T 0581/12 () of 5.5.2015

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T058112.20150505
Datum der Entscheidung: 05 Mai 2015
Aktenzeichen: T 0581/12
Anmeldenummer: 03811343.7
IPC-Klasse: A23K 1/16
A23K 1/18
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: FUTTERMITTELZUSATZ UND DIESEN ENTHALTENDES FUTTERMITTEL
Name des Anmelders: J. Rettenmaier & Söhne GmbH + Co. KG
Name des Einsprechenden: Holzmühle Westerkamp GmbH
JELU-WERK Josef Ehrler GmbH & Co KG
Kammer: 3.3.09
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden II, JELU-WERK Josef Ehrler GmbH, richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 542 545 der Firma J. Rettenmaier & Söhne zurückzuweisen.

Der Einspruch der Einsprechenden I, Holzmühle Westerkamp GmbH, war mit Schreiben vom 7. März 2008 zurückgezogen worden. Die Einsprechende I ist daher am Verfahren nicht mehr beteiligt.

II. Die Ansprüche 1 und 2 des mit 6 Ansprüchen erteilten Patents lauten wie folgt:

"1. Futtermittelzusatz für in der Gravidität, Laktation, Mast oder Aufzucht befindliche Nutztiere mit einem Anteil an fibrillierten cellulosehaltigen Fasern, dadurch gekennzeichnet, dass er ein Rohfaserkonzentrat von auffibrillierter Lignocellulose enthält."

"2. Futtermittelzusatz nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das Rohfaserkonzentrat einen Rohfasergehalt (nach Weender Analyse) von über 60%, ein Wasserrückhaltevermögen von über 700% oder von etwa 500-800% und eine so hohe Quellgeschwindigkeit besitzt, das die Quellung zu einem wesentlichen Teil vollzogen ist, solange sich das ohne Futtermittelzusatz enthaltende Futtermittel noch im Magen befindet."

Anspruch 3 ist auf die Ansprüche 1 oder 2 rückbezogen. Anspruch 4 und die abhängigen Ansprüche 5 und 6 sind auf ein Futtermittel, enthaltend den Futtermittelzusatz nach einem der Ansprüche 1 bis 3, gerichtet.

III. Die Einsprüche waren auf die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100a) (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit), 100b) und 100c) EPÜ gestützt. Unter Artikel 100c) EPÜ sah die Einsprechende II das Merkmal im Anspruch 2, betreffend das Wasserrückhaltevermögen von 500 bis 800%, als unzulässige Erweiterung an.

IV. Während des Einspruchsverfahrens wurde auf eine Reihe von Dokumenten Bezug genommen. Unter anderem wurde von der Einsprechenden II nach Ablauf der Einspruchsfrist, das Dokument

D20 US-A 4 136 207

erstmals genannt und darauf ein Einwand der mangelnden Neuheit und erfinderischen Tätigkeit gestützt.

Eine von der Einsprechenden II mit Schreiben vom 7. September 2007 vorgebrachte offenkundige Vorbenutzung mit Zeugenangebot wurde später nicht mehr weiterverfolgt.

V. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch zurückgewiesen wurde, kann wie folgt zusammengefasst werden:

Das Dokument D20 sei zum Verfahren zuzulassen, zum einen da es als prima facie relevant angesehen werde, und zum anderen da die Patentinhaberin keine Einwände gegen den von der Einsprechenden II auf D20 gestützten Einwand der mangelnden Neuheit hatte (Entscheidungs­gründe 4).

Die Aufnahme des Wasserrückhaltevermögens des Rohfaserkonzentrats von 500-800% in den Anspruch 2 stelle eine im Rahmen von Artikel 123(2) EPÜ zulässige Änderung dar.

Die Angaben in den Abschnitten [0009] und [0026] der Patentschrift versetzten den Fachmann auch in die Lage, die Erfindung im Rahmen von Artikel 83 EPÜ auszuführen.

