T 0639/11 () of 10.2.2015

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T063911.20150210
Datum der Entscheidung: 10 Februar 2015
Aktenzeichen: T 0639/11
Anmeldenummer: 03785648.1
IPC-Klasse: A61K 9/00
A61K 9/72
A61K 31/46
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: TIOTROPIUMHALTIGE PULVERFORMULIERUNG FÜR DIE INHALATION
Name des Anmelders: Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: NORTON HEALTHCARE LIMITED
Kammer: 3.3.07
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Spät eingereichte Beweismittel
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die in der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2010 verkündete und am 17. Januar 2011 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 1567135 zu widerrufen.

II. Das Patent war zuvor mit neun Ansprüchen erteilt worden.

III. Gegen die Erteilung des Patents wurde ein Einspruch eingelegt. Als Einspruchsgründe wurden fehlende Neuheit und fehlende erfinderische Tätigkeit unter Artikel 100 a) EPÜ sowie mangelnde Ausführbarkeit unter Artikel 100 b) EPÜ angeführt.

IV. Im Verlauf des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens wurden u.a. die folgenden Veröffentlichungen genannt:

D1: WO 02/30389 A1

D3: X.-M. Zeng et al.: Particulate interactions in dry powder formulations for inhalation, Taylor & Francis, London/New York 2001, Seiten 157 bis 158

D6: X.-M. Zeng et al.: Particulate interactions in dry powder formulations for inhalation, Taylor & Francis, London/New York 2001, Seiten 234 bis 236

D7: Int. Journal of Pharmaceutics 154, 31-37 (1997)

D8: J. Pharm. Sciences 90(9), 1424-1434 (2001)

D13: EP 1 238 661 A1

D25: X.-M. Zeng et al.: Particulate interactions in dry powder formulations for inhalation, Taylor & Francis, London/New York 2001, Seiten 43 bis 47

D26: X.-M. Zeng et al.: Particulate interactions in dry powder formulations for inhalation, Taylor & Francis, London/New York 2001, Seiten 136 bis 138

D27: J. Pharm. Sciences 86(1), 1-12 (1997)

D28: Int. Journal of Pharmaceutics 207, 57-64 (2000)

V. Der angefochtenen Entscheidung liegt ein geänderter Anspruchssatz mit insgesamt acht Ansprüchen zugrunde, der von der Patentinhaberin mit Schreiben vom 7. Dezember 2009 als einziger Antrag eingereicht wurde. Anspruch 1 dieses Antrags hat den folgenden Wortlaut:

"1. Abgepackte Inhalationspulver enthaltend 0,001 bis 3% Tiotropium im Gemisch mit Lactosemonohydrat als physiologisch unbedenklichem Hilfsstoff, dadurch gekennzeichnet, dass der Hilfsstoff eine mittlere Teilchengröße von 10 - 50 µm, einen 10 %-Feinanteil von 0,5 bis 6 µm, eine Lösungsenthalpie von >= 50 J/g sowie eine spezifische Oberfläche von 0,1 bis 2 m**(2)/g aufweist, wobei eine Einzeldosis in ein Pulverreservoir abgefüllt ist, und die Pulverreservoire aus einem Material aus synthetischem Kunststoff bestehen."

VI. In der Sache kam die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand der geänderten Ansprüche nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Die Erfordernisse der Ausführbarkeit, Klarheit und Neuheit seien ebenfalls erfüllt.

Die Entgegenhaltung D1 betreffend Inhalationspulver enthaltend Tiotropium im Gemisch mit einem Hilfsstoff, insbesondere Lactosemonohydrat, sei nächstliegender Stand der Technik. Im Unterschied zu D1 sei im vorliegenden Anspruch 1 eine Untergrenze von mindestens 50 J/g für die Lösungsenthalpie von Lactosemonohydrat angegeben, wobei die Lösungsenthalpie ein Maß für den Anteil an amorphen Bereichen im Hilfsstoff darstelle. Die auf diesem Merkmal beruhende technische Wirkung bestehe in einer Verminderung des unter Feuchtigkeits­einfluss stattfindenden Kristallwachstums. Die objektive technische Aufgabe bestehe darin, eine Inhalationspulverformulierung mit Lactosemonohydrat bereitzustellen, die eine verringerte Kristallisations­neigung aufweise. Dem Fachmann sei aus dem allgemeinen Fachwissen - wie in Dokument D25 dargestellt - bekannt, dass amorphe Bereiche empfindlich gegenüber Feuchtig­keit seien und rekristallisieren könnten. Somit liege es nahe, den Anteil amorpher Bereiche gering zu halten, um Veränderungen der Partikel weitgehend zu vermeiden. Bei dem in Anspruch 1 definierten Bereich für die Lösungsenthalpie handle es sich eigentlich um einen willkürlich gewählten Bereich niedriger Amorphizität des Lactosemonohydrats, wobei die Korrelation dieser beiden Größen aus Dokument D28, Abbildung 4 zu entnehmen sei. Daher sei der beanspruchte Gegenstand nicht erfinderisch.

VII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Mit der Beschwerde-begründung vom 27. Mai 2011 erhielt sie den Antrag vom 7. Dezember 2009 als Hauptantrag aufrecht und legte, neben einem weiteren Anspruchssatz als Hilfsantrag, auch Angaben zu Vergleichsversuchen vor.

Der Hilfsantrag unterscheidet sich vom Hauptantrag lediglich darin, dass in Anspruch 1 nach der Angabe des Bereichs für die spezifische Oberfläche die folgende Passage eingefügt wurde: "wobei der verwendete Hilfsstoff kein Hilfsstoffgemisch ist, das durch Mischen von Hilfsstofffraktionen unterschiedlicher mittlerer Teilchengröße erhalten wurde,".

