T 1821/12 () of 30.9.2016

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2016:T182112.20160930
Datum der Entscheidung: 30 September 2016
Aktenzeichen: T 1821/12
Anmeldenummer: 02748666.1
IPC-Klasse: C08G 69/26
G02B 1/04
C08G 69/36
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: POLYAMIDFORMMASSEN ZUR HERSTELLUNG OPTISCHER LINSEN
Name des Anmelders: EMS-CHEMIE AG
Name des Einsprechenden: Evonik Degussa GmbH
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention R 80
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 123(3)
European Patent Convention Art 69
European Patent Convention Art 69 Protocol Interpretation
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Änderung veranlasst durch Einspruchsgrund - (ja)
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (nein)
Änderungen - Erweiterung des Patentanspruchs (nein)
Sachvortrag eines Experten - nicht rechtzeitig angekündigt - nicht zugelassen
Spät eingereichtes Dokument - Rechtfertigung für späte Vorlage (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0004/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden betrifft die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung gemäß der das Europäische Patent Nr. 1 397 414 (Anmeldenummer 02748666.1, basierend auf der internationalen Anmeldung PCT/EP2002/004314, veröffentlicht als WO 2002/090421), in geändertem Umfang auf Basis des Hauptantrags gemäß Schreiben vom 9. März 2012 aufrechterhalten wurde.

Die Ansprüche 1, 3 und 5 der Anmeldung hatten folgendenWortlaut:

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

FORMEL/TABELLE/GRAPHIKFORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Die erteilten Ansprüche 1, 4 und 7 entsprachen den ursprünglichen Ansprüchen 1, 3 und 5 mit dem einzigen Unterschied, dass der Wert des Brechungsindexes auf größer 1,6 eingeschränkt wurde.

Es wurde Einspruch unter Geltendmachung der Gründe gemäß Artikel 100(a) EPÜ (fehlende Neuheit, fehlende erfinderische Tätigkeit) gegen das Patent eingelegt.

Der Einspruch wurde unter anderem auf folgende Dokumente gestützt:

D4: EP-A-411 791

D9: EP-A-837 087.

Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wurde von der Einsprechenden beantragt, das Dokument

D12: Groh, W., Zimmermann, A., Macromolecule, 1991, 24 Seiten 6660-6663

in das Verfahren aufzunehmen.

IV. Der Entscheidung lag als Hauptantrag ein Anspruchssatz zugrunde, dessen Anspruch 1 den gleichen Wortlaut wie der erteilte Anspruch 4, d.h. der ursprüngliche Anspruch 3, aber ohne Rückbezug auf Anspruch 1, hatte.

Die Einspruchsabteilung entschied, D12 nicht zuzulassen.

Bezüglich Artikel 123 (2) EPÜ wurde entschieden, dass der Wegfall des erteilten Anspruchs 1 und somit der Wegfall der entsprechenden Rückbezüge keinen Mangel darstellten, da hierdurch kein neuer Gegenstand gegenüber der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung definiert werde.

Regel 80 EPÜ werde entsprochen, weil die vorgenommenen Änderungen durch die erhobenen Einwände bezüglich Artikel 54 EPÜ veranlasst gewesen seien.

Die Erfordernisse des Artikels 123 (3) EPÜ seien ebenfalls erfüllt. Der vermeintliche Mangel betreffend die Untergrenze von 30 Mol% der Diamin Komponente sei der Konsequenz eines Widerspruchs bzw. einer Unvereinbarkeit zwischen dem erteilten Anspruch 1 und dem erteilten Anspruch 4 geschuldet, weswegen dieser Anspruch nicht als vom Anspruch 1 abhängiger Anspruch verstanden werden könne.

Die Neuheit wurde anerkannt.

Eine erfinderische Tätigkeit wurde ebenfalls anerkannt. Hierbei wurde das Handelsprodukt gemäß Vergleichsbeispiel 2 des Patents als nächstliegender Stand der Technik angesehen.

Gegen diese Entscheidung legte die Einsprechende Beschwerde ein.

Zusammen mit der Beschwerdeschrift wurde das Dokument D12 erneut eingereicht.

Ein weiteres Dokument

D13: US 5 591 495

wurde ebenfalls eingereicht.

VI. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin reichte mit Schreiben vom 13. März 2014 weitere Anspruchssätze (1. bis 3. Hilfsantrag) ein. Berichtigte Versionen des 2. und 3. Hilfsantrags wurden mit Schreiben vom 11. August 2016 eingereicht.

VII. Die Beschwerdeführerin kündigte mit Schreiben vom 31. März 2016 die Anwesenheit eines technischen Sachverständigen an der mündlichen Verhandlung an, der "ggf. zu technischen Fragen Stellung nehmen" würde.

Mit einem weiteren Schreiben vom 14. September 2016 wurde Stellung zu den Hilfsanträgen genommen.

VIII. Die mündliche Verhandlung fand am 30. September 2016 statt.

Zu Beginn der Verhandlung zog die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin den Hauptantrag und den ersten Hilfsantrag zurück. Hierdurch wurde der am 11. August 2016 korrigierte 2. Hilfsantrag zum Hauptantrag.

Nach Diskussion wurde dieser neue Hauptantrag dadurch geändert, dass die Ansprüche 2-6 gestrichen und die Abhängigkeiten der weiteren Ansprüche entsprechend angepasst wurden. Die Ansprüche 1, 11, 14, 15, 16, 17 und 18 des Hauptantrags lauteten wie folgt:

"1. Transparente, thermoplastische Polyamidformmassen mit einem Brechungsindex nD**(20) von größer 1,6,

dadurch gekennzeichnet, dass die Copolyamide die Zusammensetzung gemäß Formel (II) aufweisen:

MXDI/MXDT/6I/6T, (II)

mit folgenden Mol%-Anteilen der jeweiligen Komponenten:

50 bis 80 Mol% meta-Xylylendiamin (MXD)

50 bis 20 Mol% Hexamethylendiamin (6)

60 bis 80 Mol% Isophthalsäure (I) und

40 bis 20 Mol% Terephthalsäure (T), bezogen auf 100 Mol% Diamin und 100 Mol% Dicarbonsäure."

11. Verfahren zur Herstellung von Formkörpern aus den Formmassen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 10, dadurch gekennzeichnet, dass zur Umformung des aus den Formmassen hergestellten Granulates in optische Linsen oder Linsenrohlinge die für Thermoplasten bekannten Verfahren angewendet werden.