Das in D20 offenbarte fibrillierte Lignocellulose­material könne nicht als Rohfaser angesehen werden. Daher sei der beanspruchte Futtermittelzusatz gegenüber D20 neu. Er sei auch, ausgehend von D20 als nächstliegendem Stand der Technik, erfinderisch, da die Lehre in D20 die Erhöhung der verdaubaren Anteile im Tierfutter auf Basis eines Lignocellusematerials zum Ziel habe, während die Aufgabenstellung des Streitpatents die Erzielung einer schnellen Sättigung bei Nutztieren durch Erhöhung des Quellvermögens des unverdaulichen Rohfaserkonzentrats betreffe.

VI. Die Beschwerde der Einsprechenden II (nachfolgend: Beschwerdeführerin) wurde am 5. März 2012 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr eingereicht. Die Beschwerdebegründung ging am 15. Mai 2012 ein.

VII. Die Beschwerdeführerin hielt ihre Einwände bezüglich mangelnder Offenbarung, Neuheit und erfinderischer Tätigkeit aufrecht und stützte ihr Vorbringen teilweise auf neue Dokumente, die als D21 bis D28 eingereicht wurden.

Der Einwand der mangelnden Neuheit stützte sich einerseits auf D20, und andererseits auf einen neu vorgebrachten Einwand einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung unter Bezugnahme auf folgende Dokumente:

D23 Produktblatt "ARBOCEL®"

D24 Fax der Firma Prochema vom 26. September 2002

D28 Fax der Firma Prochema vom 30. September 2002.

VIII. Im Bescheid vom 3. März 2015 nahm die Kammer vorläufig zu den Einwänden der Beschwerdeführerin wie folgt Stellung:

a) Der Einwand der mangelnden Offenbarung erscheine im Hinblick auf den Abschnitt [0026] der Patentschrift mit Hinweis auf die Verwendung einer "mühlenartigen Einrichtung" zur Fibrillierung der Lignocellulose und den Verweis im Abschnitt [0009] auf das Dokument EP 0 819 787 A2 bezüglich der Herstellung von Cellulose­fibrillen nicht stichhaltig.

b) Die geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung sei verspätet und die Beweiskette zudem als unvollständig anzusehen. Der Einwand könne daher voraussichtlich nicht zum Verfahren zugelassen werden.

Hingegen sei der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 als nicht neu gegenüber der Offen­barung in D20 anzusehen.

c) Die Frage der erfinderische Tätigkeit müsse - nach Klärung der Neuheitsfrage - auf Basis von D20 als nächstliegendem Stand der Technik diskutiert werden.

IX. Die Beschwerdegegnerin ging mit Schreiben vom 2. April 2015 auf die Einwände der Beschwerdeführerin und die Stellungnahme der Kammer ein und reichte die Hilfsanträge 1 bis 4 ein. Von diesen Hilfsanträgen ist nur der Hilfsantrag 1 für die Entscheidung von Bedeutung. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom erteilten Anspruch 1 durch die Aufnahme des Merkmals aus dem erteilten Anspruch 2, dass das Rohfaserkonzentrat einen Rohfasergehalt (nach Weender Analyse) von über 60% besitzt. Im Anspruch 2 dieses Hilfsantrags wurde diese Merkmal gestrichen.

Die Beschwerdegegnerin beantragte:

- das Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten;

- hilfsweise das Patent auf Basis eines der neu eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 aufrecht­zuerhalten;

- das bereits im Einspruchsverfahren vorgelegte Dokument D20 nicht zuzulassen, da es prima facie nicht relevant sei und somit nicht zum Einspruchsverfahren hätte zugelassen werden dürfen;

- die im Beschwerdeverfahren eingereichten Dokumente D21 bis D28 als verspätet nicht zum Verfahren zuzulassen.

Dem Schreiben lag ferner eine mikroskopische Aufnahme eines erfindungsgemäßen aus Holzrohstoff gewonnenen Rohfaserkonzentrats bei.

Außerdem reichte die Beschwerdegegnerin das Dokument D29 ein.

X. Die mündliche Verhandlung fand am 5. Mai 2015 statt, in der die strittigen Fragen diskutiert wurden. Die Beschwerdeführerin reichte noch folgendes Dokument ein:

D25a "Underutilized Resources as Animal Feedstuffs",

National Academy Press, 1983, 2 pages.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, dieses Dokument nicht in das Verfahren zuzulassen.

