European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2015:T038111.20151009 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 09 October 2015 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0381/11 | ||||||||
Anmeldenummer: | 03010329.5 | ||||||||
IPC-Klasse: | B41F 33/10 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zum Anfahren des Fortdrucks nach einer Druckunterbrechung | ||||||||
Name des Anmelders: | Koenig & Bauer AG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | manroland AG Heidelberger Druckmaschinen AG |
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Kammer: | 3.2.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein) Unzulässige Erweiterung - Hilfsantrag II (ja) Zulässigkeit - Hilfsantrag III (ja) Klarheit und Ausführbarkeit - Hilfsantrag III (nein) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden 2 richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, dass das Patent Nr. 1 369 234 in der Fassung des ersten Hilfsantrages den Erfordernissen des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) genüge.
Die Einspruchsabteilung hat ihre Entscheidung insbesondere auf die Druckschrift E2 (EP 0 953 443) als nächstem Stand der Technik gestützt. Im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit hat sie auch die Druckschrift E5 (DE 40 13 740) zitiert.
Zusammen mit der Beschwerdebegründung hat die Einsprechende 2 die Druckschrift E8 (DE 43 12 229) eingereicht.
II. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer hat am 9. Oktober 2015 stattgefunden.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 2) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag) oder hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage der mit den Schreiben vom 4. August 2015 und vom 15. September 2015 eingereichten Hilfsanträgen II und III.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags entspricht der Fassung, von der die Einspruchsabteilung der Meinung war, sie erfülle die Erfordernisse des EPÜ. Er lautet wie folgt:
"Verfahren zum Anfahren des Fortdrucks nach einer Druckunterbrechung, bei dem während des Druckprozesses dem Plattenzylinder einer Druckmaschine Farbe zugeführt wird, derart, dass die in dem Farbkasten bevorratete Farbe über einen intermittierenden Farbheber auf ein aus mehreren Walzen bestehendes, dem Plattenzylinder zugeordnetes Farbwerk übertragen wird und dem Plattenzylinder während des Druckes über ein Feuchtwerk Feuchtwasser zugeführt wird, wobei während der Druckunterbrechung das Farbwerk nicht stillgesetzt, der Farbheber aber gesperrt und die Farbzufuhr vom Farbwerk zum Plattenzylinder sowie der Bogenlauf unterbrochen und zur Wiederaufnahme des Druckprozesses nach der Druckunterbrechung der Farbheber zugeschaltet wird, dadurch gekennzeichnet, dass der Farbheber vor dem Zuschalten des Bogenlaufs eine vorbestimmte Anzahl Hebertakte zur Übertragung von Farbe auf eine erste Walze des Farbwerkes ausführt und bei Bedarf das Feuchtwerk zugeschaltet wird."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag II unterscheidet sich von Antrag 1 gemäß Hauptantrag durch das zusätzliche Merkmal "und dass ein Zeitpunkt für den Einsatz des Feuchtwerks ebenso wie der Zeitpunkt des Einsatzes des Farbwerks aus durch eine Steuerung bereitgestellten maschinenbezogenen und jobbezogenen Daten berechnet wird".
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag III unterscheidet sich von Antrag 1 gemäß Hilfsantrag II durch das zusätzliche Merkmal: "wobei mit dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Hebertaktung oder zwischen den Zeitpunkten des Zuschaltens des Farbhebers und dem Beginn des Bogenlaufs auch das Feuchtwerk zugeschaltet wird".
V. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 2) hat Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag
Dem Gegenstand des Anspruchs 1 fehle es an der erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf eine Kombination der Lehren der Druckschrift E2 und E8.
Der von der Kammer vorgenommenen Aufspaltung der objektiven technischen Aufgabe in Teilaufgaben sei zuzustimmen. Dies liefe der Erkenntnis, dass Feuchtmittel und Farbe in Zusammenhang stünden, nicht entgegen, da die beiden Merkmale in keiner funktionellen Wechselwirkung stünden.