14. Verfahren zur Weiterverarbeitung der Polyamidformmassen gemäß einem der Ansprüche 11 bis 13, dadurch gekennzeichnet, dass Folien oder andere Formteile mit Polarisationseigenschaften oder mit UV-Absorbern, die UV-Licht unter 400 nm ausfiltern oder mit Farben zum Tönen der Linsen oder mit Zusätzen, die durch Temperatureinwirkung ihr Aussehen verändern oder mit thermochromen Additiven, die temperaturabhängig oder abhängig von der Wellenlänge des eingestrahlten Lichtes den Farbton ändern, hinterspritzt werden.

15. Verfahren zur Weiterverarbeitung der aus den Formmassen hergestellten Formkörpern gemäß einem der Ansprüche 11 bis 14, das das Lackieren der Oberflächen mit Hardcoat, Softcoat oder UV-Schutzlack, Bedampfen mit Kohlenstoff oder mit Metallatomen, Plasma-Behandlung und Aufpolymerisieren von Schichten umfasst.

16. Optische Linsen für Brillen, dadurch gekennzeichnet, dass sie aus den erfindungsgemäßen Formmassen gemäß einem der Ansprüche 1 bis 10, sowie dem Verfahren gemäß einem der Ansprüche 11 bis 14 hergestellt worden sind.

17. Optische Linsen für Kameras, Ferngläser, Mikroskope, elektrooptische Mess- und Prüfgeräte, optische Filter, Scheinwerferlinsen, Lampenlinsen, Projektoren und Beamer, Sichtfenster und Schaugläser, dadurch gekennzeichnet, dass sie aus den erfindungsgemäßen Formmassen gemäß einem der Ansprüche 1 bis 10, sowie dem Verfahren gemäß einem der Ansprüche 11 bis 14 hergestellt worden sind.

18. Verwendung der erfindungsgemäßen Formmassen gemäß einem der Ansprüche 1 bis 10 zur Herstellung von Blends oder Legierungen, dadurch gekennzeichnet, dass als Blend oder Legierungs-Komponenten amorphe oder teilkristalline Polyamide eingesetzt, und mit den üblichen Zuschlagsstoffen ausgerüstet werden."

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10, bzw. 12 und 13, bzw. 19 betreffen jeweils bevorzugte Ausführungsformen der Ansprüche 1, 11 und 18."

IX. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Regel 80 EPÜ

Die Streichung eines unabhängigen Anspruchs und dessen Ersetzung durch einen nicht vorher existierenden unabhängigen Anspruch sei gemäß Regel 80 EPÜ nicht zulässig da hierdurch keine Einschränkung der vorhandenen Ansprüche erfolge. Die Einsprechende sei mit einer neuen, nicht vorhersehbaren Situation konfrontiert worden.

Artikel 123 (2) EPÜ

Der ursprünglich eingereichte Anspruch 1 sowie der entsprechende Abschnitt der Beschreibung (Seiten 9-11) definierten eine Struktur des Polyamids durch Festlegung der Reihenfolge der Monomereinheiten (Kettenanordnung) in der Formel I. Diese Einschränkung bestünde nicht mehr.

c) Artikel 123 (3) EPÜ

Analog sei durch den Wegfall der Einschränkungen des erteilten Anspruchs 1 bezüglich der Anordnung der Polymerketten eine Erweiterung des Schutzbereiches des Patents erfolgt. Die Indizes der Einheiten der Formel I (n1, n2 und n3) im ursprünglichen Anspruch 1 müssten - trotz der Angabe ihrer Anteile in "Gew.%" - im Einklang mit dem normalen Verständnis auf dem technischen Gebiet bei dieser Schreibweise der Formel als die absolute Anzahl der vorhandenen Bausteine/Monomereinheiten in den verschiedenen Blöcken interpretiert werden, wobei die Blöcke in der angegebenen Reihenfolge im Polymer vorhanden zu sein hätten. Der erteilte Anspruch definiere somit nicht nur - anhand der Indizes - das Verhältnis der unterschiedlichen Einheiten zueinander, sondern auch deren Reihenfolge.

Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin hinsichtlich der Anwendbarkeit des Artikels 69 EPÜ und des entsprechenden Protokolls über dessen Auslegung sei es im vorliegendem Fall nicht erforderlich die Beschreibung zu konsultieren um die Ansprüche zu interpretieren. Anspruch 1 wie erteilt sei klar.

d) Artikel 54 EPÜ

Neuheit wurde nicht bestritten.

Artikel 56 EPÜ

Im Einklang mit Absatz [0025] des Patents sei der nächstliegende Stand der Technik ein Dokument, das im Allgemeinen durchsichtige Polyamide mit hohem Brechungsindex und niedriger Dichte betrifft. Obwohl die Beschreibung und manche Ansprüche des Patents Linsen zum Gegenstand hätten, gelte dies weder für Anspruch 1 noch für die Beispiele.

Somit sei entweder D4 oder das Vergleichsbeispiel 2 des Patents als nächstliegender Stand der Technik geeignet. Um die Aufgabe der Bereitstellung von Polyamiden mit hohem Brechungsindex zu lösen, würde man, entsprechend der Information in den Absätzen [0021] und [0022] des Patents, nicht von aliphatischen Polyamiden ausgehen. Würde man aber trotzdem, wie von der Beschwerdegegnerin argumentiert, von den aliphatischen Polyamiden von D9 ausgehen und sich die Aufgabe stellen, Polyamide mit höherem Brechungsindex zu erhalten, wäre es aufgrund der Offenbarung von D12 oder D13 naheliegend, dies durch Erhöhung des aromatischen Anteils der Polyamide zu erreichen.

Insbesondere lehre D12 wie verschiedene strukturelle Einheiten eines Polyamids den Brechungsindex beeinflussen. Auch D13 zeige, dass durch den Einbau aromatischer Anteile im Polyamid der Brechungsindex erhöht werde.

