T 0385/10 (Oligosaccharide aus Tiermilch/NUTRICIA) of 11.9.2013

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2013:T038510.20130911
Datum der Entscheidung: 11 September 2013
Aktenzeichen: T 0385/10
Anmeldenummer: 00983244.5
IPC-Klasse: C07H 3/06
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: OLIGOSACCHARIDMISCHUNG
Name des Anmelders: N.V. Nutricia
Name des Einsprechenden: NESTEC S.A.
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(b)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Patentinhaberin hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Europäische Patent Nr. 1 242 436 zu widerrufen, Beschwerde eingelegt.

II. Das Streitpatent in der erteilten Fassung umfasst neun Ansprüche. Die unabhängigen Ansprüche 1, 7 und 8 lauten wie folgt:

III. "1. Oligosaccharidmischung auf Basis von Oligosacchariden, die aus einer oder mehreren Tiermilch(en) gewonnen wurden und die aus zwei oder mehr Monosaccharideinheiten zusammengesetzt sind, dadurch gekennzeichnet,

dass sie mindestens zwei Oligosaccharidfraktionen aufweist, die aus jeweils mindestens zwei unterschiedlichen Oligosacchariden aufgebaut sind, wobei freie Lactose nicht dazu gehört,

dass sich das Gesamtspektrum der in der Oligosaccharidmischung vorhandenen Oligosaccharide von demjenigen der Tiermilch oder der Tiermilchen, aus der oder aus denen die Oligosaccharidfraktionen gewonnen wurden, unterscheidet,

dass das Verhältnis von neutralen Oligosacchariden zu sauren Oligosacchariden 90 - 60 : 10 - 40 Gew.-% beträgt, und

dass, sofern die Oligosaccharide aus mindestens zwei Tiermilchen gewonnen wurden, die aus zwei unterschiedlichen Tiermilchen gewonnenen Oligosaccharide jeweils mindestens 10 Gew.-% der insgesamt in der Oligosaccharidmischung vorhandenen Oligosaccharide ausmachen."

"7. Oligosaccharidmischung nach einem der Ansprüche 1 bis 5 zur Bekämpfung von Störungen gastrointestinaler Funktionen, die durch eine bakterielle oder virale Besiedlung des Gastrointestinaltraktes hervorgerufen wurden, oder zur Erhaltung normaler gastrointestinaler Funktionen."

"8. Verwendung einer Oligosaccharidmischung nach einem der Ansprüche 1 bis 5 zur Herstellung eines diätetischen Lebensmittels oder eines Pharmazeutikums zur Bekämpfung von Störungen gastrointestinaler Funktionen, die durch eine bakterielle oder virale Besiedlung des Gastrointestinaltraktes hervorgerufen wurden, oder zur Erhaltung normaler gastrointestinaler Funktionen."

IV. In der angefochtenen Entscheidung, der die Ansprüche in der erteilten Fassung zu Grunde lagen, stellte die Einspruchsabteilung fest, dass das Streitpatent die Erfindung nicht ausreichend offenbare, da dem Fachmann keine in qualitativer und quantitativer Hinsicht eindeutig definierte Referenzmischung zur Verfügung stehe, anhand derer er feststellen könne, ob eine bestimmte Oligosaccharidmischung unter die Ansprüche falle. Er sei daher nicht in der Lage, alle beanspruchten Oligosacharidmischungen herzustellen.

V. Mit der Beschwerdebegründung verfolgte die Beschwerdeführerin das Patent auf Basis der erteilten Ansprüche als Hauptantrag weiter und reichte die Hilfsanträge 1-4 ein. Des Weiteren reichte sie folgende Druckschriften ein:

(10) S. Thurl et al., Analytical Biochemistry, 235, 1996, Seiten 202-206, Artikel-Nummer 0113

(11) G. Boehm und B. Stahl, Oligosaccharides, Functional dairy products, Woodhead Publishing Ltd., Cambridge, 2003, Seiten 204-244,

(12) Entscheidung des "United States Patent and Trademark Office before the Boards of Patent Appeals and Interferences", Appeal 2009-001128, Application 10/148,193, Technology Center 1700, entschieden am 4 Januar 2010

