T 1552/11 () of 27.5.2014

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2014:T155211.20140527
Datum der Entscheidung: 27 Mai 2014
Aktenzeichen: T 1552/11
Anmeldenummer: 05103858.6
IPC-Klasse: B65G 1/137
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Vorrichtung zur automatisierten Einlagerung von Waren
Name des Anmelders: KHT Kommissionier- und Handhabungstechnik GmbH
Name des Einsprechenden: Rowa Automatisierungssysteme GmbH
Kammer: 3.2.07
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 113(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(3)
Schlagwörter: Zulassen verspäteten Antrags -nein, Wegfall der ersten Priorität verlangt weitere Recherchen
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 598 291 zurückzuweisen, hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.

Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten, geänderten Hilfsantrags 1 Antrags 1.

II. Anspruch 1

Der Anspruch 1 lautet wie folgt:

"Verfahren zur Einlagerung von Waren (13), die als im wesentlichen quaderförmige Packungseinheiten ausgebildet sind, insbesondere von Arzneimittelpackungen, in eine automatisierte Lagervorrichtung mit einer Mehrzahl von im Abstand übereinander angeordneten Regalböden (2), auf denen die Waren (l3) jeweils in der Fläche nebeneinander in virtuellen Kanälen (14), mittels mindestens eines Regalbediengerätes (3) ablegbar sind, wobei zumindest in einem Teil der Flächen der Regalböden (2) innerhalb mehrerer Kanäle (14) jeweils mehrere Waren (13) - in Querrichtung zur Längserstreckung der Regalböden (2) gesehen - hintereinanderliegend angeordnet werden und die einzulagernden Waren (13) dem mindestens einen Regalbediengerät (3) in jeweils definierter Zwischenablageposition und mit ihren Kanten ausgerichtet in einem Zwischenspeicher (15) mit ebener Zwischenablagefläche vorgegebener Breite nebeneinander liegend, abgelegt zugeführt werden, so dass das mindestens eine Regalbediengerät (3) gezielt auf die neu einzulagernden Waren (13) zugreifen kann, wobei die Waren (13) vor der Einlagerung identifiziert und direkt oder indirekt ihre Dimensionen ermittelt werden und Daten zur Identifizierung der von einer Steuerung gewählten Lagerstelle für die spätere automatisierte Auslagerung durch das Regalbediengerät (3) gespeichert werden,

dadurch gekennzeichnet, dass

zumindest ein Teil der neu einzulagernden Waren (13) in der Weise in dem Zwischenspeicher (15) gruppenweise geordnet abgelegt wird, dass jeweils mit einem einzigen Zugriff gleichzeitig mehrere Waren (13) hintereinanderliegend von dem mindestens einen Regalbediengerät (3), das die Waren (13) mittels eines Backengreifers aufnimmt, aufnehmbar und mit einem einzigen Ablagevorgang auf einer freien Fläche eines Regalboden (2)in jeweils einen der Kanäle (14) auf den Regalböden (2) schiebend einlagerbar sind, wobei die gruppenweise Ordnung der Waren im Zwischenspeicher entsprechend den gleichen vorgegebenen geometrischen Anwendungskriterien erfolgt, die bei der Einlagerung der Waren in die Kanäle berücksichtigt werden, und als Anordnungskriterium berücksichtigt wird, dass innerhalb eines Kanals - von dem Regalbediengerät aus gesehen - eine weiter hinten liegende Ware stets gleich breit oder breiter sein muss als jede davor liegende Ware".

III. Angefochtene Entscheidung

Nach der angefochtenen Entscheidung sei die Erfindung nach dem Streitpatent ausführbar, neu und beruhe auf erfinderischer Tätigkeit.

IV. In der Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung (im Folgenden: Ladungsbescheid) hat die Kammer ihre vorläufige Auffassung mitgeteilt.