VIII. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK erläuterte die Kammer unter anderem ihre vorläufige Einschätzung betreffend die erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Entgegenhaltung D1. In diesem Zusammenhang wies die Kammer darauf hin, dass die in der Beschwerdebegründung auf den Seiten 7 ff beschriebenen Versuche keine Rückschlüsse auf eine durch die Auswahl der Untergrenze der Lösungsenthalpie bedingte technische Wirkung erlaubten, weil die untersuchten Proben im Hinblick auf die in Anspruch 1 genannten Parameter nicht vollständig beschrieben seien. Somit könne nicht bestätigt werden, dass bei dem beschriebenen Vergleich nur die Lösungs­enthalpie als einziges Merkmal verändert worden sei.

IX. Mit Schreiben vom 16. Januar 2015 legte die Beschwerde­führerin ergänzende Daten zu ihren Vergleichsversuchen vor.

X. Eine mündliche Verhandlung fand am 10. Februar 2015 statt.

XI. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung verspätet vorgelegter Daten

Der Bericht über die Vergleichsversuche sei von der Beschwerdeführerin zuvor bereits im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 7. Dezember 2009 vorgelegt worden. Weder die Beschwerdegegnerin noch die Einspruchs­abteilung hätten in Frage gestellt, dass die darin beschriebenen erfindungsgemäßen Formulierungen die in Anspruch 1 definierten Merkmale erfüllten. Dieser Aspekt sei erstmalig in der Mitteilung der Kammer angesprochen worden. Die in Reaktion auf besagte Mitteilung mit Schreiben vom 16. Januar 2015 vorgelegten zusätzlichen Daten ergänzten lediglich die zu den Vergleichsversuchen bereits vorhandenen Angaben und änderten nichts an dem der Diskussion zur erfinderischen Tätigkeit zugrundeliegenden Sachverhalt. Daher spreche nichts dagegen, die ergänzenden Daten im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen.

Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag

Ausgehend von der Entgegenhaltung D1 als dem nächstliegenden Stand der Technik sei die technische Aufgabe in der Bereitstellung von tiotropiumhaltigen Inhalationspulvern zu sehen, die ein verbessertes Entleerungsverhalten zeigten und eine Applikation des Wirkstoffs mit höherem inhalierfähigem Anteil ermöglichten. Diese vorteilhaften Wirkungen würden erfindungsgemäß dadurch erzielt, dass für die Lösungsenthalpie des als Hilfsstoff eingesetzten Lactosemonohydrats eine Untergrenze von 50 J/g gelte. Der Zusammenhang zwischen Lösungsenthalpie und Entleerungsverhalten bzw. inhalierfähigem Wirkstoff­anteil sei durch die mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Vergleichsversuche bewiesen. Weder in der Entgegenhaltung D1 noch im weiteren bekannten Stand der Technik werde ein solcher Zusammenhang nahegelegt.

Außerdem sei die Auffassung der Beschwerdegegnerin, die Lösungsenthalpie diene lediglich im Rahmen des bekannten Fachwissens als Maß für die Kristallinität bzw. das Vorhandensein amorpher Bereiche im Material, unzutreffend. Unter anderem bestehe auch deshalb keine einfache Korrelation dieser Größen, weil neben der alpha-Form auch die kristalline beta-Form der Lactose vorliegen könne, die eine andere Lösungsenthalpie aufweise. Tatsächlich sei die Wahl einer hohen Lösungsenthalpie im Rahmen der Erfindung unabhängig vom Vorhandensein amorpher Strukturen im Hilfsstoff wesentlich, um Änderungen der Korngröße des Hilfsstoffs in der Formulierung zu begegnen und ein zu starkes Partikelwachstum zu verhindern. Dies sei aus bereits im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 7. Dezember 2009 (Seiten 3 bis 6) vorgelegten Experimenten erkennbar. Infolgedessen leiste auch die erzielte Stabilisierung der Partikel einen Beitrag zur erfinderischen Tätig­keit, da diese technische Wirkung überraschenderweise nicht von der Kristallinität des Materials abhänge.

Hilfsantrag

Durch die Vermeidung eines Mischvorgangs bei der Herstellung des Hilfsstoffs werde gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrags der zusätzliche Vorteil erzielt, dass der Hilfsstoff durch ein weniger aufwendiges Herstellungs­verfahren gewonnen werde und dass die Partikelgrößen­verteilung homogener sei. Eine bimodale Verteilung werde im Unterschied zu dem in D1 beschriebenen Hilfsstoffgemisch vermieden.

XII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung verspätet vorgelegter Daten

Die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 16. Januar 2015 vorgelegten zusätzlichen Daten hätten bereits im Einspruchsverfahren zusammen mit der Beschreibung der durchgeführten Vergleichsversuche vorgelegt werden müssen. Weil diese Daten jedoch offenbar von der Beschwerdeführerin zurückgehalten und schließlich erst wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren nachgereicht worden seien, habe der Beschwerdegegnerin zu wenig Zeit für eine angemessene Reaktion zur Verfügung gestanden.

Wie allgemein bekannt sei, müsse ein Vergleichsversuch zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit zeigen, dass die angebliche technische Wirkung eindeutig auf das Unterscheidungsmerkmal des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik zurückgehe. Somit habe der Einwand der Kammer, ein solcher Zusammenhang sei wegen fehlender Angaben nicht nachvollziehbar, für die Beschwerdeführerin keine Überraschung darstellen können. Im übrigen seien die zusätzlichen Daten auch nicht prima facie relevant, da durch sie lediglich bestätigt werde, dass im Rahmen der durchgeführten Vergleichsversuche mehrere Parameter verändert worden seien. Aus diesen Gründen seien die verspätet vorgelegten Daten nicht in das Verfahren zuzulassen.

Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag

Die in Anspruch 1 für den Hilfsstoff Lactosemonohydrat definierte Untergrenze der Lösungsenthalpie von 50 J/g stelle ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den im nächstliegenden Stand der Technik D1 offenbarten Inhalationspulvern dar. Dabei sei anzuerkennen, dass dieses Merkmal zu einer Verbesserung der Lager­stabilität des Inhalationspulvers und zu einer Erhöhung des inhalierbaren Wirkstoffanteils bei der Anwendung führe.

Die technische Aufgabe, eine gute Lagerstabilität der Inhalationspulver zu erzielen, sei auf der Grundlage des allgemeinen Fachwissens (illustriert durch die Dokumente D25 bis D27) durch die Auswahl von kristallinem Hilfsstoffmaterial mit einem möglichst geringen Anteil an amorphen Bereichen auf nicht erfinderische Weise gelöst worden. In Absatz [0024] der Patentspezifikation werde ausdrücklich erwähnt, dass die Lösungsenthalpie des Hilfsstoffs als Maß für dessen Kristallinität diene. Die Korrelation zwischen Kristallinität und Lösungsenthalpie von Lactose­monohydrat sei wiederum aus der Veröffentlichung D28 bekannt. Es gebe keinen Grund, anzunehmen, dass beta-Lactose in relevanten Mengen in Lactosemonohydrat enthalten sei, das bekanntermaßen in der kristallinen alpha-Form vorliege.

Im Rahmen der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Vergleichsversuche seien mehrere Parameter variiert worden, die einen Einfluss auf die Interaktion zwischen den im Inhalationspulver vorhandenen Partikeln und damit auch auf den bei der Applikation erreichbaren inhalierbaren Wirkstoffanteil haben könnten. Deshalb seien diese Versuche nicht geeignet, einen Zusammenhang zwischen der Lösungsenthalpie und dem inhalierbaren Wirkstoffanteil zu beweisen. Da ein durch eine hohe Lösungsenthalpie gekennzeichneter kristalliner Hilfsstoff aufgrund des geringen Anteils an aktiven amorphen Bereichen kaum Interaktion mit den Wirkstoff­partikeln aufweisen könne, was die Möglichkeit des Anhaftens von Wirkstoff an den Hilfsstoffpartikeln begrenze, sei ein solcher Zusammenhang jedoch aus dem allgemeinen Fachwissen und dem entsprechenden Stand der Technik abzuleiten (so beispielsweise aus den Veröffentlichungen D7 und D25). Damit sei dieser Zusammenhang aber nicht nur glaubhaft, sondern auch für den Fachmann naheliegend.

Hilfsantrag

Das in Anspruch 1 des Hilfsantrags eingefügte zusätzliche Merkmal betreffend die Vermeidung eines Mischvorgangs führe nicht zu einer Änderung des Anspruchsumfangs und könne daher nichts zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit beitragen.

XIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents auf der Basis des mit Schreiben vom 07. Dezember 2009 eingereichten Anspruchssatzes (Hauptantrag) oder des mit Schreiben vom 27. Mai 2011 eingereichten Hilfsantrags.

XIV. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde. Sie beantragte darüber hinaus, die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 16. Januar 2015 eingereichten Daten nicht in das Verfahren zuzulassen.

Entscheidungsgründe

1. Zulassung verspätet vorgelegter Daten

1.1 In Ergänzung der mit den Seiten 7 bis 10 der Beschwerdebegründung vorgelegten Beschreibung von Vergleichsversuchen wurden zusätzliche Daten zur Beschaffenheit der untersuchten Materialien nach­träglich von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 16. Januar 2015 eingereicht. Gemäß Artikel 13(1) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung zuzulassen und zu berücksichtigen.

1.2 Im vorliegenden Fall hatte die Beschwerdegegnerin zunächst zu den fraglichen Vergleichsversuchen, die eine Beziehung zwischen der Lösungsenthalpie des Hilfsstoffs und dem inhalierbaren Wirkstoffanteil zeigen sollen, nicht Stellung genommen.

In einer schriftlichen Mitteilung (s.o. Punkt VIII.) wies die Kammer darauf hin, dass die in den Vergleichs­versuchen untersuchten Materialien nicht vollständig im Hinblick auf die in Anspruch 1 genannten Parameter charakterisiert seien und dass sich deshalb nicht bestätigen lasse, dass die Lösungsenthalpie das einzige Merkmal sei, welches bei dem Vergleich variiert worden sei. Da dieser Aspekt im vorherigen Verlauf des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens offenbar nie zur Sprache gekommen war, kann die Eingabe der Beschwerde­führerin vom 16. Januar 2015 als direkte Reaktion auf die Mitteilung der Kammer angesehen werden.

Durch die ergänzenden Angaben ergibt sich kein zusätzlicher unzumutbarer Aufwand bei der Beurteilung der Vergleichsversuche. Die Beschwerdegegnerin hatte dementsprechend auch offenbar keine Schwierigkeiten damit, die zusätzlichen Informationen auszuwerten und zu ihnen Stellung zu nehmen, wie ihre Ausführungen zur Relevanz zeigen (s.o. Punkt XII.).

1.3 Daher hat die Kammer entschieden, ihr Ermessen gemäß Artikel 13(1) VOBK dahingehend auszuüben, die verspätet vorgelegten Daten in das Verfahren zuzulassen.

2. Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag

Streitpatent

2.1 Das Streitpatent betrifft tiotropiumhaltige Inhalationspulver. Die Pulver sollen homogen sein, und die Freisetzung des inhalierfähigen Anteils des Wirkstoffs soll reproduzierbar in gleichbleibend hohen Mengen erfolgen (Absatz [0004] bis [0011] der Patentspezifikation).

