T 0584/10 (Intuitive Navigations-Zieleingabe/BOSCH) of 7.7.2016

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2016:T058410.20160707
Datum der Entscheidung: 07 Juli 2016
Aktenzeichen: T 0584/10
Anmeldenummer: 01943062.8
IPC-Klasse: G06F 3/023
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Eingabe einer Zeichenfolge und Vorrichtung
Name des Anmelders: ROBERT BOSCH GMBH
Name des Einsprechenden: Harman/Becker Automotive Systems GmbH
Kammer: 3.5.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit mit Umformulierung der objektiven Aufgabe
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und Hilfsantrag 1 (nein)
Zulassung ins Beschwerdeverfahren - Hilfsantrag 2 (nein)
Orientierungssatz:

Siehe 1.1.3 und 1.1.4 der Entscheidungsgründe.

Angeführte Entscheidungen:
T 0039/93
T 1639/07
T 0407/11
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1442/16

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Streitpatents der Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) in geänderter Fassung gemäß einem Hilfsantrag ("Hilfsantrag 3"), unter Berücksichtigung des geltend gemachten Einspruchsgrunds der mangelnden Patentfähigkeit (Artikel 100 a) EPÜ).

II. Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Zwischenentscheidung hauptsächlich den folgenden Stand der Technik berücksichtigt:

Vorbenutzung "Porsche Communication Management (PCM)"-System inter alia belegt durch- E5: Bedienungsanleitung "Porsche Communication Management (PCM)", Seiten 46-53, Dezember 1998;- E17: PCM-Screenshots, Abbildungen 1 bis 10;Vorbenutzung "Traffic Pro"-System;E9: DE-A-42 25 354;E10: DE-A-197 32 287.

III. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin zwei neue Dokumente, nämlich

E19: US-A-5 841 373 und

E20: US-A-5 436 954

ein und beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent in geänderter Fassung in vollem Umfange zu widerrufen aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ). Darüber hinaus beantragte die Beschwerdeführerin, E19 und E20 ins Beschwerdeverfahren zuzulassen und den Zeugen Herrn Hanika-Heidl zum Thema der Vorbenutzung von "Traffic Pro" zu vernehmen.

IV. Mit der Beschwerdeerwiderung vom 13. September 2010 beantragte die Beschwerdegegnerin, die Beschwerde zurückzuweisen oder, hilfsweise, das Streitpatent aufrechtzuerhalten auf Basis der Ansprüche eines Hilfsantrags ("Hilfsantrag 1"), der auf den bereits im Einspruchsverfahren eingereichten "Hilfsantrag 6" zurückgeht. Zudem beantragte die Beschwerdegegnerin, die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Dokumente E19 und E20 als verspätet nicht ins Verfahren zuzulassen und die angebliche Vorbenutzung von "Traffic Pro" im weiteren Verfahren nicht zu berücksichtigen.

V. Mit der Anlage zur Ladung für eine mündliche Verhandlung gemäß Artikel 15(1) VOBK wurde der Rahmen für die während der mündlichen Verhandlung zu erörternden Punkte, insbesondere bezüglich der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ), mitgeteilt. Überdies gab die Kammer an, dass die verspätet eingereichten Dokumente E19 und E20 weder eine angemessene direkte Reaktion auf die Änderung des Streitpatents im Einspruchsverfahren noch relevanter als die vorliegenden Druckschriften zu sein schienen, und sie es auch nicht als notwendig erachte, den vorgeschlagenen Zeugen zur Frage der öffentlichen Zugänglichkeit des "Traffic Pro"-Systems zum Prioritätszeitpunkt zu vernehmen. Zudem wies sie darauf hin, dass der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichte Hilfsantrag bislang nicht substanziiert worden sei.

VI. Mit einem Erwiderungsschreiben brachte die Beschwerdeführerin weitere Argumente zur Zulassung der Dokumente E19 und E20 ins Beschwerdeverfahren, zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit betreffend den Gegenstand des Streitpatents gegenüber dem PCM-System allein bzw. in Kombination mit E10 oder E20 vor.