Zur Zulässigkeit der Dokumente D12 und D13 in das Verfahren wurde vorgetragen, D12 sei erst relevant geworden, nachdem die Einspruchsabteilung während der mündlichen Verhandlung - entgegen der Argumente der Einsprechenden sowie entgegen der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung in der Ladung zur mündlichen Verhandlung - für den Gegenstand des Hauptantrags (des vorherigen 2. Hilfsantrags) die Zulässigkeit gemäß Artikel 123 (2) und (3) EPÜ anerkannt habe. Somit habe es keine Veranlassung gegeben, D12 zu einem früheren Zeitpunkt zu zitieren. Ferner greife D12 mit dem Einfluss der Zusammensetzung des Polymers auf den Brechungsindex einen Aspekt auf, der ebenfalls erst während der mündlichen Verhandlung und in schriftlicher Form erst in der Entscheidungsbegründung diskutiert wurde. Somit könne D12 nicht als verspätet angesehen werden. D12 sei relevant weil das Dokument genau den Aspekt der Bedeutung der Zusammensetzung für die Eigenschaft des Polymers in Bezug auf den Brechungsindex betreffe.

Gleichermaßen betreffe D13 diesen Aspekt und sei aus den selben Gründen als nicht verspätet und als relevant anzusehen.

X. Die Argumente der Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Regel 80 EPÜ

Die vorgenommenen Änderungen wurden durch Neuheitseinwände veranlasst. Regel 80 EPÜ schreibe die Form der Änderungen nicht vor. Insbesondere müssten Änderungen nicht lediglich durch Aufnahme weiterer Merkmale in bestehenden Ansprüche bzw. durch das Kombinieren bestehender Ansprüche erfolgen.

Artikel 123 (2) EPÜ

In der Anmeldung sowie im erteilten Patent gebe es - zum Teil "eklatante" - Diskrepanzen bezüglich der Untergrenze von MXD zwischen den Ansprüchen. Als Folge hätte der Fachmann den ursprünglichen Anspruch 3 bzw. erteilten Anspruch 4 nicht als von Anspruch 1 abhängige Ansprüche interpretiert. Diese differenzierte Auslegung der Ansprüche sei durch die Beschreibung sowie die Beispiele bestätigt.

Die Formel I im ursprünglichen Anspruch 1 sei als Summenformel zu verstehen die lediglich die relative Anteile der Einheiten - ausgedrückt in Gew.% - definiere. Die Formel I definiere jedoch weder die absolute Anzahl ihrer Einheiten noch deren Struktur bzw. Reihenfolge. Diese Auslegung der Ansprüche sei ebenfalls durch die Beschreibung sowie die Beispiele bestätigt.

c) Artikel 123 (3) EPÜ

Da der erteilte Anspruch 1 keine Struktur/keine Sequenz der Einheiten definiere, gebe es in dieser Hinsicht keine Schutzbereichserweiterung. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen den erteilten Ansprüchen sei es erforderlich und zulässig, die Beschreibung zur Auslegung des Schutzbereiches heranzuziehen. Ferner entspräche der jetzige Anspruch 1 dem Gegenstand des erteilten Anspruchs 7 wodurch bestätigt werde, dass keine Schutzbereicherweiterung erfolgt sei.

Artikel 56 EPÜ

Die zu lösende Aufgabe sei die Bereitstellung von Polyamiden mit höherem Brechungsindex und niedriger, jedoch nicht "niedrigerer" Dichte.

D9 betreffe die gleiche Aufgabe. Jedoch gebe es keinen Hinweis in D9, eine Erhöhung des Brechungsindexes durch Einbau von aromatischen Einheiten zu erreichen. Der Gegenstand der Ausführungen der Begleitperson der Beschwerdeführerin sei nicht angekündigt worden, so dass der Vortrag dieser Begleitperson nicht zuzulassen sei.

Bezüglich der verspätet eingereichten Dokumente D12 und D13:

Es wurde eingeräumt, dass die Frage des Einflusses der Struktur der Polymere auf den Brechungsindex, in welchem Zusammenhang D12 und D13 zitiert wurden, erst während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zur Diskussion kam.

D12 sei allerdings nicht relevant. Erstens, weil es keine Polyamide betreffe. Zweitens befasse sich D12 mit der entgegengesetzten Aufgabe, nämlich die Erzielung eines niedrigen Brechungsindexes. Es sei nicht richtig anzunehmen, dass das Dokument im Umkehrschluss zeige, wie Polymere mit höherem Brechungsindex zu erzielen seien.

D13 sei, wenn überhaupt, erst ex post facto relevant. Das Dokument befasse sich zwar mit aromatischen Polyamiden, aber mit einer anderen Aufgabe als die des Patents, nämlich mit Sperrschichten (Barrierefilmen). Obwohl der Brechungsindex in manchen Beispielen von D13 angegeben sei, sei dies nicht Teil der Aufgabe von D13. Es gäbe somit keine Veranlassung, ausgehend von D9 und im Hinblick auf die patentgemäß zu lösende Aufgabe D13 heranzuziehen.

Auch wenn man dessen ungeachtet D13 berücksichtigen würde, gelange man nicht zum Anspruchsgegenstand. Die Brechungsindizes der patentgemäßen Beispiele 6 und 7 seien höher als die in den Beispielen von D13. Die Beispiele von D13 würden nicht zeigen, dass der Brechungsindex notwendigerweise mit steigendem aromatischen Gehalt ansteige (Beispiele 1 und 3). Würde man ferner der Lehre von D13 folgen, würde man ausschließlich IPA als Dicarbonsäure verwenden, da der Brechungsindex gemäß den Beispielen von D13 hierdurch maximiert werde.

XI. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1397414.

XII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des Hauptantrags, der während der mündlichen Verhandlung vom 30. September 2016 eingereicht wurde.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag

Regel 80 EPÜ

Die Einsprechende ist der Meinung, dass die durchgeführten Änderungen im Hinblick auf Regel 80 EPÜ nicht zulässig seien, weil kein bestehender unabhängiger Anspruch durch Aufnahmen von weiteren Merkmalen eingeschränkt wurde, sondern der ursprüngliche Anspruch 1 gestrichen und durch einen neuen unabhängigen Anspruch ersetzt wurde.

Regel 80 EPÜ schreibt die Form der zulässigen Änderungen nicht vor. Vielmehr bestimmt die Regel unter welchen Umständen Änderungen eines Patents vorgenommen werden können. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass es die Absicht der Patentinhaberin war, durch den neuen Wortlaut des Anspruchs 1 den beanspruchten Gegenstand einzuschränken, um einem Einwand unter Artikel 54 EPC zu begegnen. Es besteht somit kein Zweifel, dass die Änderungen durch einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 EPÜ veranlasst worden sind. Die Erfordernisse der Regel 80 EPÜ sind somit erfüllt.