XI. Die schriftlich und mündlich von den Parteien vorge­tragenen Argumente, soweit sie für die Entscheidung relevant sind, sind nachfolgend zusammengefasst.

XII. Argumente der Beschwerdeführerin

Mangelnde Offenbarung

In der Patentschrift sei kein konkretes Verfahren angegeben, wie die Fibrillierung der Lignocellulose erzielt werden könne. Ebenso fehle ein Hinweis, was unter Fibrillen zu verstehen sei. Der Hinweis auf eine "mühlenartige Einrichtung" zur Herstellung der Fibrillen im Abschnitt [0026] der Patentschrift sei zu vage, da er keine Auskunft über die Ausgestaltung der Mühle und die Art des Mahlverfahrens gebe. Es sei zudem zweifelhaft, ob mit Mahlen allein eine Fibrillierung von Fasern überhaupt erzielt werden könne. Vielmehr müssten zusätzliche Bedingungen wie Dampf und Druck angewendet werden.

Die Bezugnahme auf das Dokument EP 0 819 787 A2 im Abschnitt [0009] sei ebenfalls nicht hilfreich, da sich das Dokument auf die Herstellung von reinen Cellulose­fibrillen beziehe, die jedoch nicht mit Fibrillen aus Lignocellulose gleichzusetzen seien. Der Fachmann wisse also nicht, ob das Verfahren zur Fibrillierung von reinen Cellulosefasern auch für Lignocellulosefasern geeignet ist.

Neuheit - Hauptantrag

Offenkundige Vorbenutzung

Im Lichte der Stellungnahme der Kammer in ihrem Bescheid, dass der Einwand der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung in Form des Produktes "ARBOCEL HS 250" voraussichtlich nicht zum Verfahren zugelassen werde, machte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung hierzu keine weiteren Ausführungen.

Neuheit gegenüber D20

D20 beschreibe ein aus einem rohen Lignocellulose­material hergestelltes Produkt unter Verwendung von Holz in fein verteilter Form als Ausgangsmaterial. Durch Dampf/Druckbehandlung mit nachfolgender schneller Expansion liege das Lignocellulosematerial in fibrillierter Form vor (Spalte 8, Zeilen 7 bis 10). Das erhaltene Produkt werde als Zusatz von Tierfutter verwendet (Spalte 7, Zeilen 14 bis 16). Der Ausdruck "Rohfaserkonzentrat" im Anspruch 1 stelle kein Unterscheidungsmerkmal gegenüber D20 dar. Damit seien alle Merkmale des erteilten Anspruchs 1 in D20 offenbart.

Änderungen - Hilfsantrag 1

In den Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 sei das Merkmal des Rohfasergehalts von über 60% isoliert aus der Merkmalskombination des erteilten Anspruchs 2 aufgenommen worden. Dies stelle eine Verletzung der Erfordernisse des Artikels 123(2) dar.

Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag 1

Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 schreibe einen Rohfasergehalt im Rohfaserkonzentrat von über 60% vor. Tierfutter auf Basis von Holz mit einem Rohfasergehalt von über 60% sei jedoch schon lange bekannt. Hierzu sei auf D25a zu verweisen, das angibt, dass Sägemehl aus Pappelholz einen Fasergehalt von über 60% hat. Eine Kombination von D20 mit D25a lege daher den Gegenstand des Anspruchs 1 nahe.

XIII. Argumente der Beschwerdegegnerin

Mangelnde Offenbarung

Der Hinweis im Abschnitt [0026] der Patentschrift auf eine mühlenartige Einrichtung zur Herstellung der Fibrillen sei ausreichend. Die dem Schreiben vom 2. April 2015 beiliegende Fotografie zeige, dass durch rein mechanisches Vermahlen von Holzrohstoff mikroskopisch nachweisbare Fibrillen entstehen. Die Holzbearbeitung durch feinfaseriges Mahlen sei zudem lange bekannt. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass zur Fibrillierung von Lignocellulose zusätzlich Dampf und Druck nötig seien, sei eine unbewiesene Behauptung.