(13) G. Boehm und B. Stahl, The Journal of Nutrition, 2007, Seiten 847S-849S

VI. In der mündlichen Verhandlung wurde, bevor sich die Kammer dem Einwand unter Artikel 100(b) EPÜ zuwandte, zunächst das Verständnis des Anspruchs 1 des Streitpatents mit den Parteien erörtert. Diese wurden aufgefordert, zu den folgenden Punkten Stellung zu nehmen:

- ob die genannten Verfahrensschritte den unabhängigen Produktanspruch beschränken,

- ob dieser Anspruch das Vorliegen weiterer Komponenten in der beanspruchten Oligosaccharidmischung zulässt,

- auf welches Merkmal bzw. welche Merkmale dieses Anspruchs sich die Bedingung "wobei freie Lactose nicht dazu gehört" bezieht, sowie

- ob unter die Oligosaccharide gemäß diesem Anspruch auch gebundene Oligosaccharide zu zählen sind.

VII. Die Argumente der Beschwerdeführerin, soweit sie für die vorliegende Entscheidung von Bedeutung sind, können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Druckschriften (10)-(13) seien lediglich zur Stütze der Argumentation der Beschwerdeführerin und der Erläuterung des technischen Umfelds eingereicht worden. Sie änderten den Sachverhalt nicht und würfen keine neuen Fragen auf.

Die Verfahrensmerkmale im Anspruch 1 seien zwingende Bedingungen und daher beschränkend. Zudem seien die erfindungsgemäßen komplexen Oligosaccharidmischungen nur aus Tiermilchen zu gewinnen. Weitere Komponenten könnten vorhanden sein, so zum Beispiel freie Lactose. Lactose, die auch ein Oligosaccharid sei, sei aber bei allen in Frage stehenden Merkmalen nicht zu berücksichtigen. Gleiches gelte für gebundene Oligosaccharide.

Das Streitpatent enthalte ausreichende Angaben, wie die Oligosaccharide abgetrennt und neu abgemischt werden könnten. Eines Referenzspektrums bedürfe es dabei nicht, insbesondere da dem Fachmann die Ausgangsmischung bekannt sei. Auch enthielten Tiermilche im Gegensatz zu Humanmilch nur wenige Oligosaccharide. Der Fachmann müsse daher eine Oligosaccharidmischung für einen Vergleich nur auf wenige Spezies untersuchen. Im übrigen sei das in Frage stehende zweite Merkmal (nachfolgend Merkmal b); Anmerkung der Kammer) eine Überbestimmung, da erfindungsgemäß der Anteil an neutralen Oligosacchariden immer größer sei als der Anteil an sauren. Bei allen Tiermilchen sei dieses Verhältnis umgekehrt.

VIII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin, soweit sie für die vorliegende Entscheidung von Bedeutung sind, können wie folgt zusammengefasst werden.

Die Druckschriften (10)-(13) sollten nicht in das Verfahren zugelassen werden. Sie hätten bereits vor der ersten Instanz eingereicht werden können und seien darüber hinaus von keiner Relevanz. Die Druckschriften (11) und (13) seien zudem nachveröffentlicht.

Die Verfahrensschritte des Anspruchs 1 wiesen auf externe Parameter hin und beschränkten den Produktanspruch nicht. In der Oligosaccharidmischung könnten weitere Komponenten vorhanden sein, wie sich insbesondere im Anspruch 6 zeige. Darüber hinaus gelte die Nichtberücksichtigung von Lactose lediglich für das erste Merkmal des Anspruchs (nachfolgend Merkmal a); Anmerkung der Kammer), nicht jedoch für die übrigen Merkmale. Ebenso seien gebundene Oligosaccharide im Gesamtspektrum zu berücksichtigen. Dies zeige sich insbesondere im Hinblick auf das Beispiel 7.