1.2 Artikel 123 (2) EPÜ

1.2.1 Anspruch 1 entspricht dem Wortlaut des ursprünglichen Anspruchs 3, wobei der Bezug auf den Anspruch 1 fehlt und die Einschränkung des Anspruchs 5 bezüglich der Menge von MXD aufgenommen wurde. Der ursprüngliche Anspruch 5 war von allen vorhergehenden Ansprüchen abhängig. Als (arithmetische) Konsequenz dieser Änderung wurde die zulässige Menge von Hexamethylendiamin entsprechend angepasst, damit die Gesamtmenge weiterhin 100 Mol% betrug. Die im vorliegenden Anspruch 1 definierte Formmasse stellt eine bevorzugte Ausführungsform der ursprünglichen Anmeldung dar, die den Ansprüchen 3 und 5 und der entsprechenden Information in der Beschreibung, nämlich der Formel (II) auf Seite 10 und dem bevorzugten Anteil an aromatischen Kernen auf Seite 11, sowie den Beispielen B6 und B7 aus der Tabelle 1 (Seite 18), eindeutig und unmittelbar zu entnehmen ist.

Im Laufe des Einspruchsverfahrens sowie des Beschwerdeverfahrens wurde ein Einwand gemäß Artikel 123 (2) EPÜ im Hinblick auf die Streichung des erteilten Anspruchs 1 und die Umformulierung des erteilten abhängigen Anspruchs 4 als unabhängigen Anspruch 1 erhoben, weil es keine eindeutige Offenbarung für eine Untergrenze der Menge an MXD von 20 Mol% gebe.

Dieser Einwand kann jedoch für den während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hauptantrag außer Betracht gelassen werden, da die Untergrenze von MXD nunmehr 50 Mol% beträgt welche Untergrenze, wie oben dargestellt, dem ursprünglich eingereichten Anspruch 5 zu entnehmen ist.

Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass der ursprüngliche Anspruch 1 aufgrund der Formel (I):

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

eine Blockstruktur des Polymers definiere, welche Blockstruktur nun im geänderten Anspruch 1 nicht mehr vorgegeben sei.

Der ursprünglich eingereichte Anspruch 1 enthält nach Überzeugung der Kammer kein Merkmal welches explizit oder implizit eine bestimmte Struktur des Polymers oder eine Monomerverteilung vorschreibt. Der Anspruchswortlaut bestimmt lediglich, dass die durch die Formel (I) dargestellten Ketten (Mehrzahl) das Polymer kennzeichnen. Da die Formel (I) im ursprünglich eingereichten Anspruch 1 lediglich eine einzelne Kette darstellt ist zu klären wie der Begriff "die folgenden Ketten" (Mehrzahl) zu verstehen ist. Im Kontext, d.h. in Anbetracht der Schreibweise des Anspruchs, kann der Begriff "die folgenden Ketten" nur so verstanden werden, dass er sich auf die einzelne, in geschweiften Klammern stehenden Ketten mit den jeweiligen Indizes (n1, n2 und n3) bezieht.

Die Indizes bezeichnen "Gew.-% Anteile" und damit eine relative, auf das Polymer als Ganzes bezogene Größe. Demzufolge ist der Anspruch so zu verstehen, dass die relative Mengen (Proportionen) der angegebenen Einheiten definiert werden, aber nichts mehr. Insbesondere kann dieser Angabe der relativen Mengen der Einheiten im Polymer weder die absolute Anzahl an Einheiten, noch eine Definition der Struktur, Gruppierung oder Reihenfolge der verschiedenen Monomereinheiten entlang der Polymerkette entnommen werden.

Diese Interpretation der Bedeutung der Formel (I) des ursprünglichen Anspruchs 1 wird durch die Beschreibung der Anmeldung bestätigt, in der ab Seite 9, letzter Teilabsatz, verschiedene bevorzugte Ausführungsformen offenbart werden, ohne jedoch die Schreibweise des ursprünglichen Anspruchs 1 zu verwenden. Unter anderem ist auf Seite 10 die Formel (II) gemäß dem geltenden Anspruch 1 aufgeführt. Ferner lässt sich den experimentellen Angaben der Beispiele keine Blockstruktur entnehmen. Vielmehr werden alle Monomere in einem Schritt zugegeben und umgesetzt. Auch unter Heranziehung der Beschreibung der ursprünglichen Anmeldung lässt sich folglich eine Interpretation der Formel (I) als eine Blockstruktur nicht vertreten.

1.2.3 Folglich stellt das Fehlen der Strukturformel des ursprünglichen Anspruchs 1 im Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags keinen Mangel gemäß Artikel 123 (2) EPÜ dar.

1.3 Artikel 123 (3) EPÜ

1.3.1 Nach Artikel 123 (3) EPÜ darf das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass der Schutzbereich erweitert wird. Bei der Beurteilung, ob die nach der Erteilung vorgenommenen Änderungen die Bestimmungen des Artikels 123 (3) EPÜ verletzen, ist im vorliegenden Fall die Frage zu untersuchen, ob die Formmassen gemäß dem geänderten Anspruch 1 in den Schutzbereich des erteilten europäischen Patentes fiel.

Nach Artikel 69 EPÜ wird der Schutzbereich eines europäischen Patents durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen sind. Nach dem Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ, das gemäß Artikel 164 (1) EPÜ Bestandteil des Übereinkommens ist, "ist der Schutzbereich des europäischen Patentes nicht so zu verstehen, dass er sich aus dem genauen Wortlaut der Ansprüche ergibt und dass die Beschreibung sowie die Zeichnungen nur zur Behebung eventueller Unklarheiten in den Ansprüchen anzuwenden sind. Ebenso wenig ist Artikel 69 dahin gehend auszulegen, dass die Patentansprüche lediglich als Richtlinie dienen und der Schutzbereich sich auf das erstreckt, was sich dem Fachmann nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt. Die Auslegung soll vielmehr zwischen diesen extremen Auffassungen liegen und einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden."