Zulassung von D20 zum Verfahren

Da D20 verspätet nach Ablauf der Einspruchsfrist von der Einsprechenden II eingereicht wurde, ist auch der Einwand der mangelnden Neuheit auf Grundlage von D20 verspätet. Zudem wird der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents durch D20 nicht neuheitsschädlich vorweggenommen, da in D20 keine auffibrillierte Lignocellulose beschrieben ist. D20 ist daher nicht relevant und hätte somit nicht zum Verfahren zugelassen werden dürfen.

Neuheit - Hauptantrag

Anspruch 1 fordere das Vorliegen eines Rohfaserkonzentrats, wobei der Begriff "Roh" im Sinne der Erfindung als "unbehandelt" zu verstehen sei. In D20 liege nach Anwendung der drastischen Bedingungen unter Dampf, Druck und hoher Temperatur auf das Lignocellulosematerial kein Rohmaterial mehr vor, da unter diesen Bedingungen eine Trennung von Cellulose und Lignin stattfinde. Zudem werde das Material chemisch verändert. Dies zeige sich eindeutig an den Werten in der Tabelle in Spalte 8 von D20 aus denen eine deutliche Abnahme des Fasergehalts und eine Zunahme des Kohlenhydratgehalts im behandelten Produkt hervorgeht. Ferner sei in D20 an keiner Stelle eine Offenbarung zu finden, aus der für den Fachmann das Vorhandensein von fibrillierter Lignocellulose hervorgeht.

Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag 1

Die Lehre des Patents habe eine ganz andere Zielsetzung als die in D20 offenbarte Lehre. Während das Patent darauf abziele, einen Futtermittelzusatz auf Basis von Lignocellulose zu entwickeln, der dem Tierfutter in kleinen Mengen von maximal 8% zugegeben wird und durch sein hohes Quellvermögen eine rasche Sättigung des Tieres bewirkt, strebe die Lehre in D20 die Erhöhung der verdaubaren Anteile in einem aus Lignocellulose­material hergestellten Tierfutter an. Dieses Ziel werde mittels einer Dampfbehandlung des Holzproduktes erreicht und führe ausweislich der Tabelle in Spalte 8 zu einer deutlichen Erniedrigung des Fasergehalts von 70,25 auf 50,83% und einer Erhöhung des verdaubaren Kohlenhydratgehalts von 26,5 auf 46,16%.

Der Fachmann, ausgehend von D20, erhalte somit keine Anregung, den Rohfasergehalt auf Werte über 60% gemäß Anspruch 1 zu erhöhen. Das Argument der Beschwerde­führerin im Hinblick auf das - verspätet eingereichte - Dokument D25a, dass ein Lignocellulosegehalt von über 60% in Holzmehl im Stand der Technik bekannt sei, sei in diesem Zusammenhang unerheblich, da darin die Lignocellulosefasern nicht als fibrilliert beschrieben sind. D25a sei somit nicht relevant und sollte nicht zum Verfahren zugelassen werden.

XIV. Schlussanträge

Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde abzuweisen, hilfsweise die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent auf Basis einer der Hilfsanträge 1 bis 4, eingereicht mit Schreiben vom 2. April 2015 aufrechtzuerhalten.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Mangelnde Offenbarung

Die Beschwerdeführerin hat unter Verweis auf den Abschnitt [0026] der Patentschrift behauptet, dass eine mechanische Behandlung des Lignocellulosematerials durch ein Mahlverfahren allein nicht zu einer Auffibrillierung der Fasern führe. Damit enthalte die Patentschrift für den Fachmann keine brauchbare Anleitung, wie er zu einem Rohfaserkonzentrat mit auffibrillierter Lignocellulose gelangen kann.

Dem hat die Beschwerdegegnerin widersprochen und ihrerseits unter Vorlage einer Mikroskopaufnahme dargelegt, dass auffibrillierte Lignocellulose rein mechanisch erhalten werden kann.