Der Einwand unzureichender Offenbarung beziehe sich auf das Merkmal b). Es werde der Einspruchsabteilung dahingehend zugestimmt, dass es für den Fachmann nicht möglich sei zu bestimmen, wie sich die beanspruchte Oligosaccharidmischung von der Ausgangstiermilch zu unterscheiden habe, insbesondere da das Streitpatent keine Angaben bezüglich eines Referenzspektrums mache, mit dem das Gesamtspektrum zu vergleichen sei. Auch unterliege das Spektrum der Oligosaccharide in den Tiermilchen Schwankungen, abhängig vom Stadium der Lactation, dem Futter, den Lagerbedingungen etc. Der Fachmann könne daher auch nicht beurteilen, ob er mit einer Oligosaccharidmischung unbekannten Ursprungs die Erfindung ausgeführt habe oder nicht. Im Übrigen wisse der Fachmann, sofern er die Oligosaccharide auf anderem Weg, beispielsweise synthetisch, erhalten habe, nicht, wie er dieses Merkmal erfüllen solle. Damit könne er die Erfindung auch nicht ausführen.

IX. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wie erteilt, oder hilfsweise auf Basis eines der Hilfsanträge 1-4 aufrechtzuerhalten.

X. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

XI. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Zulassung der Druckschriften (10) bis (13)

2.1 Die Beschwerdegegnerin hat die Vorlage dieser Druckschriften als verspätet gerügt und beantragt, sie mangels Relevanz nicht in das Verfahren zuzulassen.

2.2 Die Druckschriften (10) bis (13) wurden von der Beschwerdeführerin zusammen mit der Beschwerdebegründung zur Stützung ihrer Argumente gegen die das Streitpatent widerrufende Entscheidung der Einspruchsabteilung eingereicht. Sie erläutern im Wesentlichen das technische Umfeld der Erfindung, ohne dabei grundsätzlich neue Fragen aufzuwerfen, wobei die nachveröffentlichten Druckschriften (11) und (13) Sachverhalte zusammenfassen, wie sie auch bereits vor dem relevanten Datum bekannt waren. Das Vorgehen der im erstinstanzlichen Verfahren unterlegenen Beschwerdeführerin kann daher als legitimer Versuch angesehen werden, ihre Position im Beschwerdeverfahren zu stärken. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass die Druckschriften auch so rechtzeitig vorgelegt wurden, dass der Beschwerdegegnerin bis zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausreichend Zeit zur Verfügung stand, sich inhaltlich mit diesen Druckschriften auseinanderzusetzen, sieht die Kammer im vorliegenden Fall keinen Grund, diese nicht in das Verfahren zuzulassen.

2.3 Die Kammer entschied daher, die Druckschriften (10) bis (13) in das Verfahren zuzulassen.

Hauptantrag

3. Unzureichende Offenbarung (Artikel 100(b) EPÜ)

3.1 Anspruch 1 des Streitpatents (siehe Punkt III supra) betrifft eine Oligosaccharidmischung, die im Wesentlichen durch vier Merkmale gekennzeichnet ist:

a) die Anzahl der Oligosaccharidfraktionen und deren Aufbau,

b) das Gesamtspektrum der in der Oligosaccharidmischung vorhandenen Oligosaccharide,

c) das Verhältnis von neutralen zu sauren Oligosacchariden und

d) die jeweiligen Mengen an Oligosacchariden, sofern diese aus mindestens zwei Tiermilchen gewonnen wurden.

3.2 Bevor sich die Kammer mit dem Einwand unter Artikel 100(b) EPÜ auseinandersetzt, sieht sie es im Hinblick auf die unterschiedlichen Auffassungen der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin zum Verständnis des Anspruchs 1 als angemessen an, zu den strittigen Punkten Stellung zu nehmen, soweit ihr dies erforderlich erscheint.

3.2.1 Anspruch 1 des Streitpatent bezieht sich auf ein Produkt, nämlich eine Mischung auf Basis von Oligosacchariden. Letztere werden, neben der Definition, dass sie aus zwei oder mehr Monosaccharideinheiten zusammengesetzt sind, auch dadurch definiert sind, dass sie "aus einer oder mehreren Tiermilch(en) gewonnen wurden". Nach Auffassung der Kammer entspricht diese Formulierung einer "product-by-process" Formulierung, die nach gängiger Rechtsprechung dahingehend zu verstehen ist, dass die Oligosaccharide einem Produkt entsprechen, das aus einer oder mehreren Tiermilch(en) gewonnen, d.h. erhalten, werden kann. Die so gekennzeichneten Oligosaccharide müssen somit in Tiermilchen vorkommen, aber nicht zwangsläufig aus diesen gewonnen werden.

