European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2014:T229109.20140919 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 19 September 2014 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 2291/09 | ||||||||
Anmeldenummer: | 02710669.9 | ||||||||
IPC-Klasse: | C12N 7/04 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Attenuierte Lebendimpstoffe | ||||||||
Name des Anmelders: | Heinz, Franz Xaver Mandl, Christian |
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Name des Einsprechenden: | Intervet International B.V. | ||||||||
Kammer: | 3.3.08 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Berücksichtigung eines im Beschwerdeverfahren eingereichten Dokuments - (nein) Ausführbarkeit - (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die am 24. September 2009 zur Post gegebene Entscheidung einer Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes nach Artikel 101(2) EPÜ, mit der der Einspruch gegen die Erteilung des europäischen Patents Nr. 1 373 478 (Anmeldenummer 02710669.9) mit der Bezeichnung "Attenuierte Lebendimpfstoffe" zurückgewiesen wurde.
II. Das Streitpatent wurde mit 14 Ansprüchen erteilt. Die unabhängigen Ansprüche 1, 10 und 12 lauten wie folgt:
"1. Attenuierter Flaviviren-Lebendimpfstoff, umfassend eine Flavivirus-Mutante, dadurch gekennzeichnet, dass die Flavivirus-Mutante eine Deletion im Kapsidprotein von zumindest mehr als 4 aufeinanderfolgenden Aminosäuren aufweist, wobei der carboxy-terminale hydrophobe Bereich von der Deletion nicht betroffen ist.
10. Flavivirus-Impfstoff, dadurch gekennzeichnet, dass er eine Nukleinsäure umfasst, die für ein deletiertes Kapsidprotein, wie in einem der Ansprüche 1 bis 5 definiert, kodiert.
12. Verfahren zur Herstellung eines Lebendimpfstoffes nach einem der Ansprüche 1 bis 9, gekennzeichnet durch die folgenden Schritte:
Bereitstellen eines Flavivirus oder einer Flavivirus-Nukleinsäure, wobei das Flavivirus bzw. die Flavivirus-Nukleinsäure eine Deletion im Kapsidprotein von zumindest mehr als 4 aufeinanderfolgenden Aminosäuren, wie in einem der Ansprüche 1 bis 5 definiert, aufweist,
Vermehren des Flavivirus oder der Flavivirus-Nukleinsäure in geeigneten Wirtszellen,
Gewinnen der durch die Wirtszellen vermehrten Viruspartikel und
Aufarbeiten der Viruspartikel zu einem Lebendimpfstoff."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 9 sind auf verschiedene Ausführungsformen des attenuierten Flaviviren-Lebendimpfstoffes gemäß Anspruch 1 gerichtet. Gegenstand der abhängigen Ansprüche 11 und 13 ist eine besondere Ausführungsform des Flavivirus-Impfstoffes von Anspruch 10 bzw. eine Variante des Verfahrens nach Anspruch 12. Der unabhängige Anspruch 14 ist auf die Verwendung einer Flavivirus-Nukleinsäure zur Herstellung eines Impfstoffes zur Prävention von Flavivirus-Infektionen gerichtet.
III. Der Einspruch gegen die Erteilung des Patents wurde auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ und auf 100 b) EPÜ gestützt.
IV. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass die von der Einsprechenden geltend gemachten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstehen, weil das Streitpatent die beanspruchte Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 100 b) EPÜ). Außerdem befand die Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents auf erfinderischer Tätigkeit beruht (Artikel 100 a) i.V.m. 56 EPÜ).
Die Feststellung zu Artikel 100 b) EPÜ begründete die Einspruchsabteilung damit, es sei zwar zutreffend, dass ab einem gewissen Deletionsumfang die Passagierfähigkeit der Flavivirus-Mutanten in BHK-21-Zellen eingeschränkt oder gar nicht mehr gegeben sei, doch könnten die Mutanten in anderen Zellkulturen repliziert werden und für die Gewinnung von attenuierten Lebendimpfstoffen verwendet werden. In keinem der entgegengehaltenen Dokumente (1), (3), (4), (9), (15), (17) und (18) (siehe Absatz X unten) werde solchen Mutanten die Wirksamkeit als attenuierte Lebendimpfstoffe gegen Flaviviren abgesprochen. Den entgegengehaltenen Dokumenten (2), (3) und (18) (siehe Absatz X unten) sei kein eindeutiger Hinweis zu entnehmen, dass erfindungsgemäße attenuierte Lebendimpfstoffe nicht für Flaviviren der Genera Pestivirus und Hepacivirus hergestellt werden können.