2.2 Um diese Eigenschaften zu erzielen, soll das Inhalationspulver 0,001 bis 3 % Tiotropium im Gemisch mit einem physiologisch unbedenklichen Hilfsstoff enthalten, welcher eine mittlere Teilchengröße von 10-50 mym, einen 10%-Feinanteil von 0,5 bis 6 mym sowie eine spezifische Oberfläche von 0,1 bis 2 m**(2)/g aufweist. Laut Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags ist dieser Hilfsstoff Lactosemonohydrat mit einer Lösungs­enthalpie von mindestens 50 J/g. Weiter ist vorgesehen, dass eine Einzeldosis in ein Pulverreservoir aus synthetischem Kunststoff abgefüllt ist.

Nächstliegender Stand der Technik

2.3 Die Verfahrensbeteiligten stimmen darin überein, dass die Entgegenhaltung D1, die auch in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung genannt wird, nächstliegender Stand der Technik ist. Die Kammer hat keinen Anlass, für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit einen anderen Ausgangspunkt zu wählen.

2.4 Ähnlich zum Streitpatent (Absatz [0004] bis [0011]) hat auch D1 es sich zur Aufgabe gesetzt, ein tiotropium­haltiges Inhalationspulver bereitzustellen, welches bei guter Dosiergenauigkeit, geringer Chargenvariabilität und gutem Entleerungsverhalten der Kapseln (Pulverreservoire) die Applikation des Wirkstoffs mit hohem inhalierfähigem Anteil erlaubt (D1: Seite 2, Absatz 2).

2.5 Ebenso wie das Streitpatent beschreibt die Entgegen­haltung D1 Inhalationspulver enthaltend Tiotropium im Gemisch mit einem physiologisch unbedenklichen Hilfsstoff, wobei Lactosemonohydrat als besonders bevorzugter Hilfsstoff genannt wird (D1: Anspruch 1; Seite 4, Zeile 31). Der Hilfsstoff besteht gemäß D1 aus einem Gemisch von gröberem Hilfsstoff mit einer mittleren Teilchengröße von 15 bis 80 mym und feinerem Hilfsstoff mit einer mittleren Teilchengröße von 1 bis 9 mym, wobei der Anteil von feinerem Hilfsstoff an der Gesamthilfsstoffmenge 1 bis 20% beträgt (D1: Anspruch 1). In den Ausführungsbeispielen von D1 wird als gröberer Hilfsstoff Lactosemonohydrat für Inhalationszwecke ("200M") eingesetzt, als feinerer Hilfsstoff ein aus diesem hergestelltes mikronisiertes Material (D1: Seite 8, Zeilen 19 bis 25). In Beispiel 4 von D1 wird eine Polyethylenkapsel als Pulverreservoir verwendet. Die Lösungsenthalpie wird in der Entgegen­haltung D1 nicht als Parameter erwähnt.

Technischer Hintergrund

2.6 In der Entgegenhaltung D1 (Seiten 1 bis 2) wie auch im Streitpatent (Absatz [0005]) wird erläutert, dass bei Wirkstoffen mit hoher Wirksamkeit wie Tiotropium eine Verdünnung mit geeigneten Hilfsstoffen als Träger­material im Inhalationspulver erforderlich ist. Aufgrund des hohen Anteils an Hilfsstoff werden die Eigenschaften des Inhalationspulvers maßgeblich durch die Eigenschaften des Hilfsstoffs beeinflusst, wobei dessen Korngröße eine besonderer Bedeutung zukommt.

2.7 Gemäß der Entgegenhaltung D1 soll der verwendete Hilfsstoff vorteilhaft sowohl gröbere als auch feinere Partikel enthalten. Dementsprechend wird eine grob­körnige Fraktion (mittlere Teilchengröße: 15 bis 80 mym) mit einer feinkörnigen Fraktion (mittlere Teilchen­größe: 1 bis 9 mym) vermischt. Auch gemäß der Lehre des Streitpatents liegen gröbere Hilfsstoff­partikel (die mittlere Teilchengröße ist 10 bis 50 mym) neben feineren Partikeln vor (der 10%-Feinanteil des Hilfsstoffs liegt bei einem Wert zwischen 0,5 und 6 mym).

2.7.1 Sowohl in D1 (Seite 1, Zeile 30 bis Seite 2, Zeile 8) als auch im Streitpatent (Absatz [0005]) wird fest­gestellt, dass die Fließeigenschaften um so schlechter sind, je feiner die Körnung des Hilfsstoffs ist. Dementsprechend sorgt die grobkörnige Fraktion des Hilfsstoffs für eine ausreichende Fließfähigkeit des Materials, die für die Dosiergenauigkeit bei der Abfüllung und Abteilung der einzelnen Präparatedosen sowie für die vollständige Entleerung der Kapseln bzw. Pulverreservoire wesentlich ist (siehe auch D8: Seite 1425, Spalte 1, Zeilen 11 bis 15, wo ausgeführt wird, dass die Erzielung einer guten Fließfähigkeit ein Hauptgrund für die Verwendung von grobem Trägermaterial in Inhalationspulvern ist).

2.7.2 Weiter wird sowohl in D1 als auch im Streitpatent erwähnt, dass die Korngröße des Hilfsstoffs starken Einfluss auf den ausgebrachten inhalierbaren Anteil des Wirkstoffpulvers hat.

Unter dem inhalierbaren oder inhalierfähigen Wirkstoffanteil werden diejenigen Teilchen verstanden, die beim Inhalieren mit der Atemluft tief in die Verästelungen der Lunge transportiert werden (siehe Streitpatent Absatz [0005]; D1: Seite 2, Zeilen 9 bis 12). Die hierzu erforderliche Teilchengröße liegt zwischen 1 und 10 mym, gemäß Streitpatent und D1 vorzugsweise unter 6 mym.