3.2.2 Gemäß Anspruch 1 lautet das Merkmal a) "dass sie (die Oligosaccharidmischung, Anmerkung der Kammer) mindestens zwei Oligosaccharidfraktionen aufweist, die aus jeweils mindestens zwei unterschiedlichen Oligosacchariden aufgebaut sind, wobei freie Lactose nicht dazugehört". In keinem der weiteren Merkmale (Merkmale b) bis d)) wird Lactose nochmals erwähnt.

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin gilt die Bedingung, dass Lactose nicht berücksichtigt wird, für alle Merkmale des Anspruchs 1.

Nach Überzeugung der Kammer ist die Einschränkung, dass "freie Lactose nicht dazu gehört", zwar Teil des Merkmals a). Ob jedoch die gleiche Einschränkung auch für die anderen Merkmale gilt, geht aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 nicht klar hervor. An dieser Einschätzung kann auch der Hinweis der Beschwerdeführerin auf den Absatz [0019] des Streitpatents nichts ändern. Dieser beschreibt, dass die in den Tiermilchen vorhandene freie Lactose nicht zu den aus den Tiermilchen gewonnenen Oligosacchariden gezählt werde, welche die erfindungsgemäß eingesetzten Oligosaccharidfraktionen ausmachten, und dass in der erfindungsgemäßen Oligosaccharidmischung neben den erfindungsgemäß eingesetzten Oligosaccharidfraktionen freie Lactose vorhanden sein könne. Absatz [0019] bezieht sich somit auf die Oligosaccharide in den Oligosaccharidfraktionen und reflektiert nach Auffassung der Kammer das Merkmal a) des Anspruchs 1. Vom Gesamtspektrum der in der Oligosaccharidmischung vorhandenen Oligosaccharide oder dem Verhältnis von neutralen zu sauren Oligosacchariden ist im Absatz [0019] jedoch nicht die Rede.

3.2.3 Strittig zwischen den beiden Parteien war auch die Frage, ob Oligosaccharide, die in gebundener Form vorliegen, im Gesamtspektrum bzw. im von der Einspruchsabteilung und Beschwerdegegnerin als notwendig erachteten "Referenzspektrum" mit zu berücksichtigen seien. Dieser Punkt ist nach Auffassung der Kammer für die Beurteilung der Ausführbarkeit nicht von entscheidender Bedeutung. Die Kammer sah es im Hinblick auf die noch ausstehende Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit durch die Einspruchsabteilung, die in diesem Zusammenhang auch den technisch sinnvollen Gegenstand der Ansprüche zu ermitteln hat, nicht als notwendig an, sich zu diesem Punkt zu äußern.

3.2.4 Der Vollständigkeit halber stellt die Kammer fest, dass es zwischen den Parteien unstrittig war, dass die beanspruchte Oligosaccharidmischung weitere Komponenten enthalten kann.

3.3 Gemäß dem Streitpatent lassen sich die beanspruchten Oligosaccharidmischungen durch Isolierung von Oligosacchariden aus Tiermilchen und neues Abmischen herstellen. Ersteres erfolgt laut Patentschrift durch gängige Trennverfahren. So lassen sich Fette durch Dichtezentrifugation und Proteine durch Ultrafiltration oder Fällung abtrennen. Lactose kann durch Kristallisation, Filtrationsverfahren sowie eine Reihe bekannter chromatographischer Verfahren entfernt werden, wobei ihre Abtrennung nicht erforderlich ist. Mineralstoffe können durch Nanofiltration, Ionenaustausch und Umkehrosmose abgetrennt werden. Die Fraktionierung der Oligosaccharide kann durch die bereits für die Abtrennung der Lactose genannten chromatographischen Trennverfahren und/oder Anionen-Austausch sowie durch Filtrationsverfahren erfolgen (Absatz [0015] und Spalte 5, Zeilen 16-19 des Streitpatents). Darüber hinaus können auch gebundene Oligosaccharide durch chemische oder enzymatische Umsetzung aus Glycolipiden oder Glycoproteinen freigesetzt und isoliert werden (Spalte 5, Zeilen 25-32 des Streitpatents). Die erhaltenen Oligosaccharidfraktionen werden dann neu abgemischt mit dem Ziel, den Oligosaccharidmischungen der Humanmilch, insbesondere deren Verhältnis von neutralen zu sauren Oligosacchariden, möglichst nahe zu kommen (Absätze [0002]-[0007] des Streitpatents).

Dass es sich bei den im Streitpatent genannten Trennverfahren um übliche, dem Fachmann geläufige Verfahren handelt, mit deren Hilfe Oligosaccharidfraktionen, bei denen es sich auch um einzelne Oligosaccharide handeln kann (Beispiel 5 des Streitpatents), erhalten werden können, wurde weder von der Einspruchsabteilung noch von der Beschwerdegegnerin bestritten. Diese Vorgehensweise wird darüber hinaus im Streitpatent anhand von Beispielen illustriert, deren Nacharbeitbarkeit ebenfalls nicht in Frage gestellt wurde.

3.4 In der angefochtene Entscheidung hat die Einspruchsabteilung das Merkmal b), nämlich "dass sich das Gesamtspektrum der in der Oligosaccharidmischung vorhandenen Oligosaccharide von demjenigen der Tiermilch oder der Tiermilchen aus der oder aus denen die Oligosaccharidfraktionen gewonnen wurden, unterscheidet", als wesentliches Problem für die Ausführbarkeit angesehen. Nach ihrer Auffassung muss zur Erfüllung dieses Merkmals die hergestellte Oligosaccharidmischung mit einer qualitativ und quantitativ eindeutig definierten Referenzmischung, einem Standard, verglichen werden. Andernfalls könne der Fachmann nicht zuverlässig entscheiden, ob die von ihm nach den Angaben des Streitpatents hergestellte Mischung auch die gewünschte sei, beziehungsweise, ob eine bestimmte Oligosaccharidmischung unter die Ansprüche falle. Angaben hinsichtlich einer solchen Referenzmischung fehlten jedoch im Streitpatent.

3.5 Nach Überzeugung der Kammer bedarf es einer solchen "absoluten" Referenzmischung jedoch nicht.

Der Fachmann, der die Erfindung nacharbeiten möchte, wird zunächst eine oder mehrere Tiermilche wählen und ausgehend von dieser oder diesen mit den im Streitpatent offenbarten Trennverfahren Oligosaccharidfraktionen herstellen. Er kennt also sowohl sein Ausgangsmaterial als auch die von ihm durchgeführten Trennverfahren und die auf diese Weise erhaltenen Oligosaccharidfraktionen. Er kann damit zweifelsfrei sicherstellen, dass eine von ihm aus diesen Fraktionen neukomponierte Oligosaccharidmischung nicht mit der Oligosaccharidmischung seines Ausgangsmaterials identisch ist. Schwankungen in der Oligosaccharidmenge des Ausgangsmaterials, auf die die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung abstellte, sind in diesem Zusammenhang unerheblich. Die Kammer kann daher auch dem Argument der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung nicht folgen, dass der Fachmann aufgrund dieser Schwankungen nicht in der Lage sei, "alle in qualitativer Hinsicht unterschiedlichen und beanspruchten Oligosaccharidmischungen anhand der Angaben in der Patentschrift in die Hand zu bekommen".

3.6 Darüber hinaus teilte die Einspruchsabteilung auch die Position der Beschwerdegegnerin, dass nicht klar sei, was in qualitativer Hinsicht unter den Begriff "Gesamtspektrum" falle. Insbesondere sei nicht klar, ob Oligosaccharide, die gebunden in Form von Glycolipiden oder Glycoproteinen vorliegen, in das Gesamtspektrum einzubeziehen seien. Ohne eindeutige Angaben dazu, könne, nach Auffassung der Einspruchsabteilung, der Fachmann nicht entscheiden, ob die nach den Angaben der Patentschrift hergestellte Mischung auch die gewünschte sei. Die Beschwerdegegnerin war zudem der Meinung, dass auch Lactose in das Gesamtspektrum einzubeziehen sei (siehe Punkt VIII oben).