1.3.3 Aus den in Punkt 1.2.1 betreffend die ursprüngliche Offenbarung der Anmeldung genannten Gründen, ist den entsprechenden Passagen im erteilten Patent (Absätze [0031], [0038], [0040], Beispiele B6 und B7, erteilte Ansprüche 4 und 7) zu entnehmen, dass die Formmassen gemäß dem geänderten Anspruch 1 Gegenstand des erteilten Patents waren. Die genannten Passagen im erteilten Streitpatent legen keine Blockstruktur der Formassen gemäß dem Streitpatent fest.

1.3.4 Infolgedessen ist festzustellen, dass der geänderte Anspruch 1 einen Gegenstand definiert, der in den Schutzbereich des Streitpatents in der erteilten Form fiel.

1.3.5 Die Kammer kommt somit zu dem Ergebnis, dass der geänderte Anspruch 1 nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstößt.

2. Artikel 54 EPÜ

Die Neuheit wurde seitens der Beschwerdeführerin explizit nicht in Frage gestellt. Die Kammer hat keine Veranlassung die Neuheit von sich aus in Zweifel zu ziehen.

3. Artikel 56 EPÜ

3.1 Nächstliegender Stand der Technik

Das Patent betrifft Polyamidformmassen zur Herstellung optischer Linsen. Gemäß Absatz [0001] des Patents betrifft die Erfindung thermoplastisch verarbeitbare, transparente Polyamidformmassen, die einen hohen Brechungsindex, d.h. von größer 1,6, und eine niedrige Dichte von kleiner 1,3 g/cm**(3) aufweisen (Absatz [0003]).

Insbesondere besteht gemäß Absatz [0025] des Patents die Aufgabe darin, thermoplastische, transparente Polyamidformmassen zur Verfügung zu stellen, die im Vergleich zu anderen für die Linsenherstellung bekannten Polymeren, nämlich Polymethylmethacrylat (PMMA), Polycarbonat (PC), Polystyrol (PS) und Cycloolefin polymere (COC) (vgl. auch Absatz [0007] des Patents), einen höheren Brechungsindex (>1,6) bei geringer Dichte aufweisen. Die Verarbeitungstemperatur der Formassen soll die von PC nicht übersteigen. Gleichzeitig sollen die Formmassen höchste Härte und Steifigkeit aufweisen.

3.2 Im Laufe des Verfahrens wurden drei mögliche Offenbarungen als nächstliegender Stand der Technik vorgeschlagen:

- Vergleichsbeispiel 2 des Streitpatents (in der Entscheidung und zunächst von der Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren);

- D4 (Beschwerdeführerin/Einsprechende);

- D9 im Laufe des Beschwerdeverfahrens insbesondere während der mündlichen Verhandlung (Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin).

3.2.1 Vergleichsbeispiel 2 des Streitpatents betrifft ein kommerzielles Produkt ,,Grivory 21" der Patentinhaberin. Im Patent wird die Herstellung und somit die Monomerzusammensetzung dieses Polymers angegeben. Es wurde seitens der Beschwerdeführerin nicht bestritten, dass ,,Grivory 21" zum Stand der Technik gemäß Artikel 56 EPÜ gehöre.

Es fehlt in dem Patent jedoch jegliche Information bezüglich des anvisierten Anwendungsgebiets dieses Polymers. Auch während des Einspruchs- bzw. Beschwerdeverfahrens wurden von den Parteien keine Angaben hierzu gemacht. Somit fehlt der Nachweis, dass ,,Grivory 21" für optische Anwendung im allgemein oder die Herstellung optischer Linsen insbesondere bestimmt und bekannt war.

Die Tatsache, dass ,,Grivory 21" bestimmte strukturelle Ähnlichkeiten mit den anspruchsgemäß definierten Polyamidformmassen aufweist, reicht nicht aus, um dieses Produkt als nächstliegenden Stand der Technik zu betrachten.

D4 betrifft Polyamide die für Barrierefilme, z.B. bei der Verpackung von Lebensmitteln, bestimmt sind (Abstract, Seite 2 Zeilen 3-8). Obwohl unter den zu erreichenden Eigenschaften ,,excellent optical properties" angegeben ist (Seite 3, Zeile 41-42), ist diese Aussage sehr allgemein und undifferenziert. Es fehlt insbesondere einen Hinweis auf den Brechungsindex.

Ferner fehlt in D4 jegliche Angabe über die Verwendung der definierten Polyamide als optische Linsen oder in sonstigen optischen Anwendungen.

3.2.3 D9, welches Dokument im Absatz [0020] des Streitpatents im Bezug auf die Herstellung von transparenten Linsen zitiert wird, betrifft explizit die Verwendung von Polyamidformmassen zur Herstellung optischer oder elektrooptischer Formteile (Titel, 1. Absatz der Beschreibung). Gemäß Spalte 1, Zeilen 51-58, besteht die Aufgabe von D9 darin, Polyamide zur Verfügung zu stellen, die für optische Anwendung eingesetzt werden können und einen hohen Brechungsindex sowie gleichzeitig eine relativ niedrige Dichte aufweisen. Gemäß Spalte 2, Zeilen 44-49, besitzen die Formkörper gute mechanische Eigenschaften wie Schlagzähigkeit, Reissdehnung und sind ferner kratz- und abriebfest.

3.2.4 Von den drei als nächstliegender Stand der Technik vorgeschlagenen Offenbarungen betrifft lediglich D9 das gleiche Fachgebiet und zum Teil die gleiche Aufgabenstellung des Streitpatents.

Somit ist D9 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen.

3.3 Analyse von D9

In Detail betrifft der nächstliegende Stand der Technik D9 gemäß Anspruch 1 Polyamid-Formmassen die mindestens ein Homopolyamid enthalten, das aus langkettigen aliphatischen Monomerbausteinen und cycloaliphatischen Monomerbausteinen besteht. Anspruch 6 bestimmt, dass bis zu 50 Mol% der eingesetzten aliphatischen Disäuren durch aromatische Dicarbonsäuren ersetzt sein können. Gemäß Beispiel 1 von D9 wird ein Homopolyamid aus Bis(3-methyl-4-aminocyclohexyl)methan und Dodecandisäure zu Linsen verarbeitet. Das Polymer, dessen Herstellung in D9 nicht detailliert besprochen wird, weist einen Brechungsindex von 1,510, sowie eine Dichte von 1,01 g/cm**(3) auf. Es gibt kein Beispiel welches einen Anteil einer aromatischen Säure enthält.