In diesem Zusammenhang ist aus dem Stand der Technik in D3, D8 und D13 zu entnehmen, dass das Vorhandensein einer feineren Fraktion im Trägermaterial (Hilfsstoff) den bei Applikation eines Inhalationspulvers erzielten inhalierbaren Wirkstoffanteil erhöht (vgl. D3: Seiten 157 bis 158; D8: Seite 1425, Spalte 1, Zeilen 8 bis 18; D13: Seite 5, Zeilen 23 bis 31). Dies wird darauf zurückgeführt, dass die feinen Hilfsstoff­partikel an der Oberfläche der gröberen Partikel anhaften und dadurch weniger Wirkstoff anhaften kann.

2.7.3 Die gemäß D1 und gemäß dem Streitpatent verwendete Kombination von gröberen mit feineren Hilfsstoff­partikeln dient also dazu, einerseits eine gute Fließfähigkeit durch die Verwendung von gröberen Partikeln zu gewährleisten und andererseits mit Hilfe der Feinpartikel einen hohen inhalierbaren Wirkstoffanteil zu erzielen.

Unterscheidungsmerkmal und technische Wirkung

2.8 Laut Beschwerdeführerin beruht die Erfindung auf der Wahl des Bereichs der Lösungsenthalpie für Lactose­monohydrat, die laut Anspruch 1 mindestens 50 J/g betragen soll.

2.9 Als vorteilhafte technische Wirkungen, die auf dieses Merkmal zurückgehen sollen, wurden im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren eine bessere Stabilität des Inhalationspulvers durch Verminderung der Neigung zum Partikelwachstum, ein verbessertes Entleerungsverhalten aus dem Pulverreservoir sowie eine Erhöhung des inhalierfähigen Wirkstoffanteils bei Applikation des Pulvers genannt.

2.10 Stabilität durch vermindertes Partikelwachstum

2.10.1 Im Streitpatent (Absatz [0024]) wird angegeben, dass bevorzugt Hilfsstoffe hoher Kristallinität verwendet werden sollen, wobei die Kristallinität anhand der Lösungsenthalpie beurteilt werden kann. Insbesondere soll Lactosemonohydrat als bevorzugter Hilfsstoff bevorzugt eine Lösungsenthalpie von >= 50 J/g aufweisen.

2.10.2 Aus der Veröffentlichung D28 ist zu entnehmen, dass dies einem weitgehend kristallinen Material von alpha-Lactosemonohydrat entspricht (D28: Seite 58, Spalte 2, Zeilen 33 bis 37; Absatz 2.1-2.2; Absatz 3.1 und Abbildung 4). Es gehört zum allgemeinen Fachwissen, dass das Vorhandensein amorpher Bereiche die Sorption von Wasser begünstigen kann und zu einer Veränderung der Oberfächeneigenschaften sowie zu verstärktem Partikelwachstum bzw. zur Aggregation von Partikeln führen kann. Kristallines Material weist demgegenüber eine verbesserte Lagerstabilität auf und wird deshalb generell bevorzugt (vgl. auch D25: Seite 47, D26: Seiten 137 bis 138; D27: Seite 8, Spalte 2, Zeilen 7 bis 16).

2.10.3 Durch den in Abbildung 2 der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Vergleich, wonach bei Lagerung bei 60 bis 65% relativer Feuchte Chargen von Lactosemonohydrat mit über 55 J/g Lösungsenthalpie (entsprechend fast 100%igem kristallinem alpha-Lactosemonohydrat) ein deutlich geringeres Partikelwachstum zeigten als eine Charge mit 46,5 J/g, wird das bekannte Fachwissen bestätigt.

2.10.4 Infolgedessen ist es glaubhaft, dass die anspruchs­gemäßen Inhalationspulver aufgrund der über die Lösungsenthalpie definierten Kristallinität des Hilfsstoffs eine gute Lagerstabilität mit geringem Partikelwachstum, d.h. konstant bleibende Eigenschaften des Pulvers, aufweisen.

2.11 Inhalierbarer Wirkstoffanteil und Entleerungsverhalten

2.11.1 Die Beschwerdeführerin hat mit der Beschwerde­begründung, ergänzt durch die mit Schreiben vom 16. Januar 2015 vorgelegten Angaben, Vergleichsversuche eingereicht, die zeigen sollen, dass die Wahl der Lösungsenthalpie des Lactosemonohydrats von mindestens 50 J/g zu einem verbesserten Entleerungsverhalten aus dem Pulverreservoir führt und den inhalierfähigen Wirkstoffanteil erhöht (vgl. Tabellen auf Seite 8 der Beschwerdebegründung und Seite 2 des Schreibens vom 16. Januar 2015).

2.11.2 Die für die Diskussion relevanten Angaben zu den Vergleichsversuchen stellen sich wie folgt dar:

Probe |Lösungs-enthalpie[J/g]|mittlereTeilchen-größe [mym]|10%-Fein-anteil[mym]|spezif.Oberfläche[m**(2)/g]|Tiotropium / Lactose[myg/mg]|

V2 |<46,5 |26,6 |2,3 |0,3-1,5 |11/10 |

V3 |<46,5 |22,6 |2,0 |0,3-1,5 |11/10 |

V4 |<46,5 |18,1 |1,9 |0,3-1,5 |11/10 |

E1 |54,8 |16 |2,1 |1,0 |9/5,5 |

E2 |55,9 |14 |2,2 |0,8 |9/5,5 |

E3 |56,1 |18 |2,4 |0,6 |9/5,5 |

Zur Zusammensetzung der Vergleichsproben wurde außerdem angegeben, dass die im Handel erhältliche Qualität "200M"-Lactose mit mikronisierter Lactose gemischt wurde, und zwar im Verhältnis 95% zu 5% (V2), 90% zu 10% (V3) und 85% zu 15% (V4). Die erfindungsgemäßen Proben wurden mit "Granulac 230" (E1), "Lactochem Super Fine Powder" (E2) und "Lactochem Extra Fine Powder" (E3) angegeben. Alle Proben waren in Kapseln aus Polyethylen abgefüllt. Die inhalierbare Dosis wurde auf Basis des Arzneibuchtests für Inhalativa (Europäisches Arzneibuch, 6. Auflage 2008, Pharm. Eur. 2.9.18 bzw. USP30-NE25 <601>) mittels des im Streitpatent offenbarten Inhalators (Abbildung 1) mit folgenden Ergebnissen bestimmt (vgl. die Seiten 7 und 8 der Beschwerdebegründung):