Die Kammer stellt fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Behauptung nicht durch geeignete Beweismittel untermauert hat. Sie geht daher zugunsten der Beschwerdegegnerin davon aus, dass ein reines Mahlverfahren prinzipiell zu fibrillierter Lignocellulose führen kann und es dem Fachmann zumutbar ist, durch entsprechende Tests die geeigneten Mahlbedingungen zu finden.

Dies wird auch durch das in Abschnitt [0009] Bezug genommene Dokument EP 0 819 787 A2 bestätigt, das mehrere Möglichkeiten angibt, Cellulosefasern zu fibrillieren, beispielsweise neben einem Mahlverfahren auch durch ein Dampfexplosionsverfahren oder Kombinationen mehrerer Verfahren (Ansprüche 1 und 2). Ob das für Cellulosefasern beschriebene Mahlverfahren auch für Fasern aus Lignocellulose geeignet ist, konnte er anhand routinemäßiger Versuche ermitteln. Selbst wenn ein rein mechanisches Verfahren nicht in allen Fällen zum Erfolg führen sollte, so hätte der Fachmann immer noch die Möglichkeit, das Dampfexplosions­verfahren anzuwenden oder durch Kombination von Mahl- und Dampfexplosionsverfahren zum Erfolg zu gelangen. Letzteres umso mehr, als durch die Lehre in D20 (Beispiel 1) bestätigt wird, dass durch Behandlung von Lignocellulose in gemahlener Form, Druck und Dampf und anschließender schneller Expansion eine Fibrillierung erzielt wird.

Die Erfindung ist daher im Rahmen von Artikel 83 EPÜ ausführbar.

3. Zulassung von D20

D20 wurde nach Ablauf der Einspruchsfrist von der Einsprechenden II (jetzt Beschwerdeführerin) eingereicht und darauf wurde ein Einwand der mangelnden Neuheit gestützt (Punkt 2 des Schreibens). Wie sich aus der Entscheidung der Einspruchsabteilung ergibt, hat sich die Einspruchsabteilung ausführlich mit der Relevanz dieses Dokuments hinsichtlich Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auseinandergesetzt (Entscheidungsgründe 4 und 5). Zwar ist die Einspruchsabteilung der Auffassung der Einsprechenden II, dass D20 neuheitsschädlich ist, nicht gefolgt, jedoch hat sie das Dokument als prima facie relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angesehen. Somit hat die Einspruchsabteilung ihr Ermessen, das Dokument D20 als relevant zum Verfahren zuzulassen, korrekt ausgeübt und die Kammer sieht keinen Anlass, diese Ermessensentscheidung nochmals zu überprüfen.

D20 ist somit im Verfahren und kann auch zur Beur­teilung der Neuheit verwendet werden, zumal mangelnde Neuheit als Einspruchsgrund unter Artikel 100a) EPÜ genannt war.

4. Hauptantrag (Ansprüche wie erteilt)

4.1 Neuheit

Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 wurde einerseits durch eine in der Beschwerdebegründung erstmals vorgebrachte offenkundige Vorbenutzung in Form des Produkts ARBOCEL® und andererseits im Hinblick auf die Offenbarung in D20 infrage gestellt.

4.1.1 Bezüglich der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung hatte die Kammer bereits in ihrem Bescheid vom 3. März 2015 festgestellt, dass zum einen dieses Vorbringen verspätet sei, und zum anderen die Beweiskette, dass das betreffende Produkt bereits vor dem Prioritätstag der Öffentlichkeit zugänglich war, unvollständig sei (Punkte 2.2.2 und 2.2.3 des Bescheids). Die Kammer hatte daher ihre Absicht erklärt, diesen Vortrag nicht weiter zu berücksichtigen. Die Beschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung zu ihrem Einwand der offenkundigen Vorbenutzung keine weiteren Angaben mehr gemacht.

Die Kammer hält daher an ihrer im Bescheid ausgedrückten Auffassung fest und lässt den Einwand der offenkundigen Vorbenutzung nicht zum Verfahren zu. Damit werden auch die in diesem Zusammenhang genannten Dokumente D23, D24 und D28 nicht zum Verfahren zugelassen.

