T 0964/11 () of 18.8.2015

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T096411.20150818
Datum der Entscheidung: 18 August 2015
Aktenzeichen: T 0964/11
Anmeldenummer: 07819637.5
IPC-Klasse: B29C 47/92
H01B 13/14
H01B 13/24
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Betrieb einer Produktionsanlage zur Herstellung eines Stranges
Name des Anmelders: Sikora AG
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Änderungen - Erweiterung des Patentanspruchs (nein)
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Anmelderin richtet sich gegen die am 8. Dezember 2010 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 07 819 637.5 wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen worden ist.

II. Am 18. August 2015 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.

III. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage des Hauptantrages, oder eines der Hilfsanträge 1a, 1, 2 oder 2a, alle eingereicht mit Schriftsatz vom 7. August 2015, zu erteilen.

IV. Im Beschwerdeverfahren wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:

D1: EP-A-635 851

D4: JP-A-62 177810 mit Übersetzung

V. Der unabhängige Anspruch 1 nach dem Hauptantrag lautet wie folgt:

"Verfahren zum Betrieb einer Produktionsanlage zur Herstellung eines Stranges, bei dem in mindestens einem in seiner Schneckendrehzahl veränderbaren Extruder (10) mindestens eine Schicht des Stranges (14) aus Kunststoff extrudiert wird, wobei die Geschwindigkeit des Stranges (14) (Liniengeschwindigkeit VL) veränderbar ist und bei dem ferner der Durchmesser D und/oder die Wanddicke Wv der Schicht im Abstand vom Extruder mit einem Meßkopf (32) gemessen wird, gekennzeichnet durch folgende Schritte:

- in einem Rechner wird für ein Extrudermodell (38) ein Algorithmus gespeichert, mit dem Durchmesserwerte D und/oder Wanddickenwerte Wv der Schicht unter Berücksichtigung der nichtlinearen drehzahlabhängigen Ausstoßleistung des zum Einsatz kommenden spezifischen Extruders, des Innendurchmessers Dcore der Schicht und der Liniengeschwindigkeit VL berechnet werden,

- das gespeicherte Extrudermodell (38) wird aus dem Volumenausstoß (Extruderleistung) durch Messung der Wanddicke Wv und/oder des Durchmessers eines Stranges (14), der Extruderdrehzahl nex, der Linien­geschwindigkeit VL und des Innendurchmessers Dcore der Schicht gebildet,

- bei Produktionsbeginn des Stranges (14) wird zunächst mit Hilfe des Extrudermodells (38) der vom Extruder (10) vorhersehbar erzeugte Wert für Durchmesser und/oder Wanddicke Wv errechnet in Abhängigkeit von den Werten für den Innendurchmesser Dcore, die Liniengeschwindigkeit VL, die Schneckendrehzahl nex des Extruders (10) und die drehzahlabhängigen Daten für die Ausstoßleistung des Extruders C,

- der errechnete, vorhersehbare Wert für Durchmesser- und/oder Wanddicke Wv prog wird angezeigt und

- durch Änderung der Schneckendrehzahl nex des Extruders (10) und/oder der Liniengeschwindigkeit VL mittels Handbetätigung oder Regelung wird der errechnete und angezeigte Wert für Durchmesser und/oder Wanddicke

Wv prog auf einen Sollwert für Durchmesser und/oder Wanddicke Wv soll gebracht."

VI. Im schriftlichen Verfahren und während der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin im Wesentlichen wie folgt argumentiert:

Der geänderte Anspruch 1 nach dem Hauptantrag beruhe im Wesentlichen auf dem Anspruch 1 wie eingereicht, wobei basierend auf der ursprünglichen Offenbarung in der Beschreibung Klarstellungen vorgenommen worden seien.

Der Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag sei neu und erfinderisch. Nach dem Dokument D1 erfolge das Hochfahren der Extrusionsanlage im Wesentlichen auf Basis des gemessenen und nicht des vorhergesagten Wertes für den Außendurchmesser. Folglich sei keiner der beanspruchten Verfahrensschritte in der Druckschrift D1 offenbart oder nahegelegt.

Im Dokument D4 werde, wie auch in der zurückgewiesenen Anmeldung, bei Produktionsbeginn des Stranges ein Wert für den Außendurchmesser prognostiziert. Die Prognose beruhe dort auf der Annahme einer linearen, drehzahlabhängigen Ausstoßleistung, während der Prognose nach dem vorliegenden Anspruch 1 ein nichtlinearer Zusammenhang zugrunde gelegt werde. Zudem werde der prognostizierte Werte im Dokument D4 weder angezeigt noch geändert. Im Gegensatz dazu werde der prognostizierte Außendurchmesser nach der vorliegenden Erfindung angezeigt und durch Handbetätigung oder Regelung auf den Soll-Wert gebracht, bevor der Strang die Durchmesser-Messvorrichtung passiert habe. Diese Anpassung des prognostizierten Wertes, mit Hilfe derer eine wesentlich genauere Einstellung der Wanddicke bereits beim Hochfahren der Extrusionsanlage erreicht werde, sei im Stand der Technik nicht bekannt. Somit könne dieser den Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag nicht nahelegen, weshalb er auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag - Änderungen von Anspruch 1

Anspruch 1 nach dem Hauptantrag beruht im Wesentlichen auf dem Anspruch 1 wie eingereicht. Eine Basis für die zusätzlichen Merkmale "nichtlineare Ausstoßleistung", "zum Einsatz kommender spezifischer Extruder", "Produktionsbeginn" und "mittels Handbetätigung oder Regelung" findet sich in der ursprünglichen PCT-Anmeldung auf Seite 4, viertletzte Zeile, Seite 5, Mitte des letzten Absatzes, Seite 7, zweiter Absatz, erster und letzter Satz bzw. Seite 5, letzter Satz.

Der Anspruch 1 nach dem Hauptantrag erfüllt damit die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.

2. Hauptantrag - Neuheit im Hinblick auf das Dokument D1

2.1 In der angefochtenen Entscheidung sieht die Prüfungsabteilung den Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag als nicht neu gegenüber dem Dokument D1 an. Dabei argumentiert sie, dass die dortige Offenbarung (D1, Seite 5, Zeilen 26 bis 37, Ansprüche 1 bis 5) ebenfalls ein Extrudermodell zeige, das unter die Definition des Hauptantrags falle. Zudem sei das Dokument D1 nicht dahingehend zu interpretieren, dass das Ausstoßverhalten des Extruders durchgehend linear sei, weshalb die im streitigen Anspruch 1 genannte nichtlineare Extruder-Ausstoßleistung die Neuheit nicht herstellen könne. Schließlich erfolge die Vorhersage der Werte für die Wanddicke und/oder den Durchmesser nicht nur nach einer Messung alleine, sondern nach einer Abfolge in interaktiven Korrekturschritten.

2.2 Diesem Einwand mangelnder Neuheit kann die Kammer aus folgenden Gründen nicht zustimmen.

Der Gegenstand des einzigen unabhängigen Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag betrifft im Wesentlichen ein Verfahren zum Betrieb einer Produktionsanlage zur Herstellung eines Stranges, beispielsweise eines mit einer Kunststoffisolationsschicht bestimmter Dicke ummantelten elektrischen Leiters. Insbesondere wird dabei zu Produktionsbeginn in Abhängigkeit vom Innendurchmesser der Kunststoffschicht, der Liniengeschwindigkeit, der Schneckendrehzahl des Extruders und der drehzahlabhängigen Ausstoßleistung des Extruders die zu erwartende Wanddicke und/oder der zu erwartende Durchmesser des Stranges errechnet und angezeigt. In einem weiteren Schritt wird die Schneckendrehzahl und/oder die Liniengeschwindigkeit so geändert, dass der errechnete und angezeigte Wert für die Wanddicke und/oder den Durchmesser mit dem entsprechenden Sollwert übereinstimmt.