VII. Mit einem (drei Tage vor der anberaumten mündlichen Verhandlung eingegangenen) Erwiderungsschreiben brachte die Beschwerdegegnerin ihrerseits Argumente zur erfinderischen Tätigkeit bezüglich Anspruch 1 des Hilfsantrags vor.

VIII. Am 7. Juli 2016 fand eine mündliche Verhandlung statt, in deren Verlauf die Beschwerdegegnerin einen weiteren Anspruchssatz gemäß "Hilfsantrag 2" einreichte. Die Gewährbarkeit des Hauptantrags bzw. die Zulässigkeit und Gewährbarkeit der vorliegenden Hilfsanträge wurden diskutiert.

Die Beschwerdeführerin beantragte abschließend, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin beantragte abschließend, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche des Hilfsantrags 1, eingereicht mit Schreiben vom 13. September 2010, oder des Hilfsantrags 2, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, aufrechtzuerhalten.

Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

IX. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag hat folgenden Wortlaut:

"Verfahren zur Eingabe einer Zeichenfolge in eine Recheneinheit (1), vorzugsweise in eine Navigationsvorrichtung in einem Fahrzeug, wobei in einer Speichereinheit (4) Zeichenfolgen gespeichert werden, wobei von der Recheneinheit (1) durch einen Vergleich bisher eingegebener Zeichen mit den gespeicherten Zeichenfolgen auswählbare Zeichen für ein nächstes, einzugebendes Zeichen der Zeichenfolge ermittelt werden, wobei die auswählbaren Zeichen in einer Anzeige (2) hervorgehoben angezeigt werden, wobei eines der auswählbaren Zeichen als ein einzugebendes Zeichen angezeigt und als ein nächstes Zeichen der Zeichenfolge durch eine Bestätigungseingabe eingegeben wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Zeichen in einem zweidimensionalen Feld (12) angezeigt werden, dass von dem eingebbaren Zeichen über eine Richtungseingabe zu einem in der eingegebenen Richtung in dem zweidimensionalen Feld (12) zu dem eingebbaren Zeichen liegenden auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dass als eine Richtung jede der Richtungen unten, oben, rechts und links über das Bedienelement in Form einer Kreuzwippe oder eines Joysticks ausgewählt werden kann, dass eine der Richtungen unten, oben, rechts oder links ausgewählt wird und dass das auswählbare Zeichen, zu dem gewechselt wird, als eingebbares Zeichen angezeigt wird."

Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 hat folgenden Wortlaut (mit von der Kammer hervorgehobenen Änderungen in Bezug auf den Hauptantrag):

"Verfahren zur Eingabe einer Zeichenfolge in eine Recheneinheit (1), vorzugsweise in eine Navigationsvorrichtung in einem Fahrzeug, wobei in einer Speichereinheit (4) Zeichenfolgen gespeichert werden, wobei von der Recheneinheit (1) durch einen Vergleich bisher eingegebener Zeichen mit den gespeicherten Zeichenfolgen auswählbare Zeichen für ein nächstes, einzugebendes Zeichen der Zeichenfolge ermittelt werden, wobei die auswählbaren Zeichen in einer Anzeige (2) hervorgehoben angezeigt werden, wobei eines der auswählbaren Zeichen als ein einzugebendes Zeichen angezeigt und als ein nächstes Zeichen der Zeichenfolge durch eine Bestätigungseingabe eingegeben wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Zeichen in einem zweidimensionalen Feld (12) angezeigt werden, dass das zweidimensionale Feld (12) durch Zeilen und Spalten von Zeichen gebildet wird, dass von dem eingebbaren Zeichen über eine Richtungseingabe zu einem in der eingegebenen Richtung in dem zweidimensionalen Feld (12) zu dem eingebbaren Zeichen liegenden auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dass als eine Richtung jede der Richtungen unten, oben, rechts und links über das Bedienelement in Form einer Kreuzwippe oder eines Joysticks ausgewählt werden kann, dass eine der Richtungen unten, oben, rechts oder links ausgewählt wird, dass bei einer Eingabe der Richtung rechts oder links zu einem auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dessen Spalte in dem zweidimensionalen Feld rechts bzw. links von der Spalte des bisher eingebbaren Zeichens liegt und dessen Zeile dabei am nächsten an der Zeile des bisher eingebbaren Zeichens liegt, und dass bei einer Eingabe der Richtung unten oder oben zu einem auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dessen Zeile in dem Feld unterhalb bzw. oberhalb von der Zeile des bisher eingebbaren Zeichens liegt und dessen Spalte dabei am nächsten an der Spalte des bisher eingebbaren Zeichens liegt, und dass das auswählbare Zeichen, zu dem gewechselt wird, als eingebbares Zeichen angezeigt wird."

Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und enthält zusätzlich den folgenden Wortlaut am Ende:

"wobei für den Fall, dass in der eingegebenen Richtung kein auswählbares Zeichen in dem Feld liegt, eine Suche nach einem nächsten auswählbaren Zeichen ausgehend von einem einem in der eingegebenen Richtung liegenden Rand gegenüberliegenden Rand in der ausgewählten Richtung fortgesetzt wird."

Entscheidungsgründe

1. HAUPTANTRAG

Dieser Antrag entspricht der Aufrechterhaltung des Streitpatents auf Basis des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden "Hilfsantrag 3".

Anspruch 1, wie aufrechterhalten, umfasst folgende einschränkenden Merkmale:

Verfahren zur Eingabe einer Zeichenfolge in eine Recheneinheit, wobei

A) in einer Speichereinheit Zeichenfolgen gespeichert werden und von der Recheneinheit durch einen Vergleich bisher eingegebener Zeichen mit den gespeicherten Zeichenfolgen auswählbare Zeichen für ein nächstes, einzugebendes Zeichen der Zeichenfolge ermittelt werden;

B) die auswählbaren Zeichen in einer Anzeige hervorgehoben angezeigt werden;

C) eines der auswählbaren Zeichen als ein einzugebendes Zeichen angezeigt und als ein nächstes Zeichen der Zeichenfolge durch eine Bestätigungseingabe eingegeben wird;

D) die Zeichen in einem zweidimensionalen Feld angezeigt werden;

E) von dem eingebbaren Zeichen über eine Richtungseingabe zu einem in der eingegebenen Richtung in dem zweidimensionalen Feld zu dem eingebbaren Zeichen liegenden auswählbaren Zeichen gewechselt wird;

F) als eine Richtung jede der Richtungen unten, oben, rechts und links über das Bedienelement in Form einer Kreuzwippe oder eines Joysticks ausgewählt werden kann und eine der Richtungen unten, oben, rechts oder links ausgewählt wird;

G) das auswählbare Zeichen, zu dem gewechselt wird, als eingebbares Zeichen angezeigt wird.

Nach dem Wortlaut dieses Anspruchs wird prinzipiell unterschieden zwischen einem "auswählbaren Zeichen", das entsprechend der gespeicherten, möglichen Zeichenfolgen - vorzugsweise für eine Navigationszieleingabe - mit Hilfe des Bedienelements auf dem zweidimensionalen Zeichenfeld ausgewählt werden kann, und einem "eingebbaren Zeichen", das gegenwärtig im Zeichenfeld als solches markiert ist und im Falle einer Bestätigungseingabe als nächstes Zeichen bei der Zieleingabe tatsächlich ausgewählt und eingegeben wird.

1.1 Artikel 52(1) EPÜ: Neuheit und erfinderische Tätigkeit

1.1.1 Die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags auf Basis des Unterscheidungsmerkmals F) ist unstreitig (Artikel 54 EPÜ).

1.1.2 Nächstliegender Stand der Technik

Die Kammer betrachtet - wie die angefochtene Entscheidung - das vorbenutzte PCM-System als nächstliegenden Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.