Es sei aus dem Wortlaut von Anspruch 1 nicht erkennbar, dass das gleiche Farbprofil aufrechterhalten werden solle; vom Farbprofil sei dort überhaupt nicht die Rede. Die Druckunterbrechung könne auch ein Bildwechsel sein. Absatz [0006] der Patentschrift mache klar, dass die Aufgabe der Erfindung darin bestehe, die Makulatur zu verringern. Im Absatz [0008] sei zudem offenbart, die Erfindung habe den Vorteil, dass die Druckmaschine schneller in Druck kommt. Genau diese beiden Aufgaben würden von der Druckschrift E8 offenbart. Dort sei zwar nur der Fall des neuen Auftrags behandelt, aber der Gegenstand von Anspruch 1 grenze sich nicht von diesem Fall ab. Der Fachmann habe keinen Grund, die Druckschrift E8 nicht zu Rate zu ziehen.
b) Hilfsantrag II
Anspruch 1 nehme nur das letzte Teilmerkmal von Absatz [0017] der Patentschrift auf. Dadurch würden die Zeitpunkte und die Abstimmung der Zeitpunkte des Einsatzes von Farbwerk und Feuchtwerk ausdrücklich offen gelassen. Es handle sich also um eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung.
c) Hilfsantrag III
Der Hilfsantrag sei nach der von der Kammer gesetzten Monatsfrist und daher verspätet vorgebracht worden. Er enthalte Merkmale aus der Beschreibung. Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Einwand der unzulässigen Erweiterung sei absehbar gewesen. Der Antrag solle daher nicht zugelassen werden. Dies verlange auch die gebotene Fairness gegenüber der Beschwerdeführerin.
Der Gegenstand von Anspruch 1 sei nicht klar, da einerseits verlangt werde, dass das Feuchtwerk "bei Bedarf" zugeschaltet werde, und andererseits, dass das Feuchtwerk auch "mit dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme ...", also auf jeden Fall, zugeschaltet werde. Hier bestehe ein innerer Widerspruch.
Die Erfindung sei auch nicht hinreichend offenbart, da der Fachmann keinerlei Hinweise bekommt, wie die Berechnung der Zeitpunkte erfolgen könne.
VI. Die Verfahrensbeteiligte (Einsprechende 1) hat Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag
Die Behauptung der Beschwerdegegnerin, dass in der Druckschrift E8 beim Auftragswechsel alles gewaschen würde, sei nicht richtig; im Farbwerk bleibe eine Farbgrundschicht erhalten, auf der dann ein Farbprofil aufgesetzt werden solle. Deshalb würde der Fachmann die Druckschrift E8 in Betracht ziehen: wenn der Fachmann ein Farbprofil im Farbwerk haben wolle, würde er in der Druckschrift E8 (Spalte 1, Zeilen 58-59) finden, dass "im Farbwerk ... eine einheitliche Grundschicht" verbleibe. Letztere sei nicht zum Druck geeignet, und deshalb müsse auf sie ein Farbprofil aufgebaut werden. Das sei gerade die Problematik, die bei einer Druckunterbrechung auftritt.
b) Hilfsantrag II
Die Verfahrensbeteiligte hat zur Frage der unzulässigen Erweiterung nicht Stellung genommen.
c) Hilfsantrag III
Im Zusammenhang mit diesem Antrag hat die Verfahrensbeteiligte nur zur erfinderischen Tätigkeit Stellung genommen: der Zeitpunkt des Zuschaltens des Feuchtwerks sei für den Fachmann naheliegend.
VII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hat Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag
Die von der Kammer in ihrem vorläufigen Bescheid vorgenommene Aufspaltung in Teilaufgaben sei nicht zutreffend. Einem Fachmann auf dem Gebiet der Druckmaschinen sei klar, dass Farbe und Feuchtmittel nicht getrennt betrachtet werden können, sondern miteinander reagieren. Die Farbe sei daher immer in Zusammenhang mit Feuchtmittel zu betrachten.