3.4 Der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 unterscheidet sich von der Offenbarung von D9 deshalb durch die Zusammensetzung der Diaminkomponente wobei 50-80 Mol% davon aromatisch ist (meta-Xylylendiamin) sowie dadurch, dass die Disäurekomponente ausschließlich aus aromatischen Dicarbonsäuren mit der definierten Zusammensetzung TPA/IPA besteht (siehe oben).

3.5 Aufgabe und Lösung

Ausgehend von D9 als nächstliegendem Stand der Technik liegt dem Streitpatent die Aufgabe zugrunde, Polyamide mit einem höheren Brechungsindex und niedriger Dichte bereitzustellen. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent die Formmassen gemäß Anspruch 1 vor, welche durch die Zusammensetzungen gemäß Formel (II) und ein Brechungsindex nD**(20) von größer 1,6 gekennzeichnet sind. Die Formmassen gemäß Anspruch 1 haben anspruchsgemäß einen Brechungsindex nD**(20) von größer 1,6, und somit einen höheren Brechungsindex nD**(20) als die Formmassen aus D9.

Der im Beispiel von D9 offenbarte Wert liegt bei 1.51. Die Tabelle 1 des Patents gibt die verwendeten Mengen der Comonomere auf Basis von Gew-%, nicht jedoch auf Basis von Mol% an.

Die Beschwerdeführerin hat mit Schreiben vom 15. September 2016 eine Tabelle eingereicht, in der die Mengenangaben der Tabelle 1 des Patents in Mol% umgerechnet wurden.

Relevant sind die Beispiele 6 und 7 weil diese die einzigen Polyamide mit dem anspruchsgemäß definierten Gehalt an MXD darstellen. Die Brechungsindizes dieser zwei Polyamide betragen 1,621 sowie 1,627. Ihre Dichte liegt zwischen 1,22 und 1,23. Somit hat die Kammer keinen Anlass am Erfolg der Lösung der Aufgabe durch die beanspruchte Masse zu zweifeln.

3.6 Naheliegen

3.6.1 Es bleibt zu untersuchen, ob der Stand der Technik dem Fachmann Anregungen bot, ausgehend von der Druckschrift D9 die oben genannte Aufgabe durch die Verwendung der vorliegenden Formmassen zu lösen.

3.6.2 D9 betrifft Polyamide, bei denen die Diaminkomponente ausschließlich aliphatisch ist und die Disäurekomponente maximal zu 50 Mol% aus aromatischen Dicarbonsäuren bestehen kann.

Somit kann D9 keinen Hinweis auf die patentgemäße Lösung der Aufgabe liefern.

3.6.3 Weiterer Stand der Technik

Bezüglich der Frage, ob die anspruchsgemäße Lösung des Problems naheliegend war, bezog sich die Beschwerdeführerin auf zwei Dokumente D12 und D13. Ferner wurde beantragt, einen Sachvortrag eines technischen Experten während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zuzulassen.

3.6.4 Sachvortrag der Beschwerdeführerin - Zulässigkeit

Während der mündlichen Verhandlung beabsichtigte die Beschwerdeführerin, das Naheliegens der beanspruchte Lösung durch ihren technischen Experten darlegen zu lassen.

Vorgängig zur mündlichen Verhandlung hatte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 31. März 2016 lediglich mitgeteilt, der Vertreter werde von einem technischen Experten begleitet der "ggf. zu technischen Fragen Stellung nehmen" werde.

Es wurde jedoch weder mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, dass der technische Experte einen Sachvortrag halten werde, noch wurde der Gegenstand eines solchen Sachvortrags oder einer "Stellungnahme" zu diesem Zeitpunkt spezifiziert. Erst während der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin bekannt, zu welchem technischen Aspekten der Experte aussagen solle (Einfluss der Anwesenheit von aromatischen Ketteneinheiten auf den Brechungsindex).

Diese Vorgehensweise widerspricht der einschlägigen Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 4/95 wonach gemäß Abschnitt 10, 2. Absatz der Entscheidungsgründe sowie Abschnitt 3.(b).(ii) der Entscheidungsformel rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung nicht nur der Name und Qualifikation des Begleitpersons sondern auch der Gegenstand, zu dem sich die Person äußern werde, zu nennen seien.

Es lagen ferner keine außergewöhnlichen Umstände vor, die einen unangekündigten Sachvortrag hätten rechtfertigen können. Im Gegenteil: Bereits aus dem schriftlichen Sachvortrag der Parteien sowie der Mitteilung der Kammer in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung war ersichtlich, welche technische Aspekte im Allgemeinen als entscheidungsrelevant angesehen wurden (vgl. G 4/95, Abschnitt 10, letzter Absatz bzw. Entscheidungsformel 3.(b).(iii)). Somit hätte die Beschwerdeführerin rechtzeitig die Kammer und die Gegenpartei darüber informieren können und sollen, zu welchen technischen Fragen Äußerungen des technischen Experten beabsichtigt waren, damit insbesondere die Beschwerdegegnerin sich darauf vorbereiten konnte.

Die Beschwerdegegnerin hat ferner ihre Zustimmung zu dem Sachvortrag nicht gegeben.

Unter diesen Umständen war der beantragte Sachvortrag der Beschwerdeführerin nicht zuzulassen.

3.6.5 D12

a) Zulässigkeit

Dieses Dokument wurde während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt und von der Einspruchsabteilung nicht ins Verfahren zugelassen.

Das Dokument wurde erneut mit der Beschwerde­begründung eingereicht.

Zeitpunkt der Einreichung - Artikel 12 (4) VOBK

In der Ladung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, nahm diese nicht zur erfinderischen Tätigkeit Stellung, da nach ihrer vorläufigen Meinung ohnehin alle Anträge Mängel in Bezug auf Artikel 123 (2) EPÜ, Artikel 123 (3) EPÜ und/oder Artikel 54 EPÜ aufwiesen.