Dieses PCM-System, dessen Funktionsweise insbesondere durch E5 und E17 beschrieben wird, sieht nun für die Zieleingabe (unter dem Menüpunkt "Zieleingabe Ort") eine Bildschirmanzeige mit zwei Zeilen und mehreren Spalten, d.h. ein zweidimensionales Feld, vor (siehe z.B. E5, Abb. 5.5 und 5.8; E17, Abb. (1)). Die entsprechenden Zeichen (Buchstaben, Sonderzeichen und Ziffern) werden über einen eindrückbaren, nach rechts oder links (d.h. in zwei Richtungen) drehbaren "Drehknopf 11" ausgewählt und eingegeben. Vor und nach jeder Zeicheneingabe werden die gemäß der möglichen Ziele auswählbaren bzw. nicht auswählbaren Zeichen in unterschiedlichen Farben angezeigt (siehe z.B. E17, Abb. 2). Das ausgewählte bzw. eingebbare Zeichen wird mit einem gelb unterlegten Quadrat eindeutig markiert (siehe z.B. E17, Abb. 1). Darüber hinaus wird nach Erreichen des letzten auswählbaren Zeichens der ersten Zeile - bei weiterer Drehung des Drehknopfs 11 nach rechts - automatisch auf das erste auswählbare Zeichen der zweiten Zeile gesprungen, während nach Erreichen des letzten auswählbaren Zeichens der zweiten Zeile auf das erste auswählbare Zeichen der ersten Zeile gewechselt wird (sog. "wrap around"-Mechanismus). Entsprechendes gilt für die Linksbewegung des Drehknopfs über das Ende einer Zeile hinaus.

Die Kammer teilt die Auffassung der Einspruchsabteilung und beider Beteiligten, dass das PCM-System das Merkmal F) von Anspruch 1, d.h. die Auswahl eines auswählbaren Zeichens über eine in vier Richtungen (rechts, links, oben, unten) frei bewegbare Kreuzwippe oder einen Joystick, nicht offenbart (vgl. Punkt 1.1.1 oben).

1.1.3 Technischer Effekt des Unterscheidungsmerkmals F)

Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz ist zunächst die durch das Unterscheidungsmerkmal erzielte technische Wirkung zu ermitteln. Aus der angefochtenen Entscheidung geht indes nicht hervor, welchen technischen Effekt die Einspruchsabteilung dem Merkmal F) zugeschrieben hat bzw. welche objektive technische Aufgabe hierdurch als gelöst betrachtet wurde. Das Streitpatent führt hierzu lediglich an, dass durch die Eingabe einer Richtung im erfindungsgemäßen Sinn der Benutzer eines Navigationssystems "sehr schnell und übersichtlich" zwischen auswählbaren Zeichen wechseln könne (vgl. Absatz [0002], erster Satz). Die Kammer teilt hier jedoch die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass ein solcher Effekt nicht über den gesamten von Anspruch 1 definierten Bereich glaubhaft erzielt werden kann, auch wenn - wie von der Beschwerdegegnerin geltend gemacht - die Merkmale E), F) und G) im Gesamtkontext betrachtet werden.

Vielmehr hängt die Frage, ob der Benutzer des Navigationssystems mit einem in vier Richtungen (rechts/links/oben/unten) bewegbaren Bedienelement gemäß Merkmal F) schneller oder in übersichtlicherer Weise als mit einem in zwei Richtungen (rechts/links) bewegbaren Bedienelement gemäß dem PCM-System ein gewünschtes auswählbares Zeichen auszuwählen vermag, grundsätzlich von vielen Faktoren ab, wie z.B. den feinmotorischen Fähigkeiten des jeweiligen Benutzers, der Größe des Zeichenfelds (d.h. die konkrete Anzahl der Zeilen und Spalten) bzw. der Anordnung der Zeichen im zweidimensionalen Feld oder der Reaktionsschnelligkeit sowohl des Bedienelements als auch der Anzeige. Hierüber ist Anspruch 1 jedoch nichts zu entnehmen. Daher wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingehender über die tatsächlich resultierende technische Wirkung und die glaubhaft gelöste objektive technische Aufgabe diskutiert. Als Resultat dieser Diskussion schließt sich die Kammer der Auffassung der Beschwerdegegnerin an, dass die Verwendung eines in vier (statt in zwei) Richtungen bewegbaren Bedienelements die technische Wirkung hat, eine erweiterte Beweglichkeit innerhalb eines zweidimensionalen Zeichenfelds bei der Zeicheneingabe zu ermöglichen (vgl. auch Spalte 1, Zeilen 38-41 des Streitpatents).

