T 0426/12 (Industrielle Steuerung/SIEMENS) of 11.10.2016

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2016:T042612.20161011
Datum der Entscheidung: 11 October 2016
Aktenzeichen: T 0426/12
Anmeldenummer: 01117884.5
IPC-Klasse: B62K 15/00
G05B 19/418
G05B 19/042
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Industrielle Steuerung auf der Basis verteilbarer Technologischer Objekte
Name des Anmelders: Siemens Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: FESTO AG & Co. KG
Panasonic Electric Works Europe AG
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(c)
Schlagwörter: Einspruchsgründe - unzulässige Erweiterung (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Zwei Einsprüche wurden gegen das europäische Patent Nr. 1182528 in seiner Gesamtheit gestützt auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 (1), (2) und 56 EPÜ und nach Artikel 100 c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 123 (2) EPÜ eingelegt. Die Einspruchsabteilung entschied, dass das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen den Erfordernissen des Europäischen Patenteinkommens genügen, und zwar in der Fassung laut zweitem Hilfsantrag. Unter Punkt IV. "Zusätzliche Bemerkungen" der angefochtenen Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass in Bezug auf Anspruch 1 des erteilten Patents keine unzulässige Erweiterung vorlag (Artikel 123 (2) EPÜ).

II. Gegen diese Entscheidung legten die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin 1), die Einsprechende 1 (Beschwerdeführerin 2) und die Einsprechende 2 (Beschwerdeführerin 3) Beschwerden ein und begründeten diese.

III. Die Beschwerdeführerin 1 beantragte zunächst, die Entscheidung aufzuheben und das Patent im Umfang des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags beziehungsweise hilfsweise im Umfang eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 aufrecht zu erhalten. Ferner wurde hilfsweise eine mündliche Verhandlung beantragt, wenn dem Hauptantrag nicht statt gegeben werden kann. In einer weiteren Eingabe vom 6. September 2012 ging die Beschwerdeführerin 1 auf die Beschwerden der Beschwerdeführerinnen 2 und 3 ein.

IV. Die Beschwerdeführerin 2 beantragte, die Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Sie führte zusätzliche Druckschriften (FD9 und FD10) ein und ging auch auf die von der Beschwerdeführerin 1 eingereichten Anträge ein. Hilfsweise wurde eine mündliche Verhandlung beantragt.

V. Die Beschwerdeführerin 3 beantragte, die Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Hilfsweise wurde eine mündliche Verhandlung beantragt.

VI. Die Kammer lud zur mündlichen Verhandlung. In einer der Ladung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK nahm sie zu den in der Verhandlung anzusprechenden Punkten einschließlich einer möglichen unzulässigen Erweiterung Stellung.

VII. Die mündliche Verhandlung fand am 11. Oktober 2016 vor der Kammer statt. Im Laufe der Verhandlung reichte die Beschwerdeführerin 1 einen geänderten Hauptantrag ein, den sie im späteren Verlauf zurücknahm. Sie beantragte somit schließlich, die Entscheidung aufzuheben und das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 aufrechtzuerhalten. Die Beschwerdeführerinnen 2 und 3 beantragten, die Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Am Ende der Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.

VIII. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 lautet:

"Verfahren zur Programmierung bzw. Projektierung einer industriellen Steuerung für eine Produktionsmaschine, wobei die Steuerung mehrere Geräte (Gl, G2) aufweist, mit folgenden Schritten:

a) Verwendung eines Basissystem (UMC-K) pro Gerät (Gl, G2) mit einer gerätespezifischen Grundfunktionalität,

b) Instanziierung Technologischer Objekte (TO1 - TOn),

c) Verschaltung der Technologischen Objekte (TO1 - TOn) zu Technologischen Objekten komplexer Funktionalität,

d) Verteilung und/oder Platzierung der Technologischen Objekte (TO1 - TOn) auf die Geräte (Gl, G2), so dass die auf die Geräte (Gl, G2) verteilten bzw. auf den Geräten (Gl, G2) platzierten Technologischen Objekte (TO1 - TOn) die Geräte (Gl, G2) um technologische Funktionalitäten ergänzen,

e) automatische Generierung der Kommunikationskanäle zwischen den Technologischen Objekten (TO1 - TOn) einschließlich der geräteübergreifenden Kommunikationskanäle,

- wobei die Technologischen Objekte (TO1 - TOn) zumindest die Technologischen Objekte Folgeachse (FA) und Gleichlauf (GL) umfassen,

- wobei die Folgeachse (FA) mit dem Gleichlauf (GL) und mindestens einem Leitwertgeber (VA, LA, EG, T, TV) gemäß mindestens einem Gleichlaufgesetz (GF, KS) zu einem Gleichlaufverbund verschaltbar ist,

- wobei der mindestens eine Leitwertgeber (VA, LA, EG, T, TV) von einem Technologischen Objekt Virtuelle Achse (VA) oder von einem Technologischen Objekt Externer Geber (EG) oder von einem Technologischen Objekt Zeit (T) oder von einem Technologischen Objekt Programmwert (TV) gebildet wird,

- wobei als Gleichlaufgesetz ein Getriebefaktor (GF) oder ein Technologisches Objekt Kurvenscheibe (KS) wählbar ist."

Anspruch 1 der Hilfsanträge 2 bis 4 unterscheidet sich vom Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 durch eine Einschränkung des vorletzten, durch einen Spiegelstrich eingeleiteten Merkmals.

Eine wörtliche Wiedergabe dieser Ansprüche ist für die vorliegende Entscheidung nicht nötig.

Entscheidungsgründe

1. Unzulässige Erweiterung (Artikel 100 c) und 123 (2) EPÜ)

1.1 Die Beschwerdeführerin 3 hat schon im Rahmen ihres Einspruchs das Merkmal a) ("Verwendung eines Basissystems (UMC-K) pro Gerät (G1, G2) mit einer gerätespezifischen Grundfunktionalität") des Anspruchs 1 des erteilten Patents, das in dieser Form im Anspruch 1 aller vorliegenden Anträge der Beschwerdeführerin 1 und auch aller im Einspruchsverfahren entschiedenen Anträge der Patentinhaberin vorhanden ist, als über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehend bemängelt und den entsprechenden Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) geltend gemacht.

1.2 Dieser Einwand ist - entgegen der von der Einspruchsabteilung unter Punkt 18 der angefochtenen Entscheidung geäußerten Auffassung der Einspruchsabteilung - berechtigt: Das Merkmal a) und insbesondere der Begriff "gerätespezifisch" ergeben sich nicht wörtlich aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung. Es ist somit zu prüfen, ob sich dieses Merkmal in anderer Form direkt und eindeutig aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung ergibt.

1.3 Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 aller Hilfsanträge bezieht sich auf ein Verfahren zur Programmierung bzw. Projektierung einer industriellen Steuerung für eine Produktionsmaschine, wobei die Steuerung mehrere Geräte aufweist. Aus Absatz [0009] der Patentanmeldung (Verweise beziehen sich auf die veröffentlichte Fassung EP 1 182 528 A2, im folgenden als A-Schrift bezeichnet) folgt, dass die Steuerung ein Basissystem für die Steuerungsgrundfunktionalität aufweist, wobei instanziierbare Technologieobjekttypen die Grundfunktionalität der Steuerung um technologische Funktionalitäten ergänzen. Es erfolgt eine Trennung zwischen technischer Funktionalität und Gerätefunktionalität, wobei in den Technologischen Objekten von den Geräten abstrahiert wird (Spalte 3, Zeilen 11-15 der A-Schrift).

Aus diesem Absatz lässt sich schließen, dass unter der "gerätespezifischen Grundfunktionalität" die Gerätefunktionalität zu verstehen ist, die, gemäß den obigen Zitaten, nicht von den Technologischen Objekten gewährleistet wird, da in diesen von den Geräten abstrahiert wird. Diese Schlussfolgerung wurde nicht bestritten.

1.4 Die Geräte selber stellen die Ablaufumgebung, also das Runtime-System, für die Technologischen Objekte dar (Spalte 3, Zeilen 19-21 der A-Schrift). Runtime-Systeme sind in Zusammenhang mit dem Ausführungsbeispiel der Figur 2 näher beschrieben. Sie enthalten einen Kernel, der das Basissystem der Steuerung darstellt, und Technologische Objekte (Spalte 9, Zeilen 10-18).

Da gemäß der Schlussfolgerung aus Absatz 1.3 die gerätespezifische Grundfunktionalität nicht von den Technologischen Objekten gewährleistet wird, ergibt sich, dass ein anderes Element der Runtime-Systeme die gerätespezifische Grundfunktionalität gewährleistet.

In der in Figur 11 gezeigten Kommunikationsstruktur zwischen zwei Geräten, als sog. System-Technologische Objekte dargestellt (Spalte 17, Zeilen 29-31), enthalten diese Geräte jeweils neben einer Konfiguration von Technologischen Objekten und einem Runtime-System technologische Firmware (Spalte 17, Zeilen 39-44), wobei die Runtime-Systeme einem Betriebssystem entsprechen und z.B. für die Speicherverwaltung und die Rechenzeitverwaltung verantwortlich sind (Spalte 18, Zeilen 4-7).

Auch diese Punkte waren zwischen den Parteien unumstritten.

1.5 Jedoch folgt aus oben Gesagtem nicht direkt und eindeutig, dass das Basissystem gerätespezifisch ist.

Diese Schlussfolgerung würde voraussetzen, dass das Runtime-System ausschließlich ein Basissystem und Technologische Objekte enthält, so dass, da das Runtime-System gerätespezifisch ist, notwendigerweise das darin enthaltene Basissystem gerätespezifisch wäre und somit, wie von der Beschwerdeführerin 1 vorgebracht, die Schnittstelle zwischen den Technologischen Objekten und einem Gerät bilden würde. Diese Annahme ist jedoch an keiner Stelle der ursprünglichen Anmeldung explizit offenbart, noch ist sie für den Fachmann zwangsläufig, denn es ist technisch durchaus vorstellbar, dass ein Runtime-System neben dem Basissystem und den Technologischen Objekten weitere Elemente enthält und dass genau diese Elemente die Gerätespezifizität des Runtime-System sicherstellen und nicht das Basissystem. Diese Möglichkeit folgt aus der Tatsache, dass der Begriff "Basissystem" im Rahmen der ursprünglichen Anmeldung nicht genau bestimmt ist. Es ist dazu lediglich bemerkt, dass "die Steuerung ein allgemein einsetzbares, vorzugsweise technologieneutrales, Basissystem für die Steuerungsgrundfunktionalität aufweist" (Absatz [0009]). In Absatz [0013] heißt es: "Steuerungen, die mit einer notwendigen Grundfunktionalität (Basissystem) ausgeliefert werden, lassen sich in großer Stückzahl sehr einfach herstellen (economies of scale)". In Absatz [0034] wird in Bezug auf das in Figur 2 dargestellte Ausführungsbeispiel schließlich ausgeführt: "Der UMC-Kernel UMC-K stellt das Basissystem der Steuerung dar, dieses Basissystem enthält die Grundfunktionalität der Steuerung." Daraus sind keine direkten und eindeutigen Rückschlüsse möglich, ob das Basissystem gerätespezifisch ist oder nicht und ob das Runtime-System neben den Technologischen Objekten und dem Basissystem noch weitere Elemente enthält oder nicht. Wenn überhaupt, deuten die allgemeine Einsetzbarkeit und der Vorteil der großen Stückzahl darauf hin, dass das (in Absatz [0034] mit dem UMC-Kernel gleichgesetzte) Basissystem geräteunabhängig ist und dass weitere, gerätespezifische Elemente innerhalb des Runtime-Systems vorhanden sind. Auf alle Fälle ist diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen.

Auch aus der Entsprechung des Runtime-Systems mit einem Betriebssystem (Spalte 18, Zeilen 4-7) lassen sich keine direkten und eindeutigen Rückschlüsse auf die Gerätespezifizität des Basissystems ziehen. Zunächst einmal bleibt offen, was als das Basissystem eines Betriebssystems aufgefasst werden kann. Fasst man die auf dem Markt erhältliche Form eines Betriebssystems als dessen Basissystem auf, so ist diese Form in aller Regel geräteunabhängig, da sie auf verschiedene Geräte und Gerätetypen portiert werden kann, wobei die Gerätespezifizität während der Installation durch Einbinden von Treibern und Anpassung des BIOS erfolgt. Auf alle Fälle ist diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen.

1.6 Da, wie vorstehend gezeigt, zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein gerätespezifisches Runtime-System neben den Technologischen Objekten und dem Basissystem weitere Elemente enthält, die die Gerätespezifizität des Runtime-Systems gewährleisten, geht aus der ursprünglichen Anmeldung nicht direkt und eindeutig hervor, dass das Basissystem eines Geräts gerätespezifisch ist.

1.7 Da das Merkmal a) nicht direkt und eindeutig in der ursprünglichen Anmeldung offenbart war, wird die Bestimmung des Artikels 123 (2) EPÜ von Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 4 verletzt. Folglich steht der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 4 entgegen.

2. Das Patent ist demzufolge zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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