Auch die Entgegenhaltung D1 betrifft allgemein ein Verfahren zur Herstellung eines mit einer Kunststoffisolationsschicht bestimmter Dicke ummantelten elektrischen Leiters, insbesondere den Prozess des Hochfahrens der Extrusionslinie auf die gewünschte Liniengeschwindigkeit (vgl. D1, Seite 3, erster Absatz). Dabei werden die Extrusions- und Liniengeschwindigkeiten basierend auf dem in der Messvorrichtung gemessenen Außendurchmesser D erhöht (vgl. D1, Seite 4, Zeilen 21 bis 25). Die im Dokument D1 vorgeschlagene Lösung enthält keine Offenbarung einer auf der nichtlinearen, drehzahlabhängigen Ausstoßleistung, dem Innendurchmesser und der Liniengeschwindigkeit beruhenden und daraus errechneten Prognose des Durchmessers und/oder der Wanddicke. Damit gehen die Argumente der Prüfungsabteilung, dass das Dokument D1 ein Extrudermodell zeige, das unter die Definition des Hauptantrags falle, und dass die Vorhersage der Werte für die Wanddicke und/oder den Durchmesser nicht nur nach einer Messung alleine, sondern nach einer Abfolge in interaktiven Korrekturschritten erfolge, ins Leere. Da im Verfahren nach Dokument D1 keine anspruchsgemäße Vorhersage des Durchmessers und/oder der Wanddicke erfolgt, sind auch die weiteren, darauf aufbauenden Verfahrensschritte nach Anspruch 1, nämlich die Anzeige des errechneten, vorhersagbaren Wertes für den Durchmesser und/oder die Wanddicke, sowie die Änderung der Schneckendrehzahl des Extruders und/oder der Liniengeschwindigkeit um den errechneten und dargestellten Prognosewert auf einen entsprechenden Sollwert zu bringen, nicht im Dokument D1 offenbart. In Bezug auf dieses Dokument ist der Gegenstand von Anspruch 1 also neu, Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973.

3. Hauptantrag - Neuheit und erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf das Dokument D4

3.1 Das Dokument D4 wird in der Beschreibungseinleitung des Dokuments D1 unter Würdigung seines wesentlichen Inhalts genannt. Das Dokument D4 betrifft ein Verfahren zum Hochfahren einer Produktionsanlage zur Herstellung eines mit einer Kunststoffisolationsschicht bestimmter Dicke ummantelten elektrischen Leiters. Dabei wird zu Produktionsbeginn in Abhängigkeit von dem Kerndurchmesser des elektrischen Leiters, der Liniengeschwindigkeit und des Soll-Außendurchmessers der Isolationsschicht die erforderliche Schneckendrehzahl des Extruders errechnet und eingestellt. Bis das Extrudat den stromabwärts liegenden Durchmesser-Messkopf erreicht, wird mit Hilfe von Schieberegistern in regelmäßigen Abständen auf Grundlage der momentanen Werte für die Liniengeschwindigkeit, die Schneckendrehzahl und den Kerndurchmesser jeweils ein prognostizierter Außendurchmesser der Isolationsschicht ermittelt ("Extrudermodell" in der Terminologie der zurückgewiesenen Anmeldung). Wenn das Extrudat den Durchmesser-Messkopf erreicht, werden die prognostizierten und tatsächlich gemessenen Werte des Außendurchmessers verglichen. Falls diese voneinander abweichen, werden die Parameter für die Berechnung der Schneckendrehzahl des Extruders und des prognostizierten Außendurchmessers entsprechend angepasst (vgl. Übersetzung des Dokuments D4, Seite 3, Zeilen 15 bis 30). Mit dieser Lösung wird unter anderem das Ziel erreicht, die Schneckendrehzahl schon zu Produktionsbeginn im Hinblick auf den zu erreichenden Außendurchmesserwert genau einzustellen und so den Ausschuss zu minimieren (vgl. Übersetzung des Dokuments D4, Seite 8, Zeilen 3 und 4).