1.1.4 Objektive technische Aufgabe

Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern muss sich die objektive technische Aufgabe aus objektiven physikalischen, chemischen oder sonstigen Wirkungen ergeben, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zusammenhängen und auch aus der ursprünglichen Anmeldung ableitbar sind. Eine Wirkung kann demnach nicht wirksam für die Formulierung der technischen Aufgabe verwendet werden, wenn hinsichtlich dieser Wirkung zusätzliche Informationen benötigt werden, die dem Fachmann selbst bei Berücksichtigung des Inhalts der betreffenden Anmeldung nicht zur Verfügung stehen (siehe z.B. T 1639/07, Gründe 2.5).

Basierend auf dem obigen technischen Effekt sah die Beschwerdegegnerin die durch Anspruch 1 zu lösende objektive Aufgabe in einer "intuitiveren und damit bedienerfreundlicheren Zieleingabe in Navigationsgeräten". Da nach Ansicht der Kammer eine intuitivere Bedienbarkeit bzw. kognitive Bedienerfreundlichkeit einer software-basierten

Mensch-Maschine-Schnittstelle, auch Software-Ergonomie genannt, prinzipiell von subjektiven Fähigkeiten und Bedürfnissen des jeweiligen Bedieners abhängen (siehe z.B. T 407/11, Gründe 2.1.4), lassen sie sich in der Regel nicht mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden des Ingenieurwesens bzw. der Informatik quantifizieren. Dies wird auch dadurch belegt, dass typischerweise - wie von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt - bei der Entwicklung von solchen Mensch-Maschine-Schnittstellen in nicht unerheblichem Maße auf Fachwissen aus den Feldern der angewandten Psychologie bzw. "user experience" zurückgegriffen wird, um empirische Aussagen über die intuitive Bedienbarkeit eines technischen Assistenzsystems zu treffen. Daher kann die Kammer nicht anerkennen, dass die technischen Merkmale von Anspruch 1 - insbesondere Merkmal F) - verlässlich und kausal eine solche Aufgabe in ihrem gesamten Bereich hinreichend lösen, d.h. dass die zusätzliche Bewegbarkeit des einzugebenden Zeichens nach oben und unten tatsächlich und zwangsläufig eine intuitivere bzw. bedienerfreundlichere Zieleingabe bedingt. Die objektive Aufgabe ist mithin entsprechend umzuformulieren (siehe z.B. T 39/93, ABl. EPA 1997, 134, Gründe 5.3.2).

Die Kammer sieht die dem Unterscheidungsmerkmal F) tatsächlich zugrunde liegende objektive technische Aufgabe vielmehr in der "Implementierung einer flexibleren Zeicheneingabe für die Zielbestimmung im PCM-System". Im Zusammenhang mit der Frage des mit der Lösung dieser objektiven Aufgabe beauftragten Fachmanns schließt sich die Kammer zudem der Auffassung der Beschwerdeführerin an, dass es sich hier um einen Experten auf dem Gebiet der grafischen

Mensch-Maschine-Schnittstellen bzw. der

Software-Ergonomie handelt.