4.1.2 Neuheit gegenüber D20

Im Anspruch 1 des Hauptantrags wird ein Futtermittel­zusatz beansprucht, der

a) einen Anteil an fibrillierten cellulosehaltigen Fasern enthält und dadurch gekennzeichnet ist, dass er

b) ein Rohfaserkonzentrat von auffibrillierter Lignocellulose enthält.

Wie die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde­begründung zutreffend ausgeführt hat, und wie auch die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung letztendlich nicht mehr bestritten hat, ist der Begriff "Rohfaser" ein aus der Futtermittelanalytik - beispielsweise der Weender Futtermittelanalyse - stammender rein rechnerischer Begriff. Demnach bezieht sich der Begriff "Rohfaser" lediglich auf den in Säuren und Laugen unlöslichen fett-, stickstoff- und aschefreien Rückstand der Trockenmasse. Das Wort "Roh" in diesem Begriff ist daher nicht im Sinne von "unbehandelt" zu verstehen.

Anspruch 1 enthält keine Angaben, welchen Mengenbereich die Angabe "Konzentrat" umfasst. Der Begriff "Rohfaserkonzentrat" ist daher kein die Neuheit gegenüber D20 begründendes Merkmal.

Ebenso wird im Anspruch 1 nicht angegeben, in welcher Menge die Lignocellulosefibrillen im Rohfaserkonzentrat enthalten sind. In der gesamten Offenbarung der Patentschrift wird zudem nicht definiert, was unter dem Begriff "auffibrillierte Lignocellulose" zu verstehen ist.

Es ist daher, wie die Beschwerdeführerin zutreffend ausgeführt hat, davon auszugehen, dass zwischen "Rohfaser" und "auffibrillierter Lignocellulose" ein direkter Zusammenhang in dem Sinne besteht, dass auch noch nach der Fibrillierung der eingesetzten Lignocellulose im Rohfasermaterial - nach Weender Analyse - zu einem gewissen Anteil Lignocellulose­fibrillen vorhanden sind und keine Trennung von Cellulose und Lignin stattgefunden hat.

Das Dokument D20 befasst sich mit der Herstellung eines als Tierfutter oder Tierfutterzusatz geeigneten Produkts aus einem Lignocellulosematerial (Spalte 2, Zeilen 26 bis 28 und Spalte 8, Zeilen 14 bis 16). Gemäß einer besonders bevorzugten Ausgestaltung der Erfindung wird ein als "rohes Lignocellulosematerial" bezeichnetes Holzmehl einem Verfahren unterworfen, das die Anwendung von Druck und Dampf umfasst (Spalte 6, Zeile 37 bis Spalte 7, Zeile 27). Dieses Verfahren wird im Beispiel 1 (Spalten 7 Zeile 30 bis Spalte 8, Zeile 46) näher beschrieben. Die Passagen von Spalte 6 bis Spalte 8 sind daher im unmittelbaren Zusammenhang miteinander zu sehen. In Spalte 8, Zeilen 7 bis 9 wird dann ausgesagt, dass das Material nach dem Austrag aus dem Reaktor aufgrund der schnellen Expansion des Dampfes in fibrillierter Form vorliegt. Dieser Zusammenhang zwischen Lignocellulosematerial und Fibrillen als Ergebnis des Verfahrens wird zudem durch folgende Textpassage in Spalte 8, Zeilen 17 bis 20 bestätigt:

"Analysis of the composition of the lignocellulose material, both before and after its steam treatment by the process described before ..."

Die Kammer vertritt daher, entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerin, die Auffassung, dass durch die Offenbarung in D20 ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen rohem Lignocellulosematerial und Fibrillen hergestellt ist.