Probe |nominale Dosis[myg] |inhalierbareWirkstoffdosis[myg]|inhalierbarer Wirkstoffanteil[%]|

V2 |11 |2,8 |25,8 |

V3 |11 |3,2 |29,4 |

V4 |11 |3,0 |27,3 |

E1 |9 |3,1 |34,3 |

E2 |9 |3,3 |36,6 |

E3 |9 |3,2 |35,6 |

Laut Beschwerdeführerin soll insbesondere der Vergleich der Ergebnisse der Vergleichsprobe V4 mit der erfindungsgemäßen Probe E3, die beide eine mittlere Teilchengröße von 18 mym aufweisen, die behauptete Verbesserung beweisen.

2.11.3 Allerdings kann auch bei dem Vergleich zwischen V4 und E3 nicht ausgeschlossen werden, dass neben der Lösungsenthalpie noch andere mögliche Einflussgrößen variiert wurden. Insbesondere wurde offenbar die spezifische Oberfläche der Vergleichsproben nicht bestimmt, so dass nur ein allgemeiner Bereich von 0,3 bis 1,5 m**(2)/g angegeben werden konnte. Damit lässt sich nicht feststellen, ob und wie sehr sich der Wert für die spezifische Oberfläche der Vergleichsprobe von dem der erfindungsgemäßen Probe (angegeben mit 0,6 m**(2)/g) unterscheidet. Außerdem wurde bei dem Vergleich auch das Mengenverhältnis von Wirkstoff zu Hilfsstoff verändert.

Diese Größen können durchaus einen Einfluss auf die Interaktion der Partikel im Inhalationspulver haben und damit darauf, ob und wie stark die Wirkstoffpartikel an der Oberfläche von Hilfsstoffpartikeln oder in Aggregaten festgehalten werden bzw. in welchem Ausmaß sie als freie inhalierbare Partikel vorliegen (vgl. z.B. D6: Seite 234, Absatz 7.4.1; D8: Seite 1425, Spalte 1, Zeilen 36 bis 47). Weiterhin wurden von vornherein unterschiedliche Materialien, nämlich die im Handel erhältlichen Qualitäten "200M" und "Lactochem Extra Fine Powder" verwendet, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich dadurch weitere Unterschiede (beispielsweise bei der Oberflächen-struktur) ergeben.

Angaben, die sich direkt auf das Entleerungsverhalten der untersuchten Pulverformulierungen beziehen, sind nicht vorhanden.

Infolgedessen erlaubt der von der Beschwerdeführerin beschriebene Vergleich nach Auffassung der Kammer keine eindeutigen Rückschlüsse auf den Einfluss der Lösungs­enthalpie auf Entleerungsverhalten und inhalierbaren Wirkstoffanteil und belegt jedenfalls keine Verbesserung dieser Eigenschaften im Vergleich mit den in D1 beschriebenen Formulierungen.

Technische Aufgabe und Lösung

2.12 In Anbetracht der Analyse der technischen Wirkungen ist dann ausgehend von der Entgegenhaltung D1 die technische Aufgabe darin zu sehen, weitere Inhalationspulverformulierungen auf der Grundlage von Tiotropium und Lactosemonohydrat mit zufriedenstellendem inhalierbarem Wirkstoffanteil bereitzustellen, die außerdem bezüglich der Pulvereigenschaften stabilisiert sind.

2.13 Die Aufgabe wurde gelöst durch die anspruchsgemäßen Zubereitungen enthaltend Lactosemonohydrat mit einer Lösungsenthalpie von mindestens 50 J/g.

Naheliegen der Lösung

2.14 Gemäß den Ausführungsbeispielen der Entgegenhaltung D1 wurden Inhalationspulver mit gröberen und feineren Hilfsstoffanteilen hergestellt, wobei die feineren Anteile durch Mikronisieren erhalten wurden.

2.15 Aus dem Stand der Technik war bekannt, dass Verarbeitungsschritte wie insbesondere das Mikronisieren zur Entstehung amorpher Bereiche auf der Oberfläche der Partikel führen können. Diese sind nicht erwünscht, da sie die Interaktion zwischen den Partikeln verändern und die Stabilität beeinträchtigen können (vgl. Punkt 2.10.2 sowie D8: Seite 1425, Spalte 1, Zeilen 20 bis 30; D25: Seite 47, Zeilen 1 bis 29; D26: Seite 137, Zeilen 14 bis 20 und Seite 137, Zeile 29 bis Seite 138, Zeile 9; D28: Seite 57, "Introduction").

2.16 Wie bereits erörtert (vgl. Punkt 2.10.2), gehört es zum allgemeinen Fachwissen, dass kristallines Material eine verbesserte Lagerstabilität mit geringerem Partikel­wachstum aufweist und deshalb generell zu bevorzugen ist, wie durch die Veröffentlichungen D25 bis D27 bestätigt wird. Im Streitpatent (Absatz [0024]) wird demgemäß auch festgestellt, dass bevorzugt Hilfsstoffe hoher Kristallinität verwendet werden sollen, wobei die Kristallinität anhand der Lösungsenthalpie beurteilt werden kann. Sodann wird angegeben, dass der bevorzugte Hilfsstoff Lactosemonohydrat bevorzugt eine Lösungsenthalpie von >= 50 J/g aufweisen soll.

2.17 Die Korrelation zwischen Kristallinität und Lösungsenthalpie von Lactosemonohydrat wiederum war aus der Veröffentlichung D28 (vgl. insbesondere Abbildung 4) bekannt.