Bezüglich des der Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrags (eingereicht als 2. Hilfsantrag mit Schreiben vom 04.03.2011 und mit Schreiben vom 09.03.2012 als Hauptantrag weiterverfolgt) hatte die Einsprechende vor der Einspruchsabteilung schriftlich vorgetragen, dieser sei aufgrund unzulässiger Erweiterung nicht gewährbar, welche Auffassung durch die Einspruchsabteilung in der Ladung zur mündlichen Verhandlung geteilt worden war. Erst nach der Feststellung der Einspruchsabteilung an der mündlichen Verhandlung, der Hauptantrag erfülle sowohl die Erfordernisse des Artikels 123 EPÜ als auch des Artikels 54 EPÜ, wurde die Frage der erfinderischen Tätigkeit relevant.

In der Entscheidung wurde die erfinderische Tätigkeit zum Teil damit begründet, dem Stand der Technik seien keine Hinweise über den Einfluss aromatischer Einheiten in Polymeren auf den Brechungsindex zu entnehmen. Gemäß dem Vortrag in der Beschwerdebegründung sollte genau dieser erstmals an der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Gesichtspunkt durch D12 adressiert werden. D12 befasst sich laut Titel damit, den niedrigstmöglichen Brechungsindex eines organischen Polymers zu bestimmen.

Die Zielsetzung des Streitpatents war zwar die entgegengesetzte, nämlich die Erzielung von Polymeren mit hohem Brechungsindex. Nichtsdestotrotz ist es glaubhaft, dass die Lehre von D12 als relevant für den Vortrag der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit angesehen werden kann, da das Dokument bereits laut seinem Titel die Frage der Beeinflussung des Brechungsindexes von Polymeren betrifft. Das Dokument ist darüber hinaus sehr kurz. Bei der Ermessensausübung hätte die Einspruchsabteilung die Möglichkeit einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung berücksichtigen sollen, wie sie zumindest hilfsweise von der Patentinhaberin beantragt worden war, um dieser Gelegenheit zu geben, sich mit dem Inhalt des kurzen Dokuments vertraut zu machen. Laut Niederschrift wurde die mündliche Verhandlung bereits um 14:00 Uhr geschlossen. Es bestand also offensichtlich keine Zeitnot und die Zulassung des Dokuments hätte nicht zu einer übermäßigen Verzögerung des Verfahrens geführt. Auch das Argument, die Ansprüche 1 und 2 des von der Einspruchsabteilung zu beurteilenden Anspruchssatzes seien schon im erteilten Patent als abhängige Ansprüche 4 und 5 vorgelegen und von der Einsprechenden mit der Einspruchsschrift auch angegriffen worden, weshalb kein Grund für die spätere Vorlage des Dokuments D12 bestanden habe, ist nicht tragfähig. Denn erst mit der Vorlage des Hilfsantrags 2 mit Schriftsatz vom 4. März 2011 wurde der Gegenstand dieser abhängigen Ansprüche relevant, insoweit erstmals ein Anspruchssatz vorlag, mit dem die Patentinhaberin zumindest hilfsweise den Gegenstand des Einspruchsverfahrens auf denjenigen der erteilten Ansprüche 4 und 5 einschränkte (vgl. auch G 9/91, ABl. EPA 1993, 408, Nr. 11). Es sind auch keine Anzeichen erkennbar, dass mit der Vorlage des Dokuments aus taktischen Überlegungen, namentlich um die Gegenseite zu überraschen, zugewartet wurde. Des Weiteren hatte die Einspruchsabteilung in der Anlage zur Ladung über dem 2. Hilfsantrag, entsprechend dem Hauptantrag auf dem sich die angefochtene Entscheidung basierte, lediglich festgestellt, dass dieser Antrag die Bedingungen der Artikel 123(2) und (3) EPÜ nicht erfüllte und nicht angegeben, dass es ebenfalls beabsichtigt wurde, andere Bedingungen des EPÜ in Bezug auf diesem Antrag zu debattieren. Aus diesen Gründen hat die Einspruchabteilung nach Auffassung der Kammer ihr Ermessen nicht richtig ausgeübt.

Ihre Entscheidung stützte die Einspruchsabteilung darüber hinaus auf den Umstand, dass Belege zum Einfluss aromatischer Einheiten in Polymeren auf den Brechungsindex fehlten. Somit stellt die Vorlage von D12 mit der Beschwerdebegründung eine Reaktion auf Aspekte der Entscheidung dar, die im schriftlichen Einspruchsverfahren insofern nicht zur Debatte gekommen sind, weil die Einspruchsabteilung diesen Aspekt in ihrer Stellungnahme nicht aufgegriffen hatte, sondern erst während der mündlichen Verhandlung diskutiert.

Aufgrund des Vorhergehenden kann die Kammer keinen Grund erkennen, das Dokument nicht in das Verfahren zuzulassen (Art. 12(4) VOBK).

3.6.6 D13

a) Zulässigkeit

D13 wurde zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht.

Das Dokument betrifft teilaromatische Polyamide die als Sperrschichten einsetzbar sind. Der Brechungsindex wird in Spalte 3 ab Zeile 35 insofern besprochen als es eine Zielsetzung war, einen ähnlichen Brechungsindex bei Polycarbonaten zu erzielen.

Zeitpunkt der Einreichung - Art. 12(4) VOBK

D13 wurde aus den gleichen Gründen wie D12 zitiert, nämlich um den Aspekt der Beeinflussung/Einstellung des Brechungsindex von Polymeren durch ihre Komponenten zu belegen. Das Dokument betrifft aromatische Polyamide und geht explizit auf die Einstellung des Brechungsindex durch Variationen der Monomerzusammensetzung - zumindest als Teilaufgabe - ein (Spalte 3, Zeilen 37, 40, Spalte 4, Zeile 62 Beispiele). Somit greift das Dokument genau den Punkt auf, der in den Entscheidungsgründen als relevant wenn nicht sogar tragend dargelegt wurde.

Wie auch D12 ist die Vorlage von D13 durch den vorstehend genannten erst während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung und in den Entscheidungsgründen herangezogenen Gesichtspunkt erforderlich geworden. Somit hatte die Beschwerdeführerin/Einsprechende keine Veranlassung, D13 zu einem früheren Verfahrenszeitpunkt einzureichen.

Aus diesen Gründen sieht die Kammer auch in Bezug auf das Dokument D13 keinen Grund, dieses nicht ins Verfahren zuzulassen (Artikel 12(4) VOBK).

3.7 Zur Klärung der Frage der erfinderischen Tätigkeit ist zu untersuchen ob die Kombination von D9 mit D12 oder D13 den Anspruchsgegenstand nahelegt.