Zwar kann der Beschwerdegegnerin dahingehend zugestimmt werden, dass ein mechanisches Verfahren zur Fibrillierung, beispielsweise die in Abschnitt [0026] der Patentschrift genannte "mühlenartige Einrichtung" keine chemische Veränderung der Lignocellulose bewirkt, während eine chemische Veränderung durch die Dampfbehandlung gemäß D20 nicht vollständig auszuschließen ist, jedoch ist aus der Offenbarung in D20 nicht erkennbar, dass die Verfahrensbedingungen (beispielsweise durch drastische Temperaturbedingungen) derart gewählt worden sind, dass eine vollständige Trennung von Lignin und Cellulose stattfindet. Es ist daher davon auszugehen, dass das in Spalte 8, Zeilen 7 bis 9 als "material ... in a fibrillated form" bezeichnete Verfahrensprodukt - zumindest in einem gewissen Anteil - fibrillierte Lignocellulose ist.

Auch erwähnt die Patentschrift an keiner Stelle, dass die Herstellung fibrillierter Lignocellulose im Sinne der Erfindung ausschließlich an ein Mahlverfaren gebunden ist. Vielmehr würde der Fachmann durch die Bezugnahme in Abschnitt [0009] zur Fibrillierung auch andere, gegebenenfalls in Kombination mit einer Vermahlung anzuwendende, Verfahrensschritte - und somit prinzipiell auch das in D20 eingesetzte Dampfexplosionsverfahren - in Betracht ziehen.

Da - wie oben dargelegt - der Begriff "Rohfaser" eine rechnerische Größe in der Futtermittelanalytik darstellt und "Konzentrat" durch keine Mengenangaben präzisiert ist, muss auch das in D20 aus rohem Lignocellulosematerial hergestellte Produkt mit einem Fasergehalt von 50,83% gemäß der Tabelle in Spalte 8 als Rohfaserkonzentrat im Sinne der Erfindung angesehen werden, das auffibrillierte Lignocellulose enthält.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist daher gegenüber D20 nicht neu.

5. Hilfsantrag 1

Die Ansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag 1 lauten wie folgt:

"1. Futtermittelzusatz für in der Gravidität, Laktation, Mast oder Aufzucht befindliche Nutztiere mit einem Anteil an fibrillierten cellulosehaltigen Fasern, dadurch gekennzeichnet, dass er ein Rohfaserkonzentrat von auffibrillierter Lignocellulose enthält, wobei das Rohfaserkonzentrat einen Rohfasergehalt (nach Weender Analyse) von über 60% besitzt."

"2. Futtermittelzusatz nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das Rohfaserkonzentrat ein Wasserrückhaltevermögen von über 700% oder von etwa 500-800% und eine so hohe Quellgeschwindigkeit besitzt, das die Quellung zu einem wesentlichen Teil vollzogen ist, solange sich das ohne Futtermittelzusatz enthaltende Futtermittel noch im Magen befindet."

5.1 Änderungen - Artikel 123(2) EPÜ

Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass die isolierte Aufnahme des Rohfasergehalts von über 60% vom Anspruch 2 in den Anspruch 1 den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ verstoße, da im erteilten Anspruch 2 dieses Merkmal nur in Kombination mit dem Wasserrückhaltevermögen und der Quellgeschwindigkeit offenbart sei. Dieses Argument ist jedoch nicht stichhaltig, da - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - die Stütze für die Änderung nach Artikel 123(2) EPÜ nicht der erteilte Anspruch 2, sondern der ursprüngliche Anspruch 4 ist, der den Rohfasergehalt von über 60% als isoliertes Merkmal offenbart. Die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ sind daher für diese Änderung erfüllt.

5.2 Neuheit

Die Neuheit gegenüber D20 wird durch die Aufnahme des Rohfasergehalts von über 60% in den Anspruch 1 hergestellt. Gemäß der Tabelle in Spalte 8 von D20 beträgt der (Roh)Fasergehalt 50,83%. Auch von der Beschwerdeführerin wurde kein Einwand basierend auf D20 erhoben.

Da auch die übrigen im Verfahren befindlichen Dokumente kein Rohfaserkonzentrat mit einem Fasergehalt von über 60% und einem Gehalt an auffibrillierter Lignocellulose beschreiben, ist der Gegenstand des Hilfsantrags 1 neu.

5.3 Erfinderische Tätigkeit

5.3.1 Das Patent befasst sich mit einem Futtermittelzusatz auf Basis von Lignocellulose (Holz) für in der Gravität, Laktation, Mast oder Aufzucht befindliche Nutztiere. Insbesondere soll bei der Sattfütterung der Tiere die Gewichtszunahme reduziert werden (Abschnitte [0001], [0005] und [0019]).