Allgemein ist bekannt, dass kristalline Lactose als alpha-Lactose in Form des Monohydrats oder als beta-Lactose in Form eines Anhydrats vorliegt. Die amorphe Form ist im Gegensatz zu den kristallinen Formen hygroskopisch (vgl. D25: Seite 44: Zeilen 5 bis 15).

In Dokument D28 (Seite 60: Absatz 3.1) wird erklärt, dass 100%iges Monohydrat eine Lösungsenthalpie (endotherm) von +56,2 J/g und 100%ige amorphe Lactose eine Lösungsenthalpie (exotherm) von -56,5 J/g aufweist. Bei Gemischen von Lactosemonohydrat mit 1% bis 10% amorpher Lactose ist die erhaltene Lösungsenthalpie endotherm und liegt zwischen +55 J/g und +46 J/g, wobei die Korrelation linear ist (D28: Abbildung 4). Bei einem Anteil von etwa 6% amorpher Lactose liegt die Lösungsenthalpie bei 50 J/g.

Dies gilt allerdings nur für Proben, die trocken gelagert wurden. Wenn die Proben in feuchter Atmosphäre gelagert wurden und vor der kalorimetrischen Messung der Lösungsenthalpie bereits Feuchtigkeit aufnehmen konnten, verschieben sich die Ergebnisse zu weniger exothermen, also zu höheren Werten (D28: Seite 61, Spalte 1 Absatz 1; Spalte 2: Absatz 2; Seite 62: Spalte 1). Laut D28 (Seite 62, Spalte 1) kommt dieser Effekt bereits durch die Sorption von Wasser zustande und erfordert nicht notwendigerweise eine Rekristallisation des amorphen Materials.

Somit könnte mit der angegebenen Untergrenze von 50 J/g für die Lösungsenthalpie ohne Angabe der Lagerungs­bedingungen die Obergrenze für den amorphen Anteil des Materials auch höher als 6% sein. Allerdings ist auch in diesem Fall eine konkrete Obergrenze für den amorphen Anteil implizit; außer dem Anteil an amorphem Material geht dabei als zweite Einflussgröße der Anteil an sorbiertem Wasser in den Endwert für die Lösungsenthalpie ein.

Die zusätzliche Überlegung der Beschwerdeführerin, dass außer alpha-Lactosemonohydrat und amorpher Lactose auch beta-Lactose in dem Material enthalten sein könnte (wobei nach Angaben der Beschwerdeführerin die Lösungs­enthalpie von 100%iger beta-Lactose bei +11 J/g liegt), ändert an diesen Erwägungen nichts. Der in Anspruch 1 spezifizierte Wert von mindestens 50 J/g bedeutet, dass sowohl der Anteil an amorpher Lactose als auch der Anteil an beta-Lactose, die beide eine niedrigere Lösungsenthalpie aufweisen, begrenzt ist, bzw. dass ein Mindestanteil des Materials als alpha-Lactosemonohydrat vorliegen muss.

2.18 Die Beschwerdeführerin hat argumentiert, die Wahl einer hohen Lösungsenthalpie führe überraschenderweise auch unabhängig von der Kristallinität des Hilfsstoffs zu stabilen Korngrößen. Hierbei bezog sie sich auf einen im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 7. Dezember 2009 (Seiten 3 bis 6) vorgelegten Versuch.

Danach wurde mikronisiertes Lactosemonohydrat, das eine Lösungsenthalpie von 46,5 J/g aufwies, einer kurz­zeitigen Stressbelastung ausgesetzt (Aufbewahrung des Pulvers für 24 Stunden bei 25°C und 65% relativer Feuchte). In den folgenden Wochen zeigte dieses Material deutliches Partikelwachstum. Wurde Lactose­monohydrat mit einer Lösungsenthalpie von 54,3 J/g oder von 54,6 J/g der gleichen Stressbelastung ausgesetzt, ergab sich über Monate hinweg kein nennenswertes Partikelwachstum. Die Beschwerdeführerin interpretierte diese Angaben dahingehend, dass die anfängliche Stressbelastung bei dem ersten Material zur Rekristallisation geführt haben müsse, so dass keine amorphen Bereiche mehr hätten vorliegen können. Infolgedessen sei es für den Fachmann überraschend, dass die Stabilität bei dem Material mit der Lösungsenthalpie von 46,5 J/g trotzdem deutlich schlechter sei.

2.19 Diesen Schlussfolgerungen kann sich die Kammer jedoch nicht anschließen, da keine Erkenntnisse darüber vorliegen, in welchem Ausmaß durch die Stressbelastung tatsächlich amorphe Bereiche entfernt wurden, und da im Anschluss an die Stressbelastung auch die Lösungs­enthalpie nicht erneut bestimmt wurde. Für die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass die Lösungs­enthalpie nicht mit der Kristallinität korrelieren würde, findet sich keine Bestätigung. Wie dem Stand der Technik zu entnehmen ist, können amorphe Bereiche, die beispielsweise bei einer Mikronisierung entstanden sind, zwar durch eine Konditionierung unter kontrollierten Bedingungen entfernt werden (vgl. D26: Seite 137: Zeilen 14 bis 20 und Seite 138, vorletzter Satz). Im vorliegenden Fall wurde aber nicht gezeigt, dass die beschriebene Stressbelastung geeignete Bedingungen für die Entfernung der amorphen Bereiche geboten hat und dass diese tatsächlich entfernt wurden.