Es sei nicht zulässig, die Druckschriften E2 und E8 zu kombinieren. Anspruch 1 betreffe ein Verfahren zum Anfahren des Fortdrucks nach einer Druckunterbrechung, wobei bei der Druckunterbrechung das Farbwerk nicht stillgesetzt wird. Es handle sich also um eine Fortsetzung des Drucks desselben Bilds. Es gehe darum, das vorhandene Farbprofil beizubehalten, während die Druckschrift E8 ein neues Farbprofil herzustellen suche. Die Druckschrift E8 betreffe ganz klar einen Auftragswechsel und lehre, wie vorzugehen sei, um "in kurzer Zeit das alte Farbprofil abzubauen und ein neues Profil mit wenigen Farbwerksumdrehungen aufzubauen, um bei Auftragswechsel schneller mit dem Druck des neuen Auftrags beginnen zu können" (Spalte 1, Zeilen 36-40). Dies sei ein ganz anderer Gegenstand: im Streitpatent versuche man gerade, das alte Profil aufrechtzuerhalten. Die Teilaufgabe, die im Bescheid der Kammer und im Einspruchsverfahren zitiert wurde, sei zu kurz gegriffen; die objektive technische Aufgabe bestünde darin, bei einer Druckunterbrechung das Farbprofil aufrechtzuerhalten bzw. möglichst schnell wieder das vor der Druckunterbrechung vorhandene Farbprofil wiederherzustellen. Der Fachmann, der von der Druckschrift E2 ausgeht, würde gerade nicht die Druckschrift E8 heranziehen.
b) Hilfsantrag II
Das neu aufgenommene Merkmal sei im Absatz [0017] des Streitpatents offenbart. Es sei unabhängig von den anderen in diesem Absatz genannten Merkmalen.
c) Hilfsantrag III
Der Antrag stelle eine Reaktion auf den Einwand der Beschwerdeführerin dar und solle daher zugelassen werden.
Zur Klarheit hat die Beschwerdegegnerin nicht Stellung genommen.
Auf die Frage der Kammer, wie die Berechnung des Zeitpunkts erfolgen solle, hat die Beschwerdegegnerin erklärt, es gebe seit mindestens 30 Jahren Berechnungsmodelle für das Farbwerk. Der Ausdruck "bei Bedarf" im Anspruch 1 sei gleichbedeutend mit "zum richtigen Zeitpunkt".
Entscheidungsgründe
1. Die europäische Patentanmeldung, auf der das Streitpatent beruht, wurde am 8. Mai 2003 eingereicht. Deshalb sind im vorliegenden Fall in Anwendung von Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (Sonderausgabe Nr. 4, ABl. EPA 2007, 217) und des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (Sonderausgabe Nr. 4 ABl. EPA 2007, 219) die Artikel 56, 83 und 84 EPÜ 1973 anzuwenden.
2. Zulässigkeit der Druckschrift E8
Die Druckschrift E8 wurde erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht; ihre Zulassung zum Verfahren liegt daher im Ermessen der Kammer gemäß Artikel 12 (4) VOBK.
Die Beschwerdegegnerin hat sich nicht gegen die Zulassung der Druckschrift E8 ausgesprochen. Die Kammer sieht ebenfalls keinen guten Grund, die Druckschrift nicht zum Verfahren zuzulassen.
3. Anspruchsauslegung
3.1 "Druckunterbrechung"
Der Wortlaut von Anspruch 1 macht klar, dass während der Druckunterbrechung das Farbwerk nicht stillgesetzt wird. Es handelt sich daher um eine Druckunterbrechung, bei der die Druckplatte nicht gewechselt wird, d.h. eine Druckunterbrechung ohne Auftragswechsel.
3.2 "bei Bedarf"
Der Ausdruck "bei Bedarf" kann auf verschiedene Art und Weise verstanden werden. So ist es z.B. möglich, den Ausdruck - wie die Beschwerdeführerin - konditionell zu verstehen, also im Sinne von "falls erforderlich". Dies scheint die natürlichste Lesart zu sein. Die Beschwerdegegnerin hingegen hat den Ausdruck zeitlich verstanden, also im Sinne von "zum richtigen Zeitpunkt". Für diese Auslegung spricht, dass eine übliche Offset-Druckmaschine nicht ohne Feuchtwerk betrieben werden kann, weshalb eine Situation, in der kein Bedarf für das Feuchtwerk besteht, schwer vorstellbar ist. Da das Streitpatent keine Definition des Begriffs enthält (der Ausdruck kam nur im ursprünglichen Anspruch 1 vor und ist in der ursprünglichen Beschreibung nicht zu finden) kann keine dieser Auslegungen grundsätzlich ausgeschlossen werden.
4. Hauptantrag
4.1 Erfinderische Tätigkeit
Die Kammer hat nur die Frage zu beantworten, ob der Gegenstand von Anspruch 1 als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend zu gelten hat. Dazu bedient sie sich des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes.
4.1.1 Nächstliegender Stand der Technik
Die Einspruchsabteilung hat die Druckschrift E2 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen (Entscheidungsgründe, Punkt II.C.4, erster Absatz). Die "Beschwerdeführerin sieht die Entgegenhaltung E2 ebenfalls als nächstliegenden Stand der Technik an" (Beschwerdebegründung, Seite 1, Zeilen 9 und 10). Die Beschwerdegegnerin hat dem nicht widersprochen. Die Kammer sieht keinen guten Grund, von der Wahl der Druckschrift E2 als nächstem Stand der Technik abzugehen.
4.1.2 Unterschiede
Die Druckschrift E2 offenbart ein Verfahren zum Anfahren des Fortdrucks nach einer Druckunterbrechung (Spalte 1, Zeilen 3 bis 4: "Verfahren zum Anfahren des Fortdruckes"), bei dem dem Plattenzylinder einer Druckmaschine während des Druckprozesses Farbe zugeführt wird (siehe die einzige Abbildung), und zwar derart, dass die in dem Farbkasten (Farbkastenwalze 8.1) bevorratete Farbe über einen intermittierenden Farbheber (Heberwalze 8) auf ein aus mehreren Walzen bestehendes, dem Plattenzylinder zugeordnetes Farbwerk 7 übertragen wird.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Während der Druckunterbrechung wird das Farbwerk nicht stillgesetzt (Spalte 1, Zeilen 33 bis 39: " ... Wird dieser ... Farbtransport beispielsweise durch einen Stopper gestört - die Druckmaschine läuft mit abgestellten Farbauftragwalzen weiter -, so vergleichmäßigen die weiter laufenden Farbwalzen das den Farbtransport bedingende Farbschichtdickengefälle ..."; Unterstreichung durch die Kammer; auch implizit offenbart, da das "An- und Wiederanstellen der einzelnen Farbwalzen" des Stands der Technik für "zusätzliche Störungen", die im erfindungsgemäßen Verfahren nicht auftreten, verantwortlicht gemacht wird: Spalte 2, Zeilen 33 und 34). Der Farbheber wird aber gesperrt ("Sperren der Heberbewegung (Hebersperre)": Spalte 4, Zeile 51; siehe auch Spalte 5, Zeilen 12 bis 14) womit die Farbzufuhr vom Farbwerk zum Plattenzylinder unterbrochen ist. Auch der Bogenlauf wird unterbrochen (durch "Sperren des Vorgreifers 6 ... und der Anleger 3 wird ... stillgesetzt": Spalte 5, Zeilen 5 bis 9; die Druckschrift offenbart auch "das Wiederzuschalten des Bogenlaufs" nach Behebung der Störungsursache: Spalte 5, Zeilen 15 bis 17, was auf ein vorhergehendes Abschalten des Bogenlaufs schließen lässt). Zur Wiederaufnahme des Druckprozesses nach der Druckunterbrechung wird der Farbheber zugeschaltet (da sonst ja das Farbwerk nicht mit Farbe versorgt würde).
Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich deshalb von der Lehre der Druckschrift E2 in zwei Punkten:
- dem Plattenzylinder wird während des Druckes über ein Feuchtwerk Feuchtwasser zugeführt; und
- der Farbheber führt vor dem Zuschalten des Bogenlaufs eine vorbestimmte Anzahl Hebertakte zur Übertragung von Farbe auf eine erste Walze des Farbwerkes und bei Bedarf wird das Feuchtwerk zugeschaltet.
Die Einspruchsabteilung ist zum selben Schluss gekommen (Entscheidungsgründe, II.C.4, zweiter Absatz) und die Beschwerdeführerin teilt deren Verständnis (Beschwerdebegründung, Seite 1, letzter Satz).
4.1.3 Objektive technische Aufgabe
Nach Ansicht der Einspruchsabteilung stellen sich dem Fachmann deshalb zwei Aufgaben (Entscheidungsgründe, Punkt II.C.4, dritter bis fünfter Absatz):
"Wie kann die Feuchte im Druckwerk bei Wiederaufnahme des Druckes geregelt werden?
Wie kann ein fortdrucknahes Farbschichtdickengefälle auf den farbkastennahen Walzen erreicht werden?"
Die Beschwerdegegnerin hat die zweite Teilaufgabe darin gesehen, nach der Druckunterbrechung möglichst schnell das vor der Druckunterbrechung vorhandene Farbprofil wiederherzustellen. Die Kammer zieht diese Formulierung ebenfalls vor, da die Nähe zum Farbkasten für die vom zweiten unterscheidenden Merkmal gelöste Aufgabe nicht entscheidend ist.
4.1.4 Naheliegen
Die beiden unterscheidenden Merkmale stehen in keiner funktionellen Wechselwirkung zueinander, d.h. sie beeinflussen sich nicht gegenseitig zur Erreichung eines über die Summe ihrer jeweiligen Einzelwirkungen hinausgehenden technischen Erfolgs. Es ist also angemessen, die entsprechenden Teilprobleme unabhängig voneinander zu behandeln (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 7. Auflage, 2013, I.D.9.2.2).
Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass in einer Offset-Druckmaschine Farbe und Feuchtmittel nicht getrennt betrachtet werden können, aber das bedeutet nicht, dass zwischen dem Merkmal, dem zufolge dem Plattenzylinder während des Druckes über ein Feuchtwerk Feuchtwasser zugeführt wird und dem Merkmal, dass der Farbheber vor dem Zuschalten des Bogenlaufs eine vorbestimmte Anzahl Hebertakte zur Übertragung von Farbe auf eine erste Walze des Farbwerkes ausführt, eine funktionelle Wechselwirkung besteht. Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, wie diese Merkmale sich gegenseitig zur Erreichung eines über die Summe ihrer jeweiligen Einzelwirkungen hinausgehenden technischen Erfolgs beeinflussen könnten, und die Beschwerdegegnerin hat auch nicht dargelegt, worin eine solche Synergie bestehen soll. Daher hält die Kammer an der Formulierung der Aufgabe als Summe zweier Teilaufgaben fest.
a) Regelung der Feuchte
Die Einspruchsabteilung hat festgestellt, die Nutzung eines Feuchtwerks stelle keinen erfinderischen Schritt für den Fachmann dar (Entscheidungsgründe, II.C.4, sechster Absatz). Darüber hinaus hat sie ausgeführt:
"Die Nutzung von Feuchtwerken ist dem Fachmann ... generell bekannt und stellt allgemeines Fachwissen dar. Die E5 (Sp.2, Z.61 - Sp.3, Z.14) liefert hierfür den Beleg. Der Fachmann würde ohne erfinderisch tätig zu werden in das Verfahren ... den Schritt der Zuschaltung des Feuchtwerkes beim Wiederanfahren aufnehmen." (Entscheidungsgründe, II.B.3, zweiter Absatz)
Die Kammer kommt zur selben Schlussfolgerung. Die Verwendung eines Feuchtwerks, das die nichtdruckenden Elemente der Druckform mit einem Feuchtmittelfilm versieht, ist in der Tat seit langem im Offsetdruck üblich (siehe z.B. Helmut Kipphan, "Handbuch der Printmedien", Springer, 2000, Seite 227 ff.) und kann als solche keine erfinderische Tätigkeit begründen.
b) Farbschichtdickengefälle
Im Verfahren gemäß Druckschrift E2 wird, wie oben dargelegt (siehe Punkt 4.1.24.1.2 ), während der Druckunterbrechung das Farbwerk nicht stillgesetzt, aber der Farbheber wird gesperrt. Infolgedessen werden die Walzen des Farbwerks nicht mehr mit Farbe versorgt und die Verteilung der Farbe auf den Walzen wird immer gleichmäßiger, da der Dickengradient nicht durch Einspeisung von Farbe aufrechterhalten wird. Dies ergibt sich schon aus allgemeinen physikalischen Überlegungen und ist auch in Absatz [0014] des Streitpatents beschrieben. Daraus folgt aber, dass nach einigen Umdrehungen der Walzen das vor der Druckunterbrechung vorhandene Schichtdickenprofil durch ein anderes, gleichmäßigeres Schichtdickenprofil ersetzt wird. Um den Druck wieder aufnehmen zu können, muss dieses Schichtdickenprofil durch ein anderes - nämlich das ursprüngliche - Schichtdickenprofil ersetzt werden.
Die Druckschrift E8 "bezieht sich auf ein Verfahren zur definierten Erzeugung einer dem Fortdruck nahen Farbverteilung im Farbwerk von Rotationsdruckmaschinen bei Auftragswechsel" (Spalte 1, erster Absatz). Sie stellt sich die Aufgabe, "in kurzer Zeit ... ein neues Profil mit wenigen Farbwerksumdrehungen aufzubauen" (Spalte 1, Zeilen 35 bis 40).
Es ist richtig, dass das erfindungsgemäße Verfahren eine Druckunterbrechung ohne Auftragswechsel betrifft (siehe Punkt 3.13.1 ). Dessen ungeachtet würde der Fachmann die Lehre der Druckschrift E8 nicht allein schon deshalb als irrelevant abtun, denn er würde erkennen, dass unabhängig davon, ob es zu einem Auftragswechsel kommt oder nicht, vor Wiederaufnahme des Drucks ein bestehendes Schichtdickenprofil durch ein neues Schichtdickenprofil zu ersetzen ist. Im Falle eines Auftragswechsels ist ein komplett neues Schichtdickenprofil zu erzeugen, im Falle des Fortdrucks desselben Bilds muss das ursprüngliche Schichtdickenprofil wiederhergestellt werden. Die Aufgabenstellung ist aber im Grunde dieselbe, was den Fachmann dazu führen würde, die Lehre der Druckschrift E8 in Betracht zu ziehen.
Das Verfahren gemäß der Druckschrift E8 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
"... nach Auftragsende wird die Hebwalze des Farbwerks abgestellt, danach wird der Druck und der Papierlauf angestellt und eine geringe Anzahl von Drucken ausgeführt, danach wird der Papierlauf und der Druck abgestellt, das Gummituch gewaschen und die Druckplatte des vorhergehenden Auftrags gegen die Druckplatte des neuen Auftrags gewechselt, dann wird die Hebwalze angestellt und der Farbeinlauf des Farbwerks bei abgestelltem Druck beginnt, und danach wird der Druck und der Papierlauf für den neuen Auftrag angestellt." (Spalte 1, Zeilen 42 bis 52; Unterstreichung durch die Kammer).
Weiters offenbart die Druckschrift, dass durch das erfindungsgemäße Vorgehen beim Anfahren "mit wenigen Farbwerksumdrehungen die benötigte Farbmenge in den einzelnen Zonen gegeben ist und mit dem Drucken des neuen Auftrags begonnen werden kann" (Spalte 2, Zeilen 2 bis 5). In der Zusammenschau bedeutet das, dass vor dem Beginn des Druckens - nach der Unterbrechung - die Hebwalze angestellt wird und mehrere Hebetakte zur Übertragung der Farbe auf das Farbwerk ausführt bevor der Bogenlauf angestellt wird.
Bei der Anwendung der Lehre der Druckschrift E8 auf das Verfahren nach E2 würde der Fachmann zur Beendigung der Unterbrechung die Heberwalze 8 anstellen und das Farbwerk mehrere Umdrehungen durchführen lassen, bevor der Bogenlauf wieder aufgenommen wird.
Damit würde er aber zu einem Verfahren gelangen, in dem der Farbheber vor dem Zuschalten des Bogenlaufs mehrere Hebertakte zur Übertragung von Farbe auf die Walze 8.2 des Farbwerks ausführt, was dem kennzeichnenden Merkmal des Anspruchs 1 entspricht.