3.2 Der Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag unterscheidet sich von der Offenbarung im Dokument D4 zumindest darin, dass

a) der prognostizierte Außendurchmesserwert angezeigt wird und

b) durch Änderung der Schneckendrehzahl des Extruders und/oder der Liniengeschwindigkeit der errechnete (und angezeigte) Wert für Durchmesser und/oder Wanddicke auf einen Sollwert gebracht wird.

Aufgrund dieser Merkmale ist die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags auch im Hinblick auf das Dokument D4 gegeben, Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973.

3.3 Im verfügbaren Stand der Technik ist das Dokument D4 die einzige Entgegenhaltung, die zeigt, dass bei Produktionsbeginn des Stranges ein Wert für den Außendurchmesser prognostiziert wird. Diese bekannte Lösung dient, wie oben dargelegt, dem gleichen Zweck wie die beanspruchte Erfindung und hat die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein, so dass sie im Rahmen des Aufgabe-Lösungsansatzes als nächstkommender Stand der Technik anzusehen ist.

3.4 Die technische Wirkung der oben genannten Unterscheidungsmerkmale a) und b) besteht nach Darstellung der Beschwerdeführerin darin, dass bereits beim Hochfahren der Extrusionsanlage eine wesentlich genauere Einstellung der Wanddicke des extrudierten Stranges erreicht wird.

Folglich liegt die zu lösende objektive technische Aufgabenstellung darin, ein Verfahren zum Betrieb einer Produktionsanlage für Kabel anzugeben, mit dem der Außendurchmesser und/oder die Wanddicke der Ummantelung schneller als herkömmlich auf den gewünschten Nennwert gebracht werden kann, obwohl eine Messung des Durchmessers bzw. der Wanddicke unmittelbar hinter dem Extruder entfällt (vgl. ursprünglichen PCT-Anmeldung, Seite 4, dritter Absatz).

3.5 Nach der beanspruchten Lösung werden die prognostizierten Werte für die Wanddicke und/oder den Außendurchmesser angezeigt und durch Änderung der Schneckendrehzahl und/oder der Liniengeschwindigkeit mittels Handbetätigung oder Regelung auf den Soll-Wert für die Wanddicke und/oder den Außendurchmesser gebracht. Erfindungsgemäß bildet der prognostizierte Wert somit als Ist-Wert die Grundlage für einen Soll/Ist-Vergleich hinsichtlich der Wanddicke und/oder des Außendurchmessers.

Im Gegensatz dazu wird nach dem aus dem Dokument D4 bekannten Verfahren der prognostizierte Außendurchmesser mit dem gemessenen Ist-Wert des Außendurchmessers verglichen, um im Falle einer Abweichung das für die Prognose herangezogene Extrudermodell zu korrigieren. Ein Vergleich des prognostizierten Wertes mit dem Soll-Wert des Außendurchmessers und eine darauf aufbauende Anpassung der Schneckendrehzahl und/oder der Liniengeschwindigkeit, wie anspruchsgemäß vorgesehen, ist weder im Dokument D4 offenbart noch aus einer anderen der im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen bekannt. Somit kann der vorliegende Stand der Technik die im Anspruch 1 des Hauptantrags definierte Lösung nicht nahelegen, weshalb sie auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ 1973 beruht.

4. Zurückverweisung

Im Rahmen der Diskussion des Hauptantrags behandelt die angefochtene Entscheidung die mangelnde Neuheit von Anspruch 1. Aus den oben genannten Gründen teilt die Kammer diesen Einwand der Prüfungsabteilung nicht und beurteilt den Gegenstand von Anspruch 1 nach dem Hauptantrag als neu und erfinderisch. Damit ist angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Ihr Ermessen nach Artikel 111 (1) EPÜ 1973 übt die Kammer dahingehend aus, die Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zur Fortsetzung des Prüfungs­verfahrens auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 10 des geltenden Hauptantrags, insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ 1973 und

Regel 27 EPÜ 1973, zurückzuverweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens zurückverwiesen.

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