T 1753/11 (Streptavidin Mutanten/ROCHE DIAGNOSTICS GmbH) of 20.1.2015

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T175311.20150120
Datum der Entscheidung: 20 Januar 2015
Aktenzeichen: T 1753/11
Anmeldenummer: 97105408.5
IPC-Klasse: C12N 15/12
C12N 15/31
C07K 14/36
C07K 14/465
G01N 33/53
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Rekombinante inaktive Core-Streptavidin Mutanten
Name des Anmelders: Roche Diagnostics GmbH
Name des Einsprechenden: Tahmassebi, Sam K.
Kammer: 3.3.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 123(2)
Schlagwörter: Hauptantrag - Erfordernisse des EPÜ erfüllt
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Gegen das Europäische Patent mit der Nummer 799 890 wurde, gestützt auf Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ und auf Artikel 100(b) EPÜ, Einspruch eingelegt. Der Einsprechende beantragte, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.

II. Die Einspruchsabteilung entschied, dass die erteilten Ansprüche 1 bis 14 den Erfordernissen der Ansprüche 54, 56 und 83 EPÜ genügen.

III. Der Einsprechende (Beschwerdeführer) erhob Beschwerde gegen diese Entscheidung.

IV. Mit der Antwort auf die Beschwerde reichte die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) die Hilfsanträge 1 und 2 ein.

V. In der Anlage zur Ladung für die mündliche Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung zu einigen der vorgebrachten Argumente mit, insbesondere mit Bezug auf die Artikel 84, 83 und 56 EPÜ.

VI. In Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer reichte die Beschwerdegegnerin neue Hilfsanträge 1 bis 5, sowie Dokument D15 ein.

VII. Mit seiner Erwiderung auf die Eingabe der Beschwerdegegnerin reichte der Beschwerdeführer die Dokumente D16 und D17 ein.

VIII. Die mündliche Verhandlung fand am 20. Januar 2015 statt. Die Beschwerdegegnerin nahm ihren Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 und 2 zurück und reichte einen geänderten Hilfsantrag 3 als neuen Hauptantrag ein.

IX. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet:

1. Biotin-bindefähiges Polypeptid, ausgewählt aus Muteinen von Streptavidin, dadurch gekennzeichnet, dass

(a) bei dem Mutein mindestens zwei der Aminosäuren Leu25, Ser27, Ser45 und Leu110 vom nativen Polypeptid der SEQ ID NO: 2 durch Aminosäuren ausgewählt aus Arg, Trp, Tyr, Phe und His ausgetauscht sind und

(b) das Mutein eine Bindungsaffinität zu Biotin von weniger als 10**(10) l/mol aufweist.

Anspruch 6 des Hauptantrags lautet:

6. Zelle, dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einem Vektor nach Anspruch 5 transformiert ist, und die Nukleinsäure nach Anspruch 4 exprimiert.

Die Ansprüche 2 bis 5 und 7 bis 10 definieren spezifische Ausführungsformen des Polypeptids nach Anspruch 1, eine Nukleinsäure, welche für das beanspruchte Protein kodiert, einen die Nukleinsäure enthaltenden Vektor, sowie Produkte und Verfahren, welche das beanspruchte Protein enthalten bzw. verwenden.

X. Die folgenden Dokumente werden in dieser Entscheidung zitiert:

D3: Weber et al., Science, vol. 243, pages 85-88 (1989)

D4: Weber et al., J. Am. Chem. Soc., vol. 114, pages 3197-3200 (1992)

D5: Miyamoto and Kollmann, Proteins, vol. 16, pages 226-245 (1993)

D6: Bayer et al., Biochim. Biophys. Acta, vol. 1263, pages 60-66 (1995)

D7: Chilkoti et al., BIO/TECHNOLOGY, vol. 13, pages 1198-1204 (1995)

D8: Sano and Cantor, P.N.A.S. USA, vol. 92, pages 3180-3114 (1995)

D14:Chilkoti et al., PNAS U.S.A., vol. 92, pages 1754-1758 (1995)

XI. Die Argumente des Beschwerdeführers, soweit für diese Entscheidung von Bedeutung, lauten zusammengefasst wie folgt:

Zulässigkeit des Hauptantrags

Der Hauptantrag (ursprünglich Hilfsantrag 3) sollte unter Artikel 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) nicht zugelassen werden. Der Beschwerdeführer konnte in der kurzen, verbleibenden Zeit vor der mündlichen Verhandlung nicht mehr angemessen darauf reagieren. Zudem warf der Antrag neue Fragen in Bezug auf die Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 123 EPÜ auf.

Artikel 123(2) EPÜ

Die in Anspruch 1 zur Definition des Polypeptids verwendete spezifische Merkmalskombination ließ sich der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht entnehmen.

Artikel 83 EPÜ

Der Anspruch umfasste mehrere hundert Mutanten von Streptavidin wogegen die Tabelle in Beispiel 3 lediglich Daten für 9 spezifische Mutanten offenbarte. Da der Effekt unterschiedlicher Substitutionen nicht vorhersagbar war, konnte der Anspruch nur mit unzumutbarem Aufwand über seine ganze Breite nachgearbeitet werden.

Außerdem war aus dem vorliegenden Stand der Technik ersichtlich, dass die Bestimmung der Bindungsaffinität von der gewählten Messmethode und den gewählten experimentellen Bedingungen abhing. Auch aus diesem Grund war eine Nacharbeitung nur mit unzumutbarem Aufwand möglich.

Artikel 56 EPÜ

Ausgehend von Dokument D7, welches eine Streptavidin Mutante mit verringerter Bindungsaffinität und deren Verwendung als Ligand bei Trennverfahren beschrieb, bestand das zu lösende technische Problem in der Bereitstellung weiterer Mutanten mit diesen Eigenschaften. Aus Dokument D5 sowie aus den Dokumenten D6 bis D8 waren die an der Bindung zu Biotin beteiligten Aminosäuren von Streptavidin bekannt. Da der Fachmann generelle Vorstellungen hatte, welche Aminosäuren als Substituenten geeignet waren, wäre er ohne erfinderische Tätigkeit auf mindestens einige der von Anspruch 1 umfassten Lösungen gekommen.

XII. Die Argumente des Beschwerdeführers, soweit für diese Entscheidung von Bedeutung, lauten zusammengefasst wie folgt:

Zulässigkeit des Hauptantrags

Der Hauptantrag wurde (als Hilfsantrag 3) auf Grund der vorläufigen Stellungnahme der Kammer eingereicht. Da die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen hatte, hatte die Beschwerdegegnerin vor der Mitteilung der Kammer keine Veranlassung, weitere Hilfsanträge einzureichen. Eine unbeabsichtigte Änderung des Anspruchs 6 erfolgte bereits im Einspruchsverfahren und wurde rückgängig gemacht.

Artikel 123(2) EPÜ

Der Gegenstand des Anspruchs 1 war auf Seite 3 der publizierten internationalen Patentanmeldung offenbart.

Artikel 83 EPÜ

Die in Tabelle 1 von Beispiel 3 getesteten Streptavidinmutanten umfassten alle in Anspruch 1 genannten Positionen. Sämtliche getesteten Mutanten hatten die geforderte funktionelle Eigenschaft. Entsprechend der Lehre des Patents wurden voluminösere Aminosäuren an den genannten Positionen eingesetzt. Der Fachmann konnte deshalb erwarten, dass der gleiche Effekt auch bei Substitution durch die anderen im Anspruch genannten, ebenfalls voluminöseren Aminosäuren auftreten wird. Gelegentliche Fehlschläge waren akzeptabel und stellten die Lehre des Patents nicht in Frage.

Auch wenn verschiedene Messmethoden unterschiedliche Werte für die Affinitätskonstante lieferten, so war der Fachmann doch in der Lage, unter Verwendung der in Beispiel 3 getesteten Muteine als Referenz, die beanspruchten Muteine zuverlässig zu identifizieren.

Artikel 56 EPÜ

Ausgehend von Dokument 8, welches eine Streptavidinmutante mit verringerter Affinität und deren Verwendung für Trennverfahren beschreibt, bestand die zu lösende technische Aufgabe in der Bereitstellung weiterer Muteine mit deutlich verringerter Bindungsaffinität. Gemäß den Dokumenten D5 und D7 leisteten die Trp Reste den Hauptbeitrag zur starken Bindung von Biotin und Streptavidin während die hydrophilen Wechselwirkungen eine untergeordnete Rolle spielten. Obwohl die Interaktionen der hydrophilen Reste bekannt waren, war deshalb nicht zu erwarten, dass die Substitution von mindestens zwei solchen Resten eine ebenso starke Verringerung der Bindungsaffinität bewirkt.

XIII. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

XIV. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis des Hauptantrages, eingereicht in der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

1. Der Hauptantrag wurde am 18. Dezember 2014, einen Monat vor der mündlichen Verhandlung, zunächst als Hilfsantrag 3 eingereicht und, mit einer geringfügigen Änderung in Anspruch 6 (siehe unten) in der mündlichen Verhandlung zum Hauptantrag gemacht. Er basiert auf dem 1. Hilfsantrag, welcher am 1. März 2011 im Einspruchsverfahren und in gleicher Form mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurde, und unterscheidet sich von diesem lediglich durch die Streichung des vormaligen Anspruchs 1. Die Änderung in Anspruch 6, durch die sich der Hauptantrag von dem am 18. Dezember 2014 eingereichten Hilfsantrag 3 unterscheidet, besteht darin, dass der ursprünglich im erteilten Anspruch 7 enthaltene Wortlaut wieder eingeführt wurde.

Da diese Änderungen zu keinem neuen Sachverhalt und zu keiner Verzögerung des Verfahrens führen, entscheidet die Kammer, in Ausübung des ihr gemäß Artikel 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern in Verbindung mit Artikel 114(2) EPÜ zustehenden Ermessens, den Hauptantrag zuzulassen.

Artikel 123(2) EPÜ

2. Der Einsprechende argumentierte, dass die Patentanmeldung die zur Definition des Biotin-bindefähigen Polypeptids verwendete Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 nicht direkt und eindeutig offenbarte.

3. Gemäß Seite 3, Zeilen 5 bis 8, der veröffentlichten Anmeldeschrift, ist der Gegenstand der Erfindung ein "Polypeptid, ausgewählt aus Muteinen von Avidin und Streptavidin, worin sich das Mutein (a) um mindestens eine Aminosäure vom nativen Polypeptid unterscheidet, und (b) eine Bindungsaffinität zu Biotin von weniger als 10**(10) l/mol aufweist".

Ferner können "[z]ur Erzielung der gewünschten Bindungsaffinität [...] auch Muteine von Streptavidin oder Avidin gebildet werden, in denen mindestens zwei Aminosäuren ausgetauscht sind. Bevorzugt werden bei Streptavidin mindestens zwei der Aminosäuren Leu25, Ser27, Ser45 und Leu11O, z.B. die Aminosäurepaare Leu25 und Ser45, Ser27 und Ser4 5 sowie Ser 45 und Leu 110 durch geeignete Aminosäuren, insbesondere voluminösere Aminosäuren wie Arg, Trp, Tyr, Phe oder His ausgetauscht." (Seite 3, Zeile 57 bis Seite 4, Zeile 2)

4. Die Kammer ist deshalb überzeugt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht über den Inhalt der ursprünglichen Patentanmeldung hinausgeht.

Artikel 123(3) EPÜ und Artikel 84 EPÜ

5. Der Beschwerdeführer erhob keine Einwände unter diesen Artikeln und die Kammer hat keine Veranlassung, ihrerseits solche zu erheben.

Artikel 83 EPÜ

6. Der Beschwerdeführer beanstandete zum einen, dass der Anspruch eine große Zahl von Mutanten umfasste, ohne dass das Patent den Fachmann ausreichend informierte, welche der mehreren hundert möglichen Mutanten die gewünschten funktionellen Eigenschaften besitze. Sämtliche Mutanten herzustellen und zu testen bedingte aber einen unzumutbaren Aufwand. Zweitens war nicht ausreichend offenbart, wie die Bindungsaffinität von Streptavidin zu Biotin zu messen sei.

7. Eine Erfindung ist dann ausreichend offenbart, wenn der Fachmann sie, unter Hinzuziehung des Fachwissens, im wesentlichen über die ganze Anspruchsbreite ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeiten kann. Vereinzelte Fehlschläge sind dabei in Kauf zu nehmen (vgl. dazu Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage 2013, Seiten 350 und 359).

8. Nach der Lehre des Patents werden die Aminosäuren an den Positionen 25, 27, 45 und 110 bevorzugt durch die im Anspruch genannten voluminöseren Aminosäuren Arg, Trp, Tyr, Phe und His ersetzt (vgl. Seite 4, Zeilen 1und 2 der Anmeldschrift). Aus den Dokumenten D3 bis D6 ist bekannt, dass die Seitenketten der Aminosäuren 25, 27, 45 und 110 an der Ausbildung von H-Brücken mit Biotin beteiligt sind.

9. Beispiel 3 des Patents beschreibt die funktionellen Eigenschaften von 9 Substitutionsmutanten von Streptavidin, nämlich 4 Doppelmutanten und 5 Dreifachmutanten. Die Ausführungsbeispiele umfassen Mutationen an sämtlichen in Anspruch 1 genannten Positionen. Die anstelle der ursprünglichen Aminosäuren eingesetzten Aminosäuren sind Arg, Trp oder Tyr, gemäß Lehre des Patents voluminösere Aminosäuren. Die angegebenen Werte für die Affinitätskonstante sämtlicher Mutanten liegen deutlich unterhalb des Grenzwerts von 10**(10) l/mol.

10. Es ist daher in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass die Substitution an den angegebenen Positionen durch voluminösere Aminosäuren zu einer signifikanten Reduktion der Affinitätskonstante führt. Sollten daran seitens des Beschwerdeführers Zweifel bestehen, so liegt es an ihm, diese Zweifel durch überprüfbare Tatsachen und Beweismittel zu begründen.

11. Es wurde nicht bestritten, dass weitere Doppel oder Mehrfachmutanten technisch ohne großen Aufwand herstellbar seien. Jedoch wurde angeführt, dass für jede weitere Mutante einzeln getestet werden müsse, ob die Affinitätskonstante genügend verringert sei.

12. Angesichts der im Patent enthaltenen Daten (siehe Punkt (9) oben) sieht die Kammer diesbezüglich nicht das Vorliegen eines unzumutbaren Aufwands, umso mehr als seitens des Beschwerdeführers kein Beweismittel vorgelegt wurde, wonach durch Substitution mit den im Anspruch genannten voluminöseren Aminosäuren an den Positionen 25, 27, 45 und 100 Mutanten erhalten werden, welche eine höhere Affinitätskonstante als 10**(10) l/mol aufweisen. Der vorgebrachte Einwand bleibt hypothetisch und wird daher zurückgewiesen.

13. Bezüglich des zweiten Arguments, dass der Grenzwert nicht zuverlässig bestimmt werden könne, stellt die Kammer fest:

14. Die Parteien waren sich einig, dass durch unterschiedliche Messmethoden unterschiedliche Werte für die Affinitätskonstanten ermittelt werden können. Beispielsweise wurde für die Trp120Ala Einzelmutante von Streptavidin mittels Gleichgewichtsdialyse eine Affinitätskonstante von 9 x 10**(6) l/mol errechnet (vgl. dazu Dokument D14, Seite 1755), während die Affinitätskonstante gemäß Messung mit dem BIAcore Verfahren 3 x 10**(8) l/mol betrug (dieser Wert kann der Tabelle 1 der veröffentlichten Anmeldeschrift entnommen werden). Allerdings wurde für die Gleichgewichtsdialyse [**(3)H]Biotin verwendet, welches nach Aussage der Beschwerdegegnerin schwächere H - Brückenbindungen eingeht wodurch die verringerte gemessene Bindungskonstante teilweise erklärt werden kann.

15. Der Beschwerdeführer war außerdem der Ansicht, dass das Messverfahren mittels BIAcore im Patent unzureichend offenbart sei, da weder das an Biotin gekoppelte Antikörper Fragment noch die genauen Pufferbedingungen beschrieben werden.

Der Beschwerdeführer hat allerdings keinen Nachweis erbracht, dass die Verwendung unterschiedlicher Antikörperfragmente oder Puffer zu unterschiedlichen Resultaten führen würde, und zwar derart, dass je nach gewählten Bedingungen eine Affinitätskonstante von mehr oder weniger als 10**(10) l/mol erhalten würde. Die errechneten Affinitätskonstanten sämtlicher Mutanten aus Beispiel 3 des Patents wie auch der Mutanten aus den Dokumenten D7 und D8, sind jedenfalls deutlich kleiner als 10**(10) l/mol.

16. In Anbetracht der Tatsache, dass das Patent eine Methode offenbart, die für Vergleichsversuche verwendet werden kann und dass keinerlei Daten oder Beweismittel vorliegen, die den Schluss zulassen würden, dass die Affinitätskonstanten der beanspruchten Mutanten je nach Messmethode oberhalb oder unterhalb des Wertes von 10**(10) l/mol liegen, kann die Kammer dem Einwand des Beschwerdeführers nicht zustimmen und stellt fest, dass die Erfordernisse des Artikel 83 EPÜ erfüllt sind.

Artikel 54 EPÜ

17. Der Beschwerdeführer erhob keinen Neuheitseinwand. Der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 10 ist im vorliegenden Stand der Technik nicht offenbart und daher neu.

Artikel 56 EPÜ

18. Das laut Einsprechendem den nächstliegenden Stand der Technik repräsentierende Dokument D7 trägt den Titel "Engineered Chimeric Streptavidin Tetramers as Novel Tools for Bioseparations and Drug Delivery" und beschreibt eine Trp120Ala Mutante von Streptavidin. Die Mutante hat eine stark reduzierte Bindungsaffinität zu Biotin von ca. 10**(7) l/mol (siehe Zusammenfassung). Sowohl aus 4 mutierten Untereinheiten gebildete Streptavidine ("parent W120A tetramer") wie chimäre Streptavidine mit dieser Mutante ("WT/W120A tetramers") sollen in Biotin/Streptavidin basierten Affinitätstrennverfahren Verwendung finden und auf Grund der reduzierten Affinitätskonstante zu einer verbesserten Ausbeute beitragen (Seite 1198, rechte Spalte, und Seite 1202, "Discussion").

19. Die Beschwerdegegnerin bezeichnete Dokument D8 als nächstliegenden Stand der Technik. Dieses Dokument beschreibt eine Trp120Phe Mutante von Streptavidin (Stv-38) mit einer Affinitätskonstante von ca. 10**(8 )l/mol und deren potentielle Verwendung in Biotin basierten Reinigungsverfahren.

20. Da beide Dokumente das gleiche Ziel, die Herstellung von Streptavidinmutanten mit stark herabgesetzter Bindungsaffinität zu Biotin und deren Verwendung in der Bioseparation (vgl. z.B. Titel von Dokument D7; Seite 3184 von Dokument D8) verfolgen, und beide ein Streptavidin mit einer Mutation an der Position 120 offenbaren, eignen sie sich gleichermaßen als nächstliegender Stand der Technik.

21. Ausgehend von Dokument D7/D8 besteht das zu lösende technische Problem in der Bereitstellung weiterer Streptavidinmutanten mit stark herabgesetzter Bindungsaffinität zu Biotin, die geeignet sind, Streptavidin/Biotin basierte Trennverfahren zu verbessern.

22. Zur Lösung dieses Problems schlägt das Patent Streptavidinmutanten mit den Eigenschaften gemäß Anspruch 1 vor.

23. Aus Tabelle 1 des Patents geht hervor, dass die exemplarisch hergestellten Stretavidinmutanten in der Tat Bindungsaffinitäten von <10**(10) l/mol haben. Gemäß Beispiel 5 eignen sich die Mutanten für Trennverfahren bei denen freies Biotin zum Eluieren verwendet wird.

24. Die Kammer stellt fest, dass Muteine gemäß Anspruch 1 das vorstehend genannte technische Problem lösen.

25. Es bleibt zu überprüfen, ob die beanspruchte Lösung naheliegend war.

26. Aus der Röntgenstrukturanalyse von an Streptavidin gebundenem Biotin war bekannt, welche Aminosäurereste für die starke Bindung von Biotin besonders wichtig waren (vgl. Figur 3 von Dokument D3; Figur 2 von Dokument D4). Aus Modellrechnungen war außerdem bekannt, dass Van der Waals Interaktionen einen größeren Beitrag zur Bindungsstabilität leisten als elektrostatische Wechselwirkungen und H-Brücken (vgl Dokument D5, Seite 240 "Discussion").

27. Den genannten Dokumenten kann der Fachmann entnehmen, dass, neben etlichen anderen, die Aminosäurereste Ser27 und Ser45 durch H-Brückenbildung (vgl. Dokument D4, Figur 2; Dokument D5, Figur 2) und die Reste Leu25 und Leu 110 durch Van der Waals Interaktionen (vgl. Dokument D5, Figur 3) zur Bindungsstabilität beitragen. Dokument D6 (Figur 5) offenbart einen Sequenzvergleich von verschiedenen Streptavidinen und kennzeichnet konservierte Aminosäurereste, welche einen Beitrag zur Bindungsstabilität leisten.

28. Der Beschwerdeführer argumentierte deshalb, dass die beanspruchte Lösung, ausgehend von der Lehre des Dokuments D7 in Kombination mit der Lehre eines der Dokument D3 bis D6, naheliegend war.

29. Die Kammer kann diesem Argument nicht zustimmen, da die beanspruchte Lösung nicht lediglich darin besteht, an irgendeiner der bekannten Kontaktstellen einen beliebigen Aminosäureaustausch vorzunehmen, sondern vielmehr darin, dass Mutanten durch Substitution an mindestens zwei der genannten Stellen mit einer der genannten voluminöseren Aminosäuren Arg, Trp, Tyr, Phe oder His hergestellt werden.

30. Es bleibt zu prüfen ob der zitierte Stand der Technik einen Hinweis auf diese spezielle Lösung enthielt.

31. Die Autoren von Dokument D6 verglichen die Sequenzen von Streptavidinen aus unterschiedlichen Spezies in der Hoffnung, daraus Informationen zu erhalten, welche in der Bindungsstelle vorkommenden Aminosäuren bevorzugt ausgetauscht werden könnten. Die Autoren fanden aber, dass die an der Bindung beteiligten Aminosäuren konserviert waren und schlossen daraus, dass die Bindungsstelle wenig Raum für Veränderungen bot. Aus dieser Tatsache und weiteren, nicht genauer erläuterten Experimenten schlossen sie, dass Mutationen an der Bindungsstelle von Streptavidin zu verringerter Affinität für Biotin führen (Seite 65, linke Spalte). Dies ist aber eine sehr pauschale Aussage, die keinen Hinweis auf die beanspruchte Lösung gibt.

32. Dokument D5 beschreibt theoretische Berechnungen der Bindungsenergien und zeigt, dass Van der Waals Interaktionen einen größeren Beitrag zu der festen Bindung von Biotin an Streptavidin leisten als die hydrophilen Wechselwirkungen und die H-Brücken. Um den Einfluss der Aminosäuren auf die Bindungsstärke zu testen, wird vorgeschlagen, Mutationen an den für die Van der Waals Interaktionen wichtigen Positionen Trp79 und Trp108 sowie an den H-Brücken bildenden Positionen Asn23, Ser27 und Tyr43 von Streptavidin vorzunehmen (Seite 241, rechte Spalte). Von den in diesem Dokument genannten Positionen findet sich nur Ser27 im vorliegenden Anspruch 1 wieder. Dokument D5 gibt dem Fachmann keinen Hinweis, ob eine, und falls ja welche, Substitution an der Position 27 zu einer signifikanten Reduktion der Bindungsaffinität führen würde. Der Beschwerdeführer führte an, dass dem Fachmann bekannt gewesen sei, welche Aminosäuren zu verwenden seien. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, kann der Fachmann dem Dokument nicht entnehmen, welchen Effekt eine, und schon gar nicht, welchen Effekt mindestens zwei der spezifisch angeführten Substitutionen, an den im Anspruch genannten Stellen auf die Bindungsaffinität haben.

33. Dokument D3 beschreibt einen Vergleich der Kristallstrukturen von Apo/Streptavidin mit und ohne gebundenem Biotin. Das Dokument beschreibt die an der Bindung beteiligten Aminosäuren (Figur 3) und erwähnt, dass der Hauptbeitrag zur starken Bindung von Biotin von den Interaktionen mehrerer Aminosäuren von Streptavidin mit dem Ureido Ringsystem von Biotin herrührt, wobei sowohl hydrophobe wie hydrophile Wechselwirkungen eine Rolle spielen (Seite 87, rechte Spalte). Ebenso wie Dokument D4, das in Bezug auf die Bindung von Biotin an Streptavidin eine vergleichbare Offenbarung enthält, gibt Dokument D3 aber keine weiteren Hinweise auf den Beitrag einzelner Aminosäurenreste.

34. Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass der Fachmann, selbst wenn er Mutationen an einzelnen der im Anspruch 1 genannten Positionen in Betracht gezogen hätte, dem zitierten Stand der Technik keinen Hinweis entnehmen konnte, der nahegelegt hätte, die anspruchsgemäßen Substitutionen vorzunehmen und so zu Mutanten zu gelangen, die eine stark reduzierte Bindungsaffinität zu Biotin von < 10**(10) l/Mol aufweisen. Er wäre daher nicht, in naheliegender Weise, durch Kombination der Lehre von Dokument D7 (oder Dokument D8) mit der Lehre eines der Dokumente D3 bis D6 zur beanspruchten Lösung gelangt.

35. Der Gegenstand des Anspruchs 1, wie auch der Ansprüche 2 bis 10, beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Vorinstanz mit der Maßgabe zurückverwiesen, das Patent im Umfang des Hauptantrages, eingereicht in der mündlichen Verhandlung mit den Ansprüchen 1-10 und einer noch anzupassenden Beschreibung, aufrechtzuerhalten.

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