V. In der von der Beschwerdeführerin fristgemäß eingereichten Beschwerdebegründung wurde lediglich die Feststellung der Einspruchsabteilung zu Artikel 100 b) EPÜ angefochten. Die Beschwerdeführerin beantragte hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
VI. Die Beschwerdegegner (Patentinhaber) erwiderten auf die Beschwerdebegründung und reichten ein neues Beweismittel (Dokument (20); siehe Absatz X unten) ein. Auch sie beantragten hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
VII. Die Beteiligten wurden zur mündlichen Verhandlung geladen. In einer der Ladung beigefügten Mitteilung gemäß Regel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zu den strittigen Punkten hinsichtlich des Einwands gemäß Artikel 100 b) EPÜ) mit.
VIII. Mit Schreiben vom 14. August 2014 teilten die Beschwerdegegner der Kammer mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen würden, sie nahmen jedoch ihren diesbezüglichen Antrag nicht zurück.
IX. Die mündliche Verhandlung fand am 19. September 2014 in Abwesenheit der Beschwerdegegner statt.
X. In dieser Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:
(1): R. M. Kofler et al., April 2002, Journal of Viology, Vol. 76, Nr. 7, Seiten 3534 bis 3543;
(2): J. Xiang et al., Oktober 2000, Journal of Virology, Vol. 74, Nr. 19, Seiten 9125 bis 9133;
(3): R. M. Kofler et al., Januar 2003, Journal of Virology, Vol. 77, Nr. 1, Seiten 443 bis 451;
(4): R. M. Kofler et al., 17 Februar 2004, PNAS, Vol. 101, Nr. 7, Seiten 1951 bis 1956;
(8): A. N. Varnavski und A. A. Khromykh, 1999, Virology, Vol. 255, Seiten 366 bis 375;
(9): C. W. Mandl et al., 1988, Virology, Vol. 166, Seiten 197 bis 205;
(11):J. H. Aberle et al., Dezember 2005, Journal of Virology, Vol. 79, Nr. 24, Seiten 15107 bis 15113;
(13):Erklärung von Dr Christian W. Mandl von 19 October 2006;
(14):P. W. Mason et al., 2006, Virology, Vol. 351, Seiten 432 bis 443;
(15):W. Zhu et al., 2007, Virus Research, Vol. 126, Seiten 226 bis 232;
(16):C. G. Patkar et al., 4 April 2007, Journal of Virology, Online-Veröffentlichung;
(17):I. Reimann et al., 2007, Virology, Vol. 366, Seiten 377 bis 386;
(18):"Expert Declaration" von Prof. Dr. T. H. Ruemenapf vom 26. Februar 2009;
(20):US 7,244,434;
XI. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Der Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ stehe der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegen. In der angefochtenen Entscheidung habe die Einspruchsabteilung bei der Beurteilung des Einspruchsgrunds des Artikels 100 b) EPÜ den Begriff "attenuierter Flaviviren-Lebendimpstoff" in Anspruch 1 falsch ausgelegt.
Im Streitpatent werde offenbart, dass Deletionen von mehr als 20 zusammenhängenden Aminosäuren zu einem Verlust der Passagierfähigkeit der Viren führen könnten. Dieses Problem könne laut Streitpatent durch Zusatzmutationen gelöst werden. Dies sei nicht immer der Fall. So zeige Dokument (4), dass die Deletionsmutanten C(Delta28-89) und C(Delta28-89)-S des Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus (FSMEV) zwar replikationsfähig seien, dass deren Nachkommen jedoch nicht infektiös seien und die Infektiosität auch nicht durch Zusatzmutationen wiedererlangen könnten. Auch wenn ein nicht-infektiöses Virus möglicherweise eine Immunantwort auslösen könne, sei es jedoch nicht als attenuierter Lebendimpfstoff wie in Anspruch 1 des Patents beansprucht anzusehen.