V. Das wesentliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte geänderte Hilfsantrag 1 sei als verspätet und prima facie nicht gewährbar nicht zuzulassen.

b) Die dem geänderten Anspruch 1 aus der Beschreibung hinzugefügte Angabe, dass mittels des Backengreifers Ware schiebend einlagerbar sei, sei in der als erste Priorität beanspruchten Anmeldung nicht enthalten, so dass dem Anspruch 1 allenfalls die Priorität der zweiten Prioritätsanmeldung zukomme.

c) Der Zeitraum zwischen der ersten und der zweiten Priorität ist bei der bisherigen Betrachtung des Standes der Technik außer Betracht geblieben. Etwaig aufzufindender Stand der Technik aus diesem Zeitraum wäre als Folge dieser Anspruchsänderung bei der Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit mit zu berücksichtigen. Da dies vorliegend, aufgrund des Einreichens des Antrags erst im Verlaufe der mündlichen Verhandlung, ausgeschlossen ist sei eine derartige Folgen mit sich bringende Anspruchsänderung nicht zuzulassen.

Diese Änderung war auch nach den vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträgen nicht vorhersehbar.

d) Betreffend die übrigen Änderungen des Anspruchs 1 sei weiterhin fraglich inwieweit sie den Erfordernissen des EPÜ genügten.

VI. Das wesentliche Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Mit dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten geänderten Hilfsantrag 1 werde den im Verlaufe der mündlichen Verhandlung erörterten Aspekten Rechnung getragen.

b) Soweit die Änderung des Anspruchs 1 die Funktion des Backengreifers zum Einlagern zumindest eines Teils neu einzulagernder Waren betreffe, sei zu berücksichtigen, dass diesbezüglich auf einen bekannten Backengreifer Bezug genommen werde.

c) Es sei, da von einem bekannten Backengreifer ausgegangen werde, auch unerheblich ob diesbezüglich die erste der beiden in Anspruch genommenen Prioritäten wirksam sei. Da anerkanntermaßen von einem als bekannt vorausgesetzten Backengreifer ausgegangen werde, erübrige es sich neuen Stand der Technik aus dem Zeitraum zwischen der nicht mehr wirksamen ersten Priorität und der diesbezüglich wirksamen zweiten Priorität zu ermitteln.

d) Der geänderte Anspruch 1 habe im Übrigen eine Grundlage in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und schränke den Schutzbereich des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung ein, so dass die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt seien.

VII. Am 27. Mai 2014 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.

Entscheidungsgründe

1. Änderungen des Anspruchs 1

1.1 Zeitpunkt der Änderung

Der den geänderten Anspruch 1 enthaltende Anspruchssatz wurde im Verlaufe der mündlichen Verhandlung eingereicht.

1.2 Art der Änderung

Der geltende Anspruch 1 weist gegenüber dem Anspruch 1 in der erteilten Fassung die im Folgenden genannten Änderungen auf:

Das Merkmal, dass

"zumindest ein Teil der neu einzulagernden Waren (13) in der Weise in dem Zwischenspeicher (15) gruppenweise geordnet abgelegt wird, dass jeweils mit einem einzigen Zugriff gleichzeitig mehrere Waren (13) hintereinanderliegend von dem mindestens einen Regalbediengerät (3) aufnehmbar" sind

wurde ergänzt durch die sich an den Ausdruck "Regalbediengerät (3)" anschließende Angabe

"das die Waren (13) mittels eines Backengreifers aufnimmt". Der Anspruch 1 enthält folglich bezüglich des Regalbediengeräts das Merkmal

a) Regalbediengerät (3) das die Waren (13) mittels eines Backengreifers aufnimmt.

Das Merkmal, nach dem die nach dem obigen Merkmal a) aufnehmbaren Waren durch den Backengreifer "mit einem einzigen Ablagevorgang auf einer freien Fläche eines Regalboden (2) in jeweils einen der Kanäle (14) auf den Regalböden (2) einlagerbar sind" wurde durch Einfügen der Angabe "schiebend" geändert in

b) "mit einem einzigen Ablagevorgang auf einer freien Fläche eines Regalboden (2) in jeweils einen der Kanäle (14) auf den Regalböden (2) schiebend einlagerbar sind".