Dass bei Bedarf das Feuchtwerk zugeschaltet wird, ergibt sich auch aus der Lehre der Druckschrift E8, in der eine Abstimmung der Farbheber- und Feuchthebertakte bei Offsetdruck vorgeschlagen wird (Spalte 2, Zeilen 6 bis 14: "Zur Anwendung des erfindungsgemäßen Verfahrens im Offset-Druckverfahren wird vorgesehen, dass an einer Offset-Rotationsdruckmaschine nach Auftragsende bei abgestellter Hebwalze die Feuchtmittelzufuhr zum Plattenzylinder und nach dem Anstellen des Farbeinlaufs der Feuchtheber angestellt wird und die Feuchthebertakte so aktiviert werden, dass die Farbheber- und die Feuchthebertakte am Ende des Farbeinlaufs gemeinsam enden.")
4.1.5 Ergebnis
Die Kammer gelangt daher zum Schluss, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 für den Fachmann in nahe liegender Weise aus der Kombination der Druckschriften E2 und E8 ergibt und daher nicht als auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ 1973 beruhend gelten kann.
5. Hilfsantrag II: Unzulässige Erweiterung
Das neu aufgenommene Merkmal, dem zufolge ein Zeitpunkt für den Einsatz des Feuchtwerks und des Farbwerks aus durch eine Steuerung bereitgestellten maschinenbezogenen und jobbezogenen Daten berechnet wird, findet sich auf Seite 4, Zeilen 9-11 der ursprünglichen Anmeldung bzw. Absatz [0017] des Streitpatents.
Dieser Absatz offenbart zwei weitere Ausführungsformen der Erfindung. Gemäß einer ersten, vorteilhaften Ausführungsform ("Ausführungsform A") findet die Zuschaltung des Feuchtwerks zeitgleich mit der Inbetriebnahme der Hebertaktung statt. Gemäß der zweiten Ausführungsform ("Ausführungsform B") wird das Feuchtwerk nach dem Zuschalten des Farbhebers (d.h. nach Inbetriebnahme der Hebertaktung) und vor Beginn des Bogenlaufs zugeschaltet. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit der Berechnung des (besten) Moments für das Zuschalten erwähnt. Diese Bemerkung kann sich nicht auf die Ausführungsform A beziehen, da dort der Zeitpunkt des Zuschaltens des Feuchtwerks durch die Inbetriebnahme der Hebertaktung vorgegeben ist und es keinen Sinn macht, ihn zu berechnen.
Dadurch, dass im Anspruch 1 die Möglichkeit der Berechnung der Zeitpunkte losgelöst wurde von der Ausführungsform, gemäß welcher das Feuchtwerk nach dem Zuschalten des Farbhebers und vor Beginn des Bogenlaufs zugeschalten wird, wird der Fachmann mit einer Lehre konfrontiert, die er der ursprünglichen Anmeldung nicht entnehmen konnte. Damit geht der Gegenstand von Anspruch 1 aber über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Der Hilfsantrag II verletzt somit Artikel 123 (2) EPÜ, so dass ihm nicht stattgegeben werden kann.
6. Hilfsantrag III
6.1 Zulässigkeit
Der Antrag wurde am 15. September 2015, also etwa drei Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereicht; er ist eine Reaktion auf einen Einwand der Beschwerdeführerin, den sie am 8. September 2015, also fast genau einen Monat vor der mündlichen Verhandlung am 9. Oktober 2015, erhoben hatte. Diesem Einwand zufolge hätte die Beschwerdegegnerin gewisse wesentliche Merkmale, die im Absatz [0017] des Streitpatents offenbart sind, in den Anspruch 1 aufnehmen müssen, um den Erfordernissen von Artikel 123 (2) EPÜ zu genügen. Die Beschwerdeführerin konnte daher nicht davon überrascht sein, dass die Beschwerdegegnerin diesen Einwand durch die Aufnahme genau dieser Merkmale in den Anspruch 1 ausräumen wollte. Dadurch, dass der Einwand erst am 8. September 2015, also einen Tag vor dem Ende des von der Kammer gesetzten Frist, erhoben worden ist, hat die Beschwerdeführerin die Beschwerdegegnerin de facto der Möglichkeit einer fristgerechten Reaktion beraubt.