2.20 Der Fachmann hätte aufgrund des allgemeinen Fachwissens und in Kenntnis von D28 erwartet, dass bei der Wahl von Lactosemonohydrat mit der angegebenen Lösungsenthalpie als Hilfsstoff der Anteil an bereits kristallinem alpha-Lactosemonohydrat besonders hoch sein würde und dass aufgrunddessen die Kristallisationsneigung und damit das Partikelwachstum nur gering sein würden. Aufgrunddessen wäre auch zu erwarten, dass das Pulver weniger empfindlich gegen den Einfluss von Feuchtigkeit wird und ein besser reproduzierbares Verhalten zeigt (vgl. D26: Seite 138, Zeilen 5 bis 9, 31 bis 37; D25: Seite 47, Zeilen 1 bis 29). Die erzielte Verminderung der Neigung zum Partikelwachstum (vgl. Punkt 2.10.3) ist im Hinblick auf das allgemeine Fachwissen und den bekannten Stand der Technik nicht überraschend und kann somit nicht als Grundlage für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit dienen.

2.21 Für den Fachmann hätte es auch keinen Anlass zu der Annahme gegeben, die Wahl von Lactosemonohydrat mit einer Lösungsenthalpie von mindestens 50 J/g würde im Vergleich zu D1 zu einer Verschlechterung bezüglich des inhalierbaren Anteils führen. Aus dem Stand der Technik ist vielmehr abzuleiten, dass durch eine Reduzierung des Anteils amorpher Bereiche die Interaktion zwischen den Partikeln, also auch die Interaktion des Hilfsstoffs mit den Wirkstoffpartikeln, reduziert würde (D25: Seite 47, Zeilen 25 bis 29), was dafür sprechen würde, dass die Freisetzung von inhalierfähigem Wirkstoff eher begünstigt werden könnte. Daher bestand kein technisches Vorurteil, das den Fachmann vom Einsatz von Lactosemonohydrat mit einer Lösungsenthalpie von mindestens 50 J/g abgehalten hätte.

2.22 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

3. Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag

3.1 In Anspruch 1 des Hilfsantrags wurde ein auf die Herstellung des in dem beanspruchten Erzeugnis eingesetzten Hilfsstoffs bezogenes negatives Verfahrensmerkmal eingefügt. Demnach soll der Hilfsstoff nicht durch Mischen von Hilfsstoff-Fraktionen unterschiedlicher mittlerer Teilchengröße erhalten worden sein.

3.2 Da der vorliegende Anspruch nicht auf ein Verfahren, sondern auf ein Erzeugnis gerichtet ist, ist ein derartiges Verfahrensmerkmal als solches nicht als technisches Merkmal des Anspruchs zu werten. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des vorliegenden Erzeugnisanspruchs kann das Herstell­verfahren des Hilfsstoffs vielmehr nur relevant sein im Hinblick auf die gegebenenfalls zwangsläufig aus ihm resultierenden technischen Merkmale des beanspruchten Erzeugnisses.

3.3 Dabei ist die eingefügte Textpassage, die den Hilfs­stoff durch eine Bedingung seines Herstellverfahrens definiert, als "product-by-process"-Merkmal dahingehend auszulegen, dass das im Anspruch definierte Inhalationspulver Lactosemonohydrat enthält, welches durch ein Verfahren erhältlich ist, das nicht das Mischen von Hilfsstoff-Fraktionen unterschiedlicher mittlerer Teilchengröße beinhaltet.

3.4 Somit ist die Frage zu beantworten, ob sich durch die Vermeidung eines solchen Mischvorgangs bei der Herstellung des Hilfsstoffs zwangsläufig bestimmte technische Merkmale des Hilfsstoffs und damit des Inhalationspulvers ergeben würden.

3.5 Laut Beschwerdeführerin bestehen für die erfinderische Tätigkeit relevante Unterschiede darin, dass der Hilfsstoff durch ein einfacheres, weniger aufwendiges Herstellungsverfahren gewonnen wird und dass die Partikelgrößenverteilung homogener ist, da keine bimodale oder multimodale Verteilung vorliegt und das Risiko einer unvollständigen Vermischung ausgeschlossen wird.

3.6 Die Kammer kann sich dieser Sichtweise jedoch aus den folgenden Gründen nicht anschließen:

3.6.1 Was den ersten Punkt betrifft, so ist eben gerade nicht die erfinderische Tätigkeit des Herstellverfahrens zu beurteilen. Der angeführte Aufwand bei der Herstellung des Hilfsstoffs stellt kein technischen Merkmal des Inhalationspulvers dar und ist daher für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des vorliegenden Erzeugnisanspruchs ohne Belang. Ergänzend könnte angemerkt werden, dass jeder Hilfsstoff, der ohne Mischvorgang hergestellt werden kann, auch in identischer Form durch Vermischen hergestellt werden kann (nämlich durch Aussieben feinerer Anteile und anschließendes Wiedervermischen).

3.6.2 Weiter hat das Vermischen von Fraktionen unterschied-licher mittlerer Teilchengröße nicht zwangsläufig zur Folge, dass die resultierende Mischung eine bimodale oder multimodale Partikelgrößenverteilung aufweist oder dass sie inhomogen wäre, zumal im vorliegenden Anspruch 1 weder der Unterschied der mittleren Teilchengröße der hypothetischen Fraktionen noch das zu vermeidende Mischverfahren näher definiert sind.

Anderseits schließt der Wortlaut des vorliegenden Anspruchs 1 wiederum nicht aus, dass auch ohne Mischverfahren eine bimodale oder multimodale bzw. inhomogene Partikelgrößenverteilung im Hilfsstoff vorliegen könnte, insbesondere da keinerlei Angaben zu dem stattdessen für den Hilfsstoff vorgesehenen Herstellverfahren gemacht werden.

3.6.3 Aus den vorhandenen Angaben lässt sich daher kein zusätzliches technisches Merkmal für das Inhalations­pulver als implizit ableiten, das ein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber D1 darstellen könnte.

3.7 Daher ändert sich nichts an den im Zusammenhang mit Anspruch 1 des Hauptantrags dargelegten Schlussfolgerungen im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit (s.o. Punkt 2.12.1 bis 2.22).

3.8 Infolgedessen beruht auch der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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