Am Ende des Anspruchs wurde die Merkmalsgruppe

"wobei die gruppenweise Ordnung der Waren im Zwischenspeicher entsprechend den gleichen vorgegebenen geometrischen Anwendungskriterien erfolgt, die bei der Einlagerung der Waren in die Kanäle berücksichtigt werden, und als Anordnungskriterium berücksichtigt wird, dass innerhalb eines Kanals - von dem Regalbediengerät aus gesehen - eine weiter hinten liegende Ware stets gleich breit oder breiter sein muss als jede davor liegende Ware" hinzugefügt.

Die Merkmale a) und b) betreffen unstreitig Funktionen des Regalbediengerätes (Aufnehmen und Schieben von Waren).

2. Grundlage für die Anspruchsänderung gemäß dem Merkmal b)

2.1 Als Grundlage für die Anspruchsänderung gemäß dem obigen Merkmal b), gemäß der das Regalbediengerät die Funktion "Waren schiebend einlagerbar" zugeordnet wird, verwies die Beschwerdegegnerin auf den Beschreibungsteil des Abschnitts [0006] des Streitpatents, der auf einen Stand der Technik nach der Firmenbroschüre "Wie Sie es brauchen: Kommissionier-Automat der Extraklasse. Universell, effizient, einfach doppelt gut" Bezug nimmt und diesen würdigt.

2.1.1 Nach der Beschreibung des Streitpatents ist durch die Firmenbroschüre ein automatisiertes Arzneimittellager bekannt das "Waren mittels eines Regalbediengeräts auf Regalböden ungeordnet im Sinne einer chaotischen Lagerung ... ablegt und bei Bedarf automatisch wieder auslagert. Zur Erhöhung der auf die benötigte Grundfläche eines solchen Lagers bezogenen Lagerkapazität werden dort deutlich breitere (bis zu 400mm tief) Regalböden eingesetzt und ist die Lagerfläche der Regalböden in so genannte virtuelle Kanäle aufgeteilt, in denen jeweils eine oder vorzugsweise mehrere Waren quer zur Längserstreckung der Regalböden hintereinanderliegend abgelegt werden können".

2.1.2 Bezüglich des dort eingesetzten Regalbediengeräts ist dem Streitpatent zu entnehmen, dass es "mit einem Backengreifer zur Manipulation der Waren ausgestattet ist" (Hervorhebung hinzugefügt).

Die Waren sind in den Regalböden so anzuordnen dass "das mit einem Backengreifer ausgerüstete Regalbediengerät im Bedarfsfall jeden beliebigen Gegenstand aus einer Reihe mehrerer an gleicher Regallängsposition liegender Gegenstände mit einem einzigen Zugriff erfassen und wieder auslagern kann" (Abschnitt [0006]).

2.1.3 Bezüglich des Auslagerns ist anschließend weiter ausgeführt "Damit ist in einem solchen Fall zwangsläufig aber auch eine Herausnahme der vor diesem Gegenstand liegenden Gegenstände verbunden, so dass nach erfolgter Abgabe des eigentlich angesprochenen Gegenstands die übrigen nicht gewünschten Gegenstände wieder auf die gleiche oder eine andere Lagerposition zurückgeschoben werden müssen".

Die letztgenannte Wirkung des Zurückschiebens ist nach der Beschwerdegegnerin dem Backengreifer zuzuordnen.

3. Priorität

3.1 Die Beschwerdeführerin hat gegen die Zulässigkeit des Antrags u.a. den Einwand erhoben, dass aufgrund des Merkmals b) die erste Priorität des Streitpatents unwirksam werde, weil eine die Grundlage dieser Anspruchsänderung bildende Offenbarung (vgl. obigen Punkt 2.1, insbesondere 2.1.3) erst in dem zweiten Prioritätsdokument enthalten sei.

3.2 Das Streitpatent beansprucht eine erste Priorität vom 21. Mai 2004 (DE 102004025070) und eine zweite vom 23. September 2004 (DE 102004046176).