Die Kammer ist der Auffassung, dass der Hilfsantrag keine Fragen aufwirft, deren Behandlung eine Verschiebung der mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht hätte.
Auch das Gebot der Fairness sieht die Kammer nicht verletzt, da eine fristgerechte Reaktion der Beschwerdegegnerin aufgrund des Verhaltens der Beschwerdeführerin nicht möglich war.
Die Kammer hat daher den Hilfsantrag III zum Verfahren zugelassen (Artikel 13 VOBK).
6.2 Klarheit
Dem Gegenstand von Anspruch 1 fehlt es an der gebotenen Klarheit, aus folgenden Gründen:
Die hinzugefügten Merkmale stammen alle aus dem Absatz [0017] des Streitpatents. Wie schon unter Punkt 5.5. dargelegt wurde, offenbart dieser Absatz
zwei Ausführungsformen A und B der Erfindung bezüglich des Zuschaltens von Feuchtwerk und Farbwerk, sowie eine Möglichkeit der Berechnung im Zusammenhang mit Ausführungsform B.
Der ursprüngliche Anspruch 1 befasste sich auch schon mit der Zuschaltung des Feuchtwerks, verlangte aber in diesem Zusammenhang nur, dass diese "bei Bedarf" erfolge. Dieser Bedarf ist allerdings im Absatz [0017] nicht erwähnt und kann darüber hinaus verschiedenartig ausgelegt werden (siehe dazu Punkt 3.23.2 ).
Gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrags III wird das Feuchtwerk "bei Bedarf" zugeschaltet und zusätzlich wird ein Zeitpunkt für den Einsatz des Feuchtwerks berechnet. Je nach Verständnis des Merkmals "bei Bedarf" stellt sich also die Frage, ob berechnet werden soll, ob ein Bedarf besteht, oder ob die Berechnung der Feststellung des "richtigen" Zeitpunktes dienen soll. In ersterem Fall ist völlig unklar, wie das Vorhandensein eines Bedarfs berechnet werden kann. Geht es aber um die Berechnung des richtigen Zeitpunkts, ist unklar, wie sich dies vereinen lässt mit der nachgenannten Alternative, dass das Feuchtwerk zeitgleich mit der Inbetriebnahme der Hebertaktung zugeschaltet wird, denn in diesem Fall steht der Zeitpunkt schon fest. Insofern rührt die Unklarheit von Anspruch 1 nicht nur von der Verschmelzung des ursprünglichen Anspruchs 1 und seinem Hinweis auf einen "Bedarf" mit der Lehre des Absatzes [0017] des Streitpatents her, sondern auch daher, dass bei der Eingliederung der Merkmale der Beschreibung in den Anspruch deren Reihenfolge verändert wurde. Dadurch wird die anspruchsgemäße Berechnung aus ihrem ursprünglichen Kontext der Ausführungsform B gerissen. Angesichts dieser offenen Fragen entstehen für den Fachmann ernsthafte Zweifel, für welchen Gegenstand tatsächlich Schutz begehrt wird.
6.3 Ausführbarkeit
Unabhängig von der Frage der Klarheit ist der Gegenstand von Anspruch 1 auch nicht ausführbar im Sinne von Artikel 83 EPÜ 1973.
In der Tat verlangt der Gegenstand der Erfindung die Berechnung des Zeitpunkts, an dem das Feuchtwerk und das Farbwerk eingesetzt werden sollen. Das Streitpatent erläutert aber auch nicht nur ansatzweise, wie diese Berechnung durchgeführt werden soll. Der Hinweis der Beschwerdegegnerin, es gebe seit mehr als 30 Jahren numerische Modelle für das Farbwerk steht dem nicht entgegen, da die entsprechenden Berechnungen nicht als jobbezogen gelten können.
6.4 Die Kammer ist demnach zum Schluss gelangt, dass der Gegenstand des Hilfsantrags III weder klar noch ausführbar ist und dass deshalb auch diesem Hilfsantrag nicht stattgegeben werden kann.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.