Auch Deletionen von 20 Aminosäuren oder weniger könnten die Replikationsfähigkeit von Flaviviren beeinträchtigen. So zeige Dokument (1) (siehe Seite 3538, linke Spalte, erster Absatz), dass die FSME-Deletionsmutante C(Delta28-48) frische BHK-21-Zellen nicht infizieren könne. Dem Dokument (3) (siehe Figur 3, Seite 448) könne entnommen werden, dass die Deletionsmutante C(Delta28-46) nur durch eine Zusatzmutation (P57L) hätte überleben können. Auch die in Dokument (15) beschriebene Mutante C(Delta42-59) mit einer deutlich unter 20 Aminosäuren großen Deletion sei nicht in der Lage gewesen, sich zu vermehren. Nach Meinung der Autoren des Dokuments (15) bestätigten diese Ergebnisse die wichtige Rolle des Helix III-Bereiches des Kapsidproteins bei der Virusbildung.
Obwohl im Streitpatent und in späteren Veröffentlichungen der Erfinder nur Mutanten mit Deletionen im Helix I-Bereich des Kapsidproteins, jedoch keine mit Deletionen in den Helix II- und Helix III-Bereichen beschrieben werden, sei der Gegenstand der Ansprüche nicht auf Flavivirus-Impfstoffe beschränkt, bei denen das Kapsidprotein des Virus eine Deletion im Helix I-Bereich aufweist. Auch wenn Deletionsmutationen im Helix I-Bereich unter Umständen durch andere Mutationen in den Helix II- und Helix III-Bereichen kompensiert werden könnten, könnten Viren mit Deletionen im Kapsidprotein, die wie bei der Mutante C(Delta28-89) über den Helix I-Bereich hinausgehen, die Infektiosität nicht wieder erlangen.
Die Aussagen auf Seite 5, Absatz 36 des Patents in Bezug auf Deletionen in dem 20 Aminosäuren umfassenden amino-terminalen Bereich des Kapsidproteins träfen nur für das FSME-Virus zu, nicht jedoch für alle Flaviviren, insbesondere nicht für andere Mitglieder des Genus Flavivirus und für Mitglieder der Genera Pestivirus und Hepacivirus. Denn nur beim Kapsidprotein des FSME-Virus fehlten ein bei Flaviviren konservierter hydrophobischer Bereich sowie eine konservierte Sequenz um die Aminosäure an Position 16 des amino-terminalen Bereichs (siehe Dokument (9), Seite 203, rechte Spalte, 3. Absatz). Wie aus der Figur 2 des Streitpatents ersichtlich gebe es zwischen den drei klar definierten hydrophoben Bereichen (Helix I bis III) bei Flaviviren und dem einzelnen hydrophobischen Bereich bei Pestiviren keine Ähnlichkeit hinsichtlich der Position, Größe oder Sequenz. Während die FSMEV-Deletionsmutante C(Delta28-46), bei der 18 Aminosäuren des Kapsidproteins, darunter 12 hydrophobe, fehlen, mit einer einzelnen spontanen Zusatzmutation lebensfähig sei, sei eine Deletionsmutante des Bovine Virusdiarrhoe-Virus (BVDV) mit einer Deletion von 42 Aminosäuren, darunter 7 hydrophobe, nicht lebensfähig (siehe Dokument (17)). Dies sei ein Beweis dafür, dass die Lehre des Streitpatents nicht auf Pestiviren anwendbar sei. Die Dokumente (4) und (17), auf die sich die Einspruchsabteilung bezüglich der Übertragbarkeit der Lehre des Patents auf Hepaciviren und Pestiviren stützte, könnten nicht als Beweis für die Ausführbarkeit der Erfindung gemäß Anspruch 1 über den gesamten Anspruchsumfang dienen, weil die darin beschriebenen Versuche nicht mit lebensfähigen attenuierten Viren, sondern mit subgenomischen viralen Partikeln (sogenannten Replikons) oder nicht-infektiöser RNA durchgeführt worden seien.
