betätigungen durch komfortablere elektrische Steuervorrichtungen ersetzt werden. Ein mit elektropneumatischen Steuerungen vertrauter Fachmann erkennt ohne weiteres, dass die in D2 gezeigte manuelle Betätigung des Notlöseventils 20 mit ihrer aufwändigen elektropneumatischen Rückstellung durch eine rein elektrische bzw. elektromagnetische Betätigung ersetzt werden kann. Wenn der Fachmann ausgehend von der in D2 gezeigten Feststellbremsvorrichtung mit der Aufgabe konfrontiert wird, den hier betriebenen konstruktiven Aufwand zu reduzieren, wird er in der direkten elektrischen Ansteuerung des Notlöseventils 20 eine einfache naheliegende Lösung finden.
2.4 Zusätzlich sind für den Fachmann die Vorteile einer rein elektrischen Ansteuerung, wie eine erhöhte Anpassbarkeit in Hinblick auf den örtlichen Einbau des für den Fahrer oft schwer zugänglichen Notlöseventils mit dessen manuellen Notlösebetätigungseinrichtung (komfortablere Betätigung des Notlöseschalters), oder in Hinblick auf die erhöhte Flexibilität bei der Verlegung der zu den Federspeicher-Bremszylindern führenden Rohrleitungen, ohne weiteres im Voraus zu übersehen.
2.5 Nach Ansicht der Kammer kann es angesichts des allgemeinen Trends zur Elektrifizierung im Bereich des Fahrzeugsbaus keine erfinderische Tätigkeit begründen, die Handbetätigung des Notlöseventils durch eine elektrische Notlösesteuereinrichtung (Notlöseschalter) zu ersetzen. Dabei handelt es sich um einen einfachen Gedanken, dessen Verwirklichung den mit elektropneumatischen Steuerungen vertrauten Fachmann vor keinerlei technische Schwierigkeiten stellt.
2.6 Der Gegenstand von Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist deshalb nicht erfinderisch gegenüber dem in D2 offenbarten Stand der Technik. Ähnliche Überlegungen gelten für den Gegenstand des unabhängigen Verfahrensanspruchs 3 gemäß Hauptantrag.
3. Hilfsantrag 1
3.1 Gegenüber den unabhängigen Ansprüchen 1 und 2 gemäß dem Hauptantrag präzisieren die Ansprüche 1 und 2 des Hilfsantrags 1, dass die Feststellbremse-Notlöseeinrichtung (Löseventil) ein bistabiles Magnetventil umfasst, dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung variierbar ist.
3.2 Das handbetätigbare 3/2-Wegeventil gemäß D2 hat bereits zwei Positionen und kann somit als bistabil bezeichnet werden. Der Fachmann auf der Suche nach einem geeigneten rein elektrisch oder elektromagnetisch betätigbaren Ventil zur Betätigung der Feststellbremse-Notlöseeinrichtung von D2 wird in der Druckschrift D4 fündig werden. Im Absatz [0044] i.V.m. Figur 2 sowie im Absatz [0107] i.V.m. Figur 9 von D4 ist ein bistabiles 3/2 Magnetventil zur Steuerung der Feststellbremsfunktion beschrieben und dessen Stellung durch Umpolung eines ihm zugeführten Stroms von der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung variierbar ist.
Nach Ansicht der Kammer ist der Fachmann nicht erfinderisch tätig, wenn er angesichts dieses Vorbilds das Notlöseventil 20 durch das in Absatz [0107] und Figur 9 von D4 beschriebene Magnetventil ohne Änderung von Bauart und Funktion ersetzt. Dessen manuelle Ansteuerung, z.B. über einen Wechselschalter (Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung), verbindet den Vorteil eines sehr geringen Energiebedarfs mit einem besonders einfachen Aufbau.
3.3 Somit ist der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht erfinderisch gegenüber den Druckschriften D2 in Verbindung mit D4. Ähnliche Überlegungen gelten für den Gegenstand des unabhängigen Verfahrensanspruchs 2 gemäß Hilfsantrag 2.
4. Hilfsantrag 2; Zulassung in das Verfahren
4.1 Erst nach ausführlicher Diskussion und nachdem die Kammer ihre vorläufige Einschätzung zur Patentfähigkeit des Hauptantrags und des Hilfsantrags l in der mündlichen Verhandlung bekannt gab, hat die Beschwerdegegnerin einen neuen Hilfsantrag 2 eingereicht. Das späte Einreichen dieses Hilfsantrags wurde von der Beschwerdegegnerin damit begründet, dass sie durch die Auffassung der Kammer zu den bisherigen Anträgen in der mündlichen Verhandlung überrascht wurde und dass dieser Hilfsantrag 2 als letzter Versuch bewertet werden müsse, einen patentierbaren Gegenstand zu erlangen.
4.2 Die Kammer stellt zuerst fest, dass sich die von der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung angeführte Angriffslinie nicht geändert hat und dass keine neue Argumente, neue Fragen oder neuer Sachverhalt eingeführt wurden. Die Kammer ist deshalb der Ansicht, dass der vorliegende Hilfsantrag 2 bereits mit der Beschwerdeerwiderung hätte vorgelegt werden können.
4.3 Wird in einem so späten Stadium des Verfahrens ein Hilfsantrag eingereicht, muss dieser aus Gründen der Verfahrensökonomie einen erfolgversprechenden Versuch zur Ausräumung der erhobenen Einwände darstellen und sollte keine neuen Probleme oder Diskussionspunkte aufwerfen, da ansonsten zu erwarten ist, dass die Beschwerdekammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536) die Zulassung des geänderten Vorbringens verweigert.
4.4 Diesbezüglich stellt die Kammer fest, dass die in den Ansprüchen 1 und 2 gemäß Hilfsantrag 2 neu hinzugefügten Merkmale, welche die spezielle Ausgestaltung der Steuereinrichtung 12 und der Feststellbremse-Notlösesteuereinrichtung 26 sowie ihre elektronische Kopplung betreffen, allein der Beschreibung der ursprünglich eingereichten Anmeldung (WO-A-2008/061799, Seite 5, Zeile 16 bis Seite 6, Zeile 5) entnommen worden sind. Die isolierte Aufnahme einzelner Merkmale aus der Beschreibung wirft Fragen hinsichtlich der Zulässigkeit der Änderungen unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Zwischenverallgemeinerung auf (Artikel 123(2) EPÜ). Des Weiteren stellt auch der geänderte Wortlaut "bei Ausfall der Steuereinrichtung (12) und/oder der Feststellbremsbetätigungs-einrichtung" (Hervorhebung durch Fettdruck durch die Kammer) ein zusätzliches Problem bezüglich formeller Erfordernisse, insbesondere hinsichtlich derjenigen des Artikels 123(3) EPÜ, dar.
Zusätzlich ist der Gegenstand dieser Ansprüche 1 und 2 gegenüber den erteilten unabhängigen Ansprüchen und den unabhängigen Ansprüchen des früheren Hilfsantrags 1 auf einen gänzlich anderen technischen Aspekt gerichtet, der bisher nicht erörtert wurde. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass dieser neue technische Aspekt eine zusätzliche Recherche erforderlich machen würde.
4.5 Unter Berücksichtigung des Verfahrensstandes und der gebotenen Verfahrensökonomie hat die Kammer deshalb von ihrem Ermessen gemäß Artikel 13(1) VOBK Gebrauch gemacht und den Hilfsantrag 2 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.