3.3 Dies erste Prioritätsanmeldung enthält die Angabe "Aus der Firmenbroschüre "Wie Sie es brauchen: Kommissionier-Automat der Extraklasse. Universell, effizient, einfach doppelt gut" der Apostore GmbH ist ein automatisiertes Arzneimittellager bekannt, das in ähnlicher Weise arbeitet, also Waren mittels eines Regalbediengeräts auf Regalböden ungeordnet im Sinne einer chaotischen Lagerung, wie sie in Hochregallagern generell üblich ist, ablegt und bei Bedarf automatisch wieder auslagert. Zur Erhöhung der auf die benötigte Grundfläche eines solchen Lagers bezogenen Lagerkapazität werden dort deutlich breitere (tiefere) Regalböden eingesetzt und ist die Lagerfläche der Regalböden in sogenannte virtuelle Kanäle aufgeteilt, in denen jeweils eine oder vorzugsweise mehrere Waren quer zur Längserstreckung der Regalböden hintereinanderliegend abgelegt werden können. Die Kanalgrenzen bilden dabei in Längsrichtung der Regalböden jeweils Zwischenräume im Sinne eines Mindestabstands zwischen den in benachbarten Kanälen eingelagerten Waren. Ein solcher Mindestabstand ist erforderlich, damit ein ordnungsgemäßes Ein- und Auslagern ohne Verschiebung benachbart gelagerter Waren erfolgen kann, da das Regalbediengerät, von denen sich in einer Regalgasse zwischen sich gegenüberliegenden Regalen jeweils zwei befinden, jeweils mit einem Backengreifer zur Manipulation der Waren ausgestattet ist. Bei dieser Anlage muss die Steuerung selbstverständlich, um die eingelagerten Waren gezielt wieder auffinden zu können (ohne Notwendigkeit einer erneuten Identifizierung einzelner Waren), nicht nur die Position des jeweils für die Abläge auf einem Regalboden gewählten Kanals, sondern auch die Position innerhalb des Kanals aller eingelagerten Waren kennen und speichern. Wenn die Steuerung feststellt, dass ein Kanal hinsichtlich seiner Tiefe (quer zur Längserstreckung des Regalbodens) durch eine oder mehrere eingelagerte Waren nur teilweise belegt ist, kann eine neu einzulagernde Ware, sofern deren Länge in Richtung der Kanaltiefe nicht größer ist als die noch freie Kanaltiefe, ebenfalls in diesen Kanal eingelagert werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings nicht nur, dass die Breite der Ware (in Längsrichtung des Regalbodens) nicht größer ist als die Breite des jeweiligen Kanals und auch nicht größer ist als die Breite der bereits in diesem Kanal eingelagerten, unmittelbar dahinterliegenden Ware. Letztere Bedingung ist deswegen notwendig, weil der Backengreifer im Falle einer Auslagerung aus diesem Kanal eine hinter einer breiteren Packung liegende schmale Packung sonst nicht greifen könnte. Das Ablageprinzip innerhalb eines Kanals ist also eine Anordnung der Waren (im Grundriss gesehen) nach einer sogenannten Tannenbaum-Form, wobei die Spitze dieses Tannenbaums zum Regalbediengerät weisen muss. Allenfalls dürfen gleich breite Packungen unmittelbar hintereinander liegen" (Seite 2, Zeile 31 - Seite 4, Zeile 6).

3.4 Die zweite Prioritätsanmeldung enthält die Angabe "Aus der Firmenbroschüre "Wie Sie es brauchen: Kommissionier-Automat der Extraklasse" der Apostore GmbH ist eine ähnliche rechnergesteuerte Lagervorrichtung bekannt, bei der zwei unabhängig verfahrbare Regalbediengeräte benutzt werden. Die verwendeten Regalböden weisen eine Tiefe von bis zu 400mm auf. Dabei ist vorgesehen, dass an einer Position, in Längsrichtung der Regalanlage gesehen, jeweils mehrere gleichartige oder auch unterschiedliche Gegenstände in Richtung der Regaltiefe hintereinander zur Einlagerung abgelegt werden, um die verfügbare Fläche besser zu nutzen. Dabei muss aber die Regel eingehalten werden, dass an einer Regalposition jeweils ein weiter hinten liegender Gegenstand stets breiter oder zumindest gleich breit sein muss als bzw. wie alle weiter vor ihm liegenden (vom Regalbediengerät aus gesehen) Gegenstände. Dies ist notwendig, damit das mit einem Backengreifer ausgerüstete Regalbediengerät im Bedarfsfall jeden beliebigen Gegenstand aus einer Reihe mehrerer an einer Regallängsposition liegender Gegenstände mit einem Zugriff erfassen und wieder auslagern kann. Damit ist in einem solchen Fall zwangsläufig auch eine Herausnahme der vor diesem Gegenstand liegenden Gegenstände verbunden, so dass nach erfolgter Abgabe des eigentlich angesprochenen Gegenstands die übrigen nicht gewünschten Gegenstände wieder auf die gleiche oder eine andere Lagerposition zurückgeschoben (Hervorhebung eingefügt) werden müssen" (Seite 3, Zeile 15 - Seite 4, Zeile 2).

3.5 Ein Vergleich der die Firmenbroschüre betreffenden Beschreibungsteile der ersten und zweiten Prioritätsanmeldung zeigt, dass lediglich in der zweiten Prioritätsanmeldung für das mit einem Backengreifer ausgerüstete Regalbediengerät die Wirkung des "Zurückschiebens" oder verallgemeinert im Sinne des Merkmals b) des "Schiebens" von Waren zum Einlagern offenbart ist.

3.5.1 Die Beschwerdegegnerin vermochte auf Rückfrage der Kammer auch unter Berücksichtigung der weiteren Offenbarung der ersten Prioritätsanmeldung keine Grundlage betreffend das Merkmal b) aufzuzeigen.

Sie hat auch nicht behauptet, dass bezüglich der ersten Priorität Angaben der Firmenbroschüre zu berücksichtigen seien, die über die diesbezüglich in die Beschreibung der ersten Prioritätsanmeldung explizit aufgenommenen Angaben hinausgehen.

3.6 Die Kammer geht, wie in der mündlichen Verhandlung angesprochen, davon aus, dass die Prüfung der Wirksamkeit der Priorität vorliegend eine prima facie Prüfung ist und dass Voraussetzung für die Wirksamkeit der Priorität vorliegend eine "unmittelbare und eindeutigen Offenbarung" betreffend die schiebende Funktion des Regalbediengerätes nach dem Merkmal b) ist.

Ausgehend von der o.g. Offenbarung der ersten Prioritätsanmeldung (vgl. obige Punkte 3.3 und 3.5) erachtet die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin als zutreffend, dass bezüglich der durch das Merkmal b) definierten Funktion des Regalbediengeräts die Wirkung des Zeitrangs der ersten Priorität (Artikel 89 EPÜ) nicht gegeben ist.

4. Folge der prima facie unwirksamen ersten Priorität

4.1 Soweit die erste Priorität unwirksam ist, gilt nicht mehr der Zeitrang des Streitpatents vom 21. Mai 2004 sondern allenfalls derjenige vom 23. September 2004 ausgehend von der zweiten Prioritätsanmeldung.

4.2 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin führt die Unwirksamkeit der ersten Priorität dazu, dass bislang, ausgehend von der Wirksamkeit dieser Priorität, nicht zu berücksichtigender und auch nicht berücksichtigter Stand der Technik in die Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit mit einzubeziehen ist.

4.2.1 Betreffend derartigen Stand der Technik sei vorliegend auch zu berücksichtigen, dass im Zusammenhang mit einer Pharmazeutischen Fachmesse im Zeitraum vom 15. bis 19. September 2004 d.h. sehr nah am Zeitrang der zweiten Priorität eine offenkundige Vorbenutzungshandlung seitens der ausstellenden Beschwerdegegnerin erfolgt sein könne.

4.2.2 Auf jeden Fall sei die in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Anspruchsänderung mit der Folge der Unwirksamkeit einer Priorität nicht zuzulassen, weil der Beschwerdeführerin andernfalls die Möglichkeit genommen werde, sich gegenüber einer derartigen Anspruchsänderung angemessen, d.h. unter Beurteilung und ggfs. Berücksichtigung des Standes der Technik innerhalb des gesamten zu berücksichtigenden Zeitraumes, zu verteidigen.

4.2.3 Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass, im Hinblick auf das Vorbringen im schriftlichen Verfahren, die Vornahme einer derartigen Anspruchsänderung erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht vorhersehbar gewesen sei und folglich als überraschend anzusehen ist.

4.3 Nach der Beschwerdegegnerin habe sich die Notwendigkeit einer das Merkmal b) umfassenden Änderung erst im Verlaufe der mündlichen Verhandlung gezeigt. Sie könne folglich nicht als überraschend angesehen werden.

4.3.1 Eine Berücksichtigung des Standes der Technik betreffend den Zeitraum vom 21. Mai 2004 bis zum 23. September 2004 sei im vorliegenden Fall nicht notwendig, da das Merkmal b) ja anerkanntermaßen lediglich von dem aus dem Stand der Technik bekannten Regalbediengerät, das Waren mittels eines Backengreifers aufnehmen und schiebend einlagern kann, Gebrauch macht.

4.3.2 Es gebe somit keinen Grund den geänderten Hilfsantrag 1, dessen Anspruch 1 gegenüber demjenigen der erteilten Fassung beschränkt sei und der sich inhaltlich von letzterem lediglich in einer die Komplexität des zu prüfenden Gegenstandes nicht vergrößernden Weise unterscheidet, nicht zuzulassen.

4.3.3 Letztlich sei auch zu berücksichtigen, dass der Kern der Erfindung nicht die Funktionalität des Regalbediengeräts und dessen Backengreifers betreffe, die ja als bekannt vorausgesetzt sei, sondern vielmehr die Art in der zumindest ein Teil der neu einzulagernden Waren in dem Zwischenspeicher gruppenweise geordnet abgelegt werde und in der mehrere Waren hintereinanderliegend von dem mindestens einen Regalbediengerät aufnehmbar und auf einer freien Fläche des Regalbodens einlagerbar seien.

4.4 Die Kammer erachtet die Argumentation der Beschwerdeführerin als zutreffender.

4.4.1 Nach Artikel 13 (3) VOBK werden Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.

4.4.2 Diesen Tatbestand erfüllt vorliegend die im Verlaufe der mündlichen Verhandlung bezüglich des Merkmals b) vorgenommene Änderung des Anspruchs 1. Durch die damit einhergehende Unwirksamkeit der ersten Priorität ergibt sich ein neuer Sachverhalt, nämlich ein Anspruchsgegenstand, dem nicht mehr der Zeitrang der ersten Priorität zukommt. Folglich ist bezüglich des Standes der Technik auch solcher aus einem Zeitraum zu berücksichtigen für dessen Berücksichtigung keine Veranlassung bestand solange, wie dies für den Anspruch 1 in der erteilten Fassung bzw. für die Ansprüche der vor der mündlichen Verhandlung geltenden Anträge der Fall war, von der Wirksamkeit der beiden beanspruchten Prioritäten ausgegangen werden konnte.

4.4.3 Ein sachgerechtes Eingehen auf das durch den geänderten Anspruch 1 beanspruchte Verfahren war der Beschwerdeführerin folglich nicht zuzumuten.

Der Beschwerdeführerin darf vorliegend die Möglichkeit, bei geändertem Zeitrang aufgrund einer Anspruchsänderung, auch für den zusätzlich zu berücksichtigenden Zeitraum etwaig relevanten Stand der Technik zu ermitteln nicht verwehrt werden. Dies gilt unabhängig davon, inwieweit hierfür eine Erfolgsaussicht, bspw. aufgrund einer innerhalb des zu berücksichtigenden Zeitraums liegenden Fachmesse auf der die Beschwerdegegnerin ausgestellt hat, als wahrscheinlich angesehen werden kann.

4.4.4 Der Eintritt der Rechtsfolge nach Artikel 13 (3) VOBK hängt im vorliegenden Fall, in dem wie nachfolgend dargelegt die seitens der Beschwerdegegnerin vorgebrachten gegenteiligen Argumente nicht durchgreifen, allein davon ab, ob Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.

Dieser Tatbestand ist, wie ausgeführt, vorliegend erfüllt.

4.4.5 Der seitens der Beschwerdegegnerin genannte Rechtfertigungsgrund, dass sich die Notwendigkeit einer das Merkmal b) umfassenden Änderung erst im Verlaufe der mündlichen Verhandlung gezeigt habe (vgl. obigen Punkt 4.3), greift vorliegend, wie in der mündlichen Verhandlung angesprochen, schon deshalb nicht, weil eine das Merkmal b) betreffende Änderung bereits durch das Vorbringen der Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren sowie durch die im Ladungsbescheid zum Ausdruck gebrachte vorläufige Auffassung der Kammer veranlasst war.

Der Vollständigkeit wegen sei angemerkt, dass sich betreffend eines erst in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Einwandes, der als Anlass für die Anspruchsänderung angesehen werden könnte, gleichfalls die Frage des Zulassens nach Artikel 13 (3) VOBK gestellt hätte.

4.4.6 Auch die Berücksichtigung der weiteren Argumentation der Beschwerdegegnerin vermag, da mit der Wirkung der Anspruchsänderung bezüglich der prima facie Unwirksamkeit der ersten Priorität in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehend, zu keinem anderen Ergebnis zu führen.

4.4.7 Das Argument, dass die Unwirksamkeit der ersten Priorität eine Recherche nach Stand der Technik betreffend den Zeitraum vom 21. Mai 2004 bis zum 23. September 2004 entbehrlich mache weil das Merkmal b) anerkanntermaßen aus dem Stand der Technik bekannt sei (vgl. obigen Punkt 4.3.1) geht fehl. Die Frage nach etwaig zu berücksichtigenden Stand der Technik betrifft nämlich nicht das aus der Firmenbroschüre bekannte Regalbediengerät, dessen dort genannte Funktionen sowie dessen dort genannten Gebrauch. Weit darüber hinausgehend wäre vielmehr Stand der Technik aus dem genannten Zeitraum zu berücksichtigen der sich, im Hinblick auf die Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit, gerade im Hinblick auf den Gebrauch des Regalbediengerätes nach dem Merkmal b) des Anspruchs 1 als relevant erweisen könnte.

Entsprechend ist auch bezüglich des Arguments, nach dem sich durch die Anspruchsänderung aufgrund des Merkmals b) die Komplexität des zu prüfenden Gegenstandes nicht vergrößere, sowie desjenigen, nach dem zu berücksichtigen sei, dass der Kern der Erfindung nicht das Regalbediengerät und dessen Backengreifer betreffe sondern vielmehr die Art in der zumindest ein Teil der neu einzulagernden Waren auf einer freien Fläche des Regalbodens einlagerbar ist (vgl. obige Punkte 4.3.2 und 4.3.3), zu berücksichtigen, dass das Verfahren nach dem Anspruch 1 nicht generell auf ein gruppenweises Einlagern eines Teils der neu einzulagernden Waren gerichtet ist, sondern vielmehr auf eines bei dem unter Berücksichtigung des Merkmals b) jeweils mit einem einzigen Zugriff gleichzeitig mehrere Waren hintereinanderliegend von dem mindestens einen Regalbediengerät aufnehmbar und in einem einzigen Ablagevorgang auf einer freien Fläche eines Regalbodens einlagerbar sind.

4.4.8 Nach alledem ist der Antrag aufgrund der das Merkmal b) betreffenden Änderung des Anspruchs 1 nicht zuzulassen, so dass auf die weitere Änderungen des Anspruchs 1 betreffenden Einwände der Beschwerdeführerin nicht mehr einzugehen ist.

5. Die angefochtene Entscheidung ist folglich aufzuheben und das Patent zu widerrufen, weil aufgrund des Nichtzulassens des einzigen Antrags im Gegensatz zum Erfordernis des Artikels 113 (1) EPÜ eine Entscheidung anhand einer von der Beschwerdegegnerin vorgelegten oder gebilligten Fassung nicht möglich ist.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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