5.3.2 Der nächstliegende Stand der Technik wird repräsentiert durch D20, das sich ebenfalls mit der Herstellung von Futtermitteln/Futtermittelzusätzen aus Lignocellulose­materialien befasst. Bei der Herstellung wird rohes Lignocellulosematerial einem Verfahren unterworfen, bei dem es in eine fibrillierte Form umgewandelt wird (Spalte 6, Zeile 37 bis Spalte 8, Zeile 16).

5.3.3 Die Beschwerdegegnerin sah das im Lichte von D20 zu lösende Problem in der Herstellung eines Futtermittelzusatzes, das aufgrund eines hohen Wasserrückhaltevermögens und einer hohen Quellgeschwindigkeit ein schnelles Sättigungsgefühl erzeugt und aufgrund des geringen Energieeintrags eine Überfütterung des Nutztieres verhindert (Abschnitte [0007], [0009] und [0012]).

5.3.4 Dieses Problem wird anspruchsgemäß dadurch gelöst, dass, im Unterschied zu D20, ein Rohfaserkonzentrat mit einem erhöhten Rohfasergehalt von über 60% bereitgestellt wird.

5.3.5 In Abschnitt [0030] wird darauf hingewiesen, dass durch den sehr hohen Rohfasergehalt der erfindungsgemäß einzusetzenden Lignocellulose praktisch keine Energie in das Futtermittel eingebracht wird und damit die Energiekonzentration im Futtermittel deutlich verringert wird. In Abschnitt [0038] wird bestätigt, dass bei Fütterungsversuchen mit einem erfindungs­gemäßen Produkt bei einem Zusatz von nur 1% zum Futter die angestrebte Reduktion der Energieaufnahme erreicht werden konnte.

Nach Ansicht der Kammer wird daher das Problem durch die beanspruchte Erfindung glaubhaft gelöst.

5.3.6 D20 befasst sich ebenfalls mit der Herstellung von Futtermittelzusätzen auf Basis von Lignocellulose­materialien (Holz), verfolgt jedoch ein anderes Ziel. So soll der Anteil an verdaubaren Inhaltsstoffen und damit der Energieeintrag erhöht werden (Spalte 2, Zeilen 26 bis 31). Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass durch Behandlung des Materials mittels Dampf und Druck und anschließende Expansion Fibrillen gebildet werden und außerdem - wie aus der Tabelle in Spalte 8 ersichtlich ist - der ursprüngliche Fasergehalt von etwa 70% zugunsten der Erhöhung des Kohlenhydratanteils deutlich auf etwa 51% erniedrigt wird.

Der Fachmann der sich die Aufgabe gestellt hat, durch den Futtermittelzusatz den Energieeintrag zu ver­ringern, hatte somit durch die Lehre in D20 überhaupt keinen Anreiz, einen möglichst hohen Fasergehalt von über 60%, in Kombination mit der Bildung von Fibrillen, aufrechtzuerhalten.

5.3.7 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit. Das Gleiche gilt auch für das Futtermittel gemäß Anspruch 4, das den Futtermittelzusatz gemäß Anspruch 1 enthält.

5.4 Der Hilfsantrag 1 ist daher gewährbar. Daher brauchte auf die Hilfsanträge 2 bis 4 nicht näher eingegangen werden.

6. Das erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichte Dokument D25a befasst sich nicht mit der Fibrillierung von Lignocellulose und ist daher nicht relevant. Es wurde somit nicht zum Verfahren zugelassen.

Über die Zulassung der Dokumente D21, D22, D25 bis D27 und D29 brauchte nicht abschließend entschieden werden, da sie von den Parteien in der mündlichen Verhandlung nicht mehr in Betracht gezogen wurden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

- Beschreibung, Seiten 2 bis 4 der Patentschrift;

- Ansprüche 1 bis 6, eingereicht als Hilfsantrag 1 mit Schreiben vom 2. April 2015.

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