1.1.5 Naheliegen des Gegenstands von Anspruch 1

Zunächst ist festzuhalten, dass der oben definierte Fachmann entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht den Hinweis von E5 aufgreifen würde, wonach für ein zügiges Durchlaufen des Zeichenfelds der Drehknopf entsprechend schneller zu drehen sei (siehe Seite 50, linke Spalte, zweiter Hinweis), da ein schnelleres Drehen des Drehknopfs durch den Bediener keine flexiblere Zeicheneingabe gemäß der oben formulierten objektiven Aufgabe ermöglicht. Bei der Suche nach Implementierungsmöglichkeiten zur Lösung der obigen Aufgabe würde nach Auffassung der Kammer dieser Fachmann stattdessen die Druckschrift E10 als sehr erfolgversprechende Hilfestellung betrachten. Diese beschäftigt sich nämlich mit der Realisierung eines bidirektional drehbaren und axial bewegbaren Schaltgliedes, das als Multifunktions-Bedieneinrichtung für die "schnelle und sichere" Auswahl von angezeigten Menüs bzw. von Menü-Funktionen, vornehmlich in Fahrzeugen, einsetzbar ist (siehe Zusammenfassung und Spalte 1, Zeilen 17-27). Insbesondere erwähnt E10 im Einleitungsabschnitt (siehe Spalte 1, Zeilen 17-22):

"Durch die zusätzliche Möglichkeit, das Schaltglied zu verschwenken kann die Menü-, Funktions- bzw. Funktions-Werteauswahl schnell und sicher getroffen werden. Das Schaltglied vereinigt dann die Funktionalität des ... bekannten Dreh-/Druck-Schalters und des sogenannten Joysticks."

Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass der Fachmann davon abgehalten werden würde, E10 heranzuziehen, weil die Bedienung eines in vier Richtungen bewegbaren Bedienelements mehr Konzentration verlange und die Bedienung des Geräts komplizierter mache, überzeugt die Kammer nicht, da die Beschwerdegegnerin andererseits argumentiert, dass gerade die Einführung des in vier Richtungen beweglichen Bedienelements die Zieleingabe intuitiver und bedienerfreundlicher mache (vgl. Punkt 1.1.4 oben).

Die Kammer schließt sich daher der Schlussfolgerung der Beschwerdeführerin an, dass der Fachmann die Lehre von E10 auf das vorbenutzte PCM-System anwenden und hierbei den Drehknopf des PCM-Systems ohne Zögern durch das flexiblerweise in vier Richtungen (rechts/links/oben/unten) bewegbare "Schaltglied 2" mit dem "Betätigungsknopf 1" (siehe Fig. 1 und 2), das als Joystick fungieren soll, ersetzen würde, um damit - anstatt der in E10 in Rede stehenden Menüs und Funktionen (siehe Fig. 5a und 5b) - Eingabezeichen schnell und sicher in zweidimensionalen Zeichenfeldern gemäß dem PCM-System über Bewegungen nach rechts, links, oben oder unten auszuwählen. Im Gegensatz zur Interpretation von E10 durch die Beschwerdegegnerin ist z.B. in der Ausführungsform von Fig. 4c auch eine eventuelle Sperrung einer bestimmten Bewegungsrichtung durch das "Nockenrad 12" deaktiviert, so dass hier durchaus sowohl eine horizontale Rechts/Links-Bewegung (+x/-x Richtung) als auch eine vertikale

Oben/Unten-Bewegung (+y/-y Richtung) ermöglicht wird. Auch das Argument der Beschwerdegegnerin, wonach in E10 lediglich eine Eingabe in einer Dimension, d.h. entweder in vertikaler oder horizontaler Richtung (basierend auf der vorgeschlagenen Richtungssperre nach Spalte 2, Zeilen 31-35), vorgegeben sei, geht schon deshalb ins Leere, da z.B. Spalte 1, Zeilen 45-48 von E10 unmissverständlich Folgendes lehrt (mit Hervorhebungen durch die Kammer):

"Zum Ermöglichen der Schwenkbewegung in zwei zueinander senkrechten Richtungen (+x/-x und +y/-y) ist das Schaltglied 2 schwenkbar über ein Kugelgelenk 3 in einem Gehäuse 4 gelagert."

1.1.6 Aus den obigen Feststellungen folgert die Kammer, dass der Gegenstand des von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

1.2 Daher ist der Hauptantrag nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

2. HILFSANTRAG 1

Anspruch 1 dieses Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags darin, dass dieser auch die Merkmale von Anspruch 2 des Hauptantrags (bzw. Anspruch 3 der erteilten Fassung des Streitpatents) umfasst und mithin zusätzlich angibt, dass

H) das zweidimensionale Feld durch Zeilen und Spalten von Zeichen gebildet wird;

I) bei einer Eingabe der Richtung rechts oder links zu einem auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dessen Spalte in dem zweidimensionalen Feld rechts bzw. links von der Spalte des bisher eingebbaren Zeichens liegt und dessen Zeile dabei am nächsten an der Zeile des bisher eingebbaren Zeichens liegt;

J) bei einer Eingabe der Richtung unten oder oben zu einem auswählbaren Zeichen gewechselt wird, dessen Zeile in dem Feld unterhalb bzw. oberhalb von der Zeile des bisher eingebbaren Zeichens liegt und dessen Spalte dabei am nächsten an der Spalte des bisher eingebbaren Zeichens liegt.

2.1 Zulassung ins Beschwerdeverfahren

Obwohl die Beschwerdegegnerin diesen mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag erstmals mit einem drei Tage vor der anberaumten mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben (vgl. Punkt VII oben) bzw. während der mündlichen Verhandlung substanziiert hat, entschied die Kammer, diesen Hilfsantrag in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12(4) und 13(1) VOBK dennoch ins Beschwerdeverfahren aufgrund der folgenden Umstände zuzulassen:

- die Ansprüche dieses Hilfsantrags wurden bereits im Einspruchsverfahren (als "Hilfsantrag 6") erstmals eingereicht;

- Anspruch 1 dieses Hilfsantrags entspricht einer Kombination aus erteilten Ansprüchen;

- die Änderungen gemäß Merkmale H) bis J) sind offensichtlich zur weiteren Abgrenzung vom Stand der Technik und somit als Versuch zur Behebung der Einwände nach Artikel 56 EPÜ vorgenommen worden (im Sinne von Regel 80 EPÜ);

- die Diskussion und Prüfung der hinzugefügten Merkmale H) bis J) im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit konnten ohne nennenswerte Schwierigkeiten, insbesondere ohne eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung oder eine Verlegung der mündlichen Verhandlung vor der Kammer notwendig zu machen, erfolgen.

2.2 Artikel 56 EPÜ: erfinderische Tätigkeit

2.2.1 Die hinzugefügten Merkmale H) bis J) beschreiben die Art und Weise, mit der bei einer Bewegung des Bedienelements nach rechts oder links bzw. oben oder unten tatsächlich zum nächsten auswählbaren Zeichen im zweidimensionalen Zeichenfeld gewechselt wird, d.h. die Bestimmung der eingebbaren Zeichen, zu denen prinzipiell gewechselt werden kann, aus einem Satz von auswählbaren Zeichen. Hierbei wird im Rahmen einer Wechselvorschrift immer die nächstliegende Zeile bzw. Spalte in Bezug auf das gegenwärtig eingebbare Zeichen bevorzugt.

2.2.2 Als daraus resultierenden technischen Effekt machte die Beschwerdegegnerin eine "noch intuitivere Zeicheneingabe" geltend, da angeblich aufgrund des menschlichen Gesichtsfeldes und Erkennungsverhaltens ein zu einem bestimmten Bezugspunkt benachbartes Auswahlfeld intuitiver sei.

2.2.3 Die Kammer hat jedoch erhebliche Zweifel, ob bei einem von Anspruch 1 mit umfassten zweidimensionalen Zeichenfeld mit nur jeweils zwei Zeilen und Spalten überhaupt ein nennenswerter Unterschied oder gar ein Vorteil im Vergleich zu irgend einer anderen Zeichenwechselvorschrift erkennbar sein kann; zumal auch Mehrdeutigkeiten bezüglich eingebbarer nächster Zeichen bei eventuell identischem Zeilen- oder Spaltenabstand zum gegenwärtig eingebbaren Zeichen durch Anspruch 1 nicht aufgelöst, sondern - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen - den Implementierungspräferenzen des Fachmanns überlassen werden soll.

Unabhängig davon schließt sich aber die Kammer der Auffassung der Beschwerdeführerin an, wonach - falls tatsächlich die Zeichenwechselvorschrift gemäß der Merkmale I) und J) sich für einen durchschnittlichen Benutzer intuitiver ausnehmen sollte - diese Art des Wechselns in einem mindestens zwei Zeilen und zwei Spalten umfassenden Zeichenfeld zum nächsten auswählbaren Zeichen, ausgehend vom PCM-System und E10, für den Fachmann trivial wäre, da ein solcher vermeintlicher Vorteil in der Bedienbarkeit eines Navigationsgeräts einem Experten der Software-Ergonomie bekannt sein müsste.

2.3 Demnach ist auch Hilfsantrag 1 nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

3. HILFSANTRAG 2

Anspruch 1 dieses Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags darin, dass dieser zudem die Merkmale von Anspruch 6 des Hauptantrags (bzw. Anspruch 7 der erteilten Fassung des Streitpatents) umfasst und somit zusätzlich spezifiziert, dass

K) für den Fall, dass in der eingegebenen Richtung kein auswählbares Zeichen in dem Feld liegt, eine Suche nach einem nächsten auswählbaren Zeichen ausgehend von einem einem in der eingegebenen Richtung liegenden Rand gegenüberliegenden Rand in der ausgewählten Richtung fortgesetzt wird.

3.1 Zulassung ins Beschwerdeverfahren

Die Ansprüche des vorliegenden Hilfsantrags wurden von der Beschwerdegegnerin erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und damit nach Einreichung der Beschwerdeerwiderung und nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung in einem sehr späten Verfahrensstadium eingereicht (vgl. Artikel 13(1) und (3) VOBK).

Auch wenn Anspruch 1 dieses neuen Hilfsantrags der Kombination aus den Merkmalen der aufrechterhaltenen Ansprüche 1 und 6 entspricht, hat die Kammer die Ansprüche dieses Hilfsantrags in Ausübung ihres durch Artikel 13(1) VOBK eingeräumten Ermessens nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen, insbesondere in Anbetracht der folgenden Feststellungen:

- Anspruch 1 ist nicht konvergent zu Anspruch 1 von Hilfsantrag 1, da er nicht mehr die Merkmale H) bis J) enthält;

- die Änderung gemäß Merkmal K) verlagert den Schwerpunkt der Diskussion hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit, da er sich mit dem Sonderfall beschäftigt, dass rechts, links, oberhalb oder unterhalb eines auswählbaren Zeichens kein Zeichen mehr angeordnet ist (sog. "wrap around"-Problem; vgl. Absatz [0021] des Streitpatents);

- die Änderung gemäß dem Merkmal K) ist somit objektiv nicht als von der Entwicklung der Diskussion und des Verfahrens in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer veranlasst zu werten, sondern betrifft eine zu Hilfsantrag 1 alternative Ausführungsform und geht deutlich über den Umfang der Diskussionen, die der Beschwerdebegründung und -erwiderung zugrunde lagen, hinaus;

die Zulassung ins Beschwerdeverfahren hätte daher eine Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur Folge haben können, konträr zur gebotenen Verfahrensökonomie.

3.2 Somit ist der Hilfsantrag 2 nach Artikel 114(2) EPÜ und Artikel 13(1) VOBK nicht ins Beschwerdeverfahren zuzulassen.

4. Da mithin kein Anspruchssatz vorliegt, auf dessen Basis das Streitpatent aufrechterhalten werden kann, ist die Beschwerde in vollem Umfang erfolgreich.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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