3.7 Nach Auffassung der Kammer zielt dieser Einwand im Wesentlichen auf die Frage ab, ob der Patentanspruch die von Artikel 84 EPÜ geforderte Deutlichkeit aufweist; da ein Mangel gemäß Artikel 84 EPÜ keinen Einspruchsgrund darstellt, ist er bei der Beurteilung der Ansprüche in der erteilten Fassung, und somit des vorliegenden Hauptantrags, nicht zu berücksichtigen. Die vorgebliche "Unklarheit" des Begriffs "Gesamtspektrum" bedeutet im vorliegenden Fall nach Überzeugung der Kammer nicht, dass der Fachmann die Erfindung nicht ausführen kann. Sie erfordert es lediglich, dass er jede technisch sinnvolle Deutungsmöglichkeit für den Begriff "Gesamtspektrum" berücksichtigt, die sich aus dem Wortlaut des Anspruchs ergibt, gegebenenfalls unter Heranziehen der gesamten Offenbarung der Patentschrift.

3.8 Des Weiteren brachte die Beschwerdegegnerin vor, dass der Fachmann, der eine Oligosaccharidmischung unbekannten Ursprungs in den Händen habe, nicht bestimmen könne, ob er nun die Erfindung ausgeführt habe oder nicht. Dies gelte umso mehr, sollte er die Oligosaccharide auf andere Weise als aus Tiermilchen gewonnen haben.

3.9 Dieser Einwand der Beschwerdegegnerin überzeugt schon deshalb nicht, weil, wie bereits in den Punkten 3.5 und 3.7 erörtert, der Fachmann, der die Erfindung nacharbeiten will, sein Ausgangsmaterial kennt und auch jederzeit beurteilen kann, ob seine nach Angaben des Streitpatents hergestellte Oligosaccharidmischung einer erfindungsgemäßen Mischung entspricht. Im Übrigen sind nach Auffassung der Kammer die Überlegungen der Beschwerdegegnerin bezüglich der Beurteilung einer dem Fachmann vorliegenden Oligosaccharidmischung unbekannten Ursprungs, d.h. der Klärung der Frage, ob ein solches Produkt, sofern es dies tatsächlich vor dem Anmelde- bzw. Prioritätszeitpunkt bereits gegeben hätte, unter den Anspruch fiele, nicht unter Artikel 100(b) EPÜ abzuhandeln, sondern wären unter Artikel 54 EPÜ zu berücksichtigen. Auch der Einwand, dass es dem Fachmann nicht möglich sei, die beanspruchten Oligosaccharidmischungen auf andere Weise herzustellen als aus Tiermilch oder Tiermilchen, da er dann nicht wisse, wie er das Merkmal b) erfüllen solle, ist im vorliegenden Fall von keiner Bedeutung, da, wie bereits in Punkt 3.5 erörtert, die beanspruchten Oligosaccharidmischungen anhand der Angaben im Streitpatent ausgehend von Tiermilchen zweifellos hergestellt werden können. Dem Fachmann steht damit mindestens ein Weg zur Ausführung der Erfindung zur Verfügung.

Bezüglich der erteilten Ansprüche 2-9 gab es keine zusätzlichen Einwände seitens der Beschwerdegegnerin zur Ausführbarkeit.

3.10 Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass keine Gründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung entgegenstehen.

4. Zurückverweisung

In der angefochtenen Entscheidung hat die erste Instanz das Patent allein auf Grund mangelnder Ausführbarkeit widerrufen. Bezüglich der weiteren Einspruchsgründe hat die Einspruchsabteilung sich in ihrer Entscheidung nicht geäußert. Gemäß Artikel 111(1) EPÜ liegt es im Ermessen der Kammer, ob sie eine abschließende Entscheidung über die Patentfähigkeit fällt oder die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Vorinstanz zurückverweist. Aufgabe der Beschwerdekammern ist jedoch primär die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung. Die Kammer verweist daher in Ausübung ihrer Befugnisse nach Artikel 111(1) EPÜ die Angelegenheit zur Fortsetzung der Prüfung an die erste Instanz zurück.

Hilfsanträge 1-4

5. Im Hinblick auf die Tatsache, dass der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung gemäß dem Hauptantrag keine Einspruchsgründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ entgegenstehen, und dass die Kammer entschieden hat, die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen, besteht keine Veranlassung, über die Hilfsanträge 1-4 zu entscheiden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren

Behandlung zurückverwiesen.

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