D9 betrifft rein aliphatische Polyamide. Es kann maximal 50 mol% der Säure durch aromatische Säure ersetzt werden.

Lehre von D12

D12 betrifft keine Polyamide sondern fluorierte Polyolefine insbesondere modifizierte PTFE (vgl. Tabellen II und III).

Tabelle 1 auf Seite 6661 von D12 nennt folgende aromatische Einheiten für die "Polymer Substructures": C6H5 (Eintrag 31) - eine monovalente Einheit die nur als Substituent nicht jedoch als Hauptkettenglied in Frage kommt - und p-C6H4 (Eintrag 37) sowie C6H3 (Eintrag 39).

D12 enthält aber weder einen Hinweis auf die Komponenten, die für die Linsen gemäß D9 verwendet werden, nämlich Bis(3-methyl-4-aminocyclohexyl)methan und Dodecandisäure, noch Hinweise auf die Komponenten, die gemäß Anspruch 1 des Streitpatents verwendet werden. Komponenten mit ähnlichen Strukturen sind auch nicht vorhanden. Somit kann D12 nicht darauf hindeuten, dass die Lehre bezüglich des Einflusses verschiedener aromatischen Gruppen auf den Brechungsindex fluorierter Polymere mit C-C Hauptkette auf die Polymere gemäß D9 übertragbar ist. Auch wenn dies der Diskussion halber angenommen würde, gäbe es keinen Hinweis in D12, der zur anspruchsgemäßen Comonomerzusammensetzung führen würde.

D12 könnte höchstens dazu dienen, ex post die Ergebnisse des Patents (zumindest teilweise) zu erklären.

Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 durch die Kombination von D9 und D12 nicht nahegelegt.

Lehre von D13

D13 betrifft Polyamide, welche gemäß Anspruch 1 aus zumindest 50 Mol% aromatischen Dicarbonsäure sowie zumindest 50 Mol% Hexandiamin, welche durch bis zu 50% von anderen Diaminen unter anderem araliphatischen Diaminen ersetzt sein kann, bestehen.

In den Beispielen wird unter anderem der Brechungsindex angegeben. Der Brechungsindex wird in Spalte 3 ab Zeile 35 insofern besprochen, als es eine Zielsetzung von D13 war, einen ähnlichen Brechungsindex zum Polycarbonaten zu erzielen. Ferner wird in dieser Passage offenbart, dass es möglich sei, den Brechungsindex über breite Bereiche zu variieren.

Die Beispiele von D13 werden in einer Tabelle zusammengefasst. Die Angaben in Mol% beziehen sich in dieser Tabelle allerdings jeweils auf das gesamte Polymer, nicht auf die jeweiligen Comonomer wie im Streitpatent. Somit müssen die Werte in der Tabelle von D13 mit 2 multipliziert werden, um den gleichen Basis wie im Anspruch 1 des Patents zu erhalten. "Laromin" ist ein cycloaliphatisches Amin. Die Tabelle ist nachfolgende wiedergegeben:

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Hieraus geht hervor, dass der höchste Brechungsindex (1,6058 - Beispiel 4) mit einem Polymer basierend auf 70 mol% HMD/30 mol% MXD sowie 100% IPA als Säure erhalten wird. Aus Beispiel 2 von D13 geht hervor, dass der Brechungsindex 1.6052 beträgt, wenn einen Teil der IPA durch TPA ersetzt wird.

Ausgehend von D9 gab es indes keinen Grund auf D13 zurückzugreifen. Obwohl beide Dokument sich mit Polyamiden befassen und beide - zumindest zum Teil - den Brechungsindex besprechen, sind die Dokumente größtenteils inkompatibel.

Während D9 aliphatische Polyamide offenbart, wobei maximal 50 Mol% der Disäurekomponente durch aromatischen Disäuren ersetzt sein können, betrifft D13 Polyamide bei denen die Säurekomponente zwangsläufig 100% aromatisch ist. Die Modifizierung dieses Aspekts der Lehre von D9 im Sinne von D13 würde erfordern, dass man entgegen der Lehre von D9 vorginge. Stellt man sich ferner die Aufgabe, Polyamide mit maximalem Brechungsindex zu erhalten, dann geht aus der Zusammenschau der Beispiele 2 und 4 von D13 hervor, dass man zu diesem Zweck ausschließlich IPA als Dicarbonsäure verwenden soll. Ausgehend von D13 würde man mehrheitlich HMD als Diamin nehmen, wohingegen der geltenden Anspruch mehrheitlich MXD vorgibt, welches - wie sich nachweislich aus den Beispielen des Patents ergibt - zu einem höheren Brechungsindex führt.

Würde man ungeachtet dieser offensichtlichen Unvereinbarkeiten D9 mit D13 kombinieren und dabei teilweise entgegen der Lehre von D9 hinsichtlich der Zusammensetzung der Comonomere vorgehen, käme man angesichts der Aufgabenstellung, Polyamide mit höherem Brechungsindex bereitzustellen, dennoch nicht zum Gegenstand des geltenden Anspruchs, da zumindest D13 die notwendige Disäurekomponente nicht nahelegt.

3.8 Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Streitpatent ausgehend von D9 als nächstliegendem Stand der Technik auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).

3.9 Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 betreffen Ausführungsformen der Polyamidformmassen gemäß Anspruch 1, die Ansprüche 11 bis 13 betreffen Verfahren zur Herstellung von Formkörpern aus den Formmassen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 10, die Ansprüche 14 und 15 betreffen ein Verfahren zur Weiterverarbeitung der Formmassen gemäß einem der Ansprüche 11 bis 13 oder der aus den Formmassen hergestellten Formkörper gemäß einem der Ansprüche 11 bis 14, die Ansprüche 16 und 17 betreffen spezifische optische Artikel aus den Formmassen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 10, sowie dem Verfahren gemäß einem der Ansprüche 11 bis 14 hergestellt worden sind und die Ansprüche 18 und 19 betreffen Verwendungen der erfindungsgemäßen Formmassen gemäß einem der Ansprüche 1 bis 10. Daher wird deren erfinderische Tätigkeit von der des Anspruchs 1 getragen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Vorinstanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent mit den folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrecht zu erhalten:

Ansprüche 1 bis 19 des während der mündlichen Verhandlung vom 30. September 2016 eingereichten Hauptantrags.

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