Im Streitpatent wurden zur Identifizierung von Zusatzmutationen bei FSMEV Babymäuse mit dem Virus intracranial inokuliert. Das Babymaus-Modell könne bei Pestiviren nicht zur Anwendung kommen, weil Pestiviren keine neurotropen Viren seien. Mangels Tiermodellen müsste der Fachmann zum Auffinden von Zusatzmutationen bei Pestiviren und Hepaciviren Zellkulturen verwenden. Sowohl Dokument (17) als auch Dokument (18) zeigten, dass diese Vorgehensweise bei Pestiviren nicht zum Erfolg geführt habe.
XII. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen trugen die Beschwerdegegner schriftlich folgendes vor:
Die Beschwerdeführerin interpretiere den Begriff des "attenuierten Lebendimpfstoffes" stets dahingehend, dass die Flavivirus-Mutanten zwingend in BHK-21-Zellen passagierbar sein müssen. Dies sei unzutreffend. Die Passagierbarkeit sei kein essentielles Merkmal der erfindungsgemäßen Deletionsmutanten. Wesentlich sei dagegen, dass die Deletionsmutanten im Geimpften selbst vermehrt werden und dadurch die völlig nativ vorliegenden, in vivo produzierten Antigene im Geimpften entstehen. Speziell die Dokumente (4) und (11) zeigten, dass mit nicht-infektiösen Mutanten eine Vermehrung in vivo und damit verbunden eine für Lebendimpfstoffe typische Immunantwort erzielt werde.
Virale Replikons, die im Geimpften zur Expression der die gewünschte Immunantwort auslösenden viralen Proteine führen, seien explizit als bevorzugte Ausführungsform der Erfindung ausgewiesen (siehe Absatz [0041] des Streitpatents) und würden, wie in Dokument (4) gezeigt, als Flavivirus-Impfstoff ausgezeichnet funktionieren. Deletionsmutanten, die in BHK-21-Zellen nicht infektiös sind, könnten in speziell modifizierten BHK-21-Zellen oder in einem anderen Zellsystem durchaus passagierbar sein (siehe Dokument (3)). Eine weitere Möglichkeit, die zum allgemeinen Wissen des Fachmanns gehöre, sei die Verwendung von Helfer-Zellen oder Helfer-Viren wie in den Dokumenten (8) und (14) beschrieben. Darüber hinaus stelle das Streitpatent noch eine weitere Methode zur Verfügung: die in den Beispielen 5 und 6 beschriebene Wiederherstellung der Passagierbarkeit mit Hilfe von Zusatzmutationen.
An der Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung für alle Flaviviren sei nicht zu zweifeln. Die Anwendbarkeit auf das West-Nil-Virus (Dokumente (13) und (14)), Gelbfieber-Virus (Dokumente (14) und (16)) und Dengue-Virus (Dokument (15)) sei belegt. Unterschiede in der Struktur des Kapsidproteins zwischen verschiedenen Flaviviren bestanden zwar, hätten aber keinerlei Bedeutung in Bezug auf die Anwendbarkeit der vorliegenden Erfindung auf andere Flaviviren.
XIII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung und den Widerruf des Patents.
XIV. Die Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragten schriftlich die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
Nichtzulassung der verspätet vorgebrachten Beweismittel ins Verfahren
1. Gemäß Artikel 12(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) liegen dem Beschwerdeverfahren zugrunde: a) die Beschwerde und die Beschwerdebegründung nach Artikel 108 EPÜ; b) die Erwiderung der anderen Beteiligten, die innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Beschwerdebegründung einzureichen sind, und c) Mitteilungen der Kammer und Antworten hierauf, die gemäß den Anweisungen der Kammer eingereicht worden sind. Dieses gesamte Vorbringen wird, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht, von der Kammer berücksichtigt. Die Kammer ist jedoch befugt, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im vorangegangenen Einspruchs- bzw. Prüfungsverfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind (vgl. Artikel 12(4) VOBK).
2. Im vorliegenden Fall haben die Beschwerdegegner mit ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung ein neues Dokument (Dokument (20); siehe Absatz X oben) eingereicht. Es wurden jedoch keine Gründe angegeben, warum dieses Dokument nicht im Einspruchsverfahren eingereicht werden konnte. Auf einen entsprechenden Hinweis der Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK sind die Beschwerdegegner nicht eingegangen.
3. Der Kammer sind keine Gründe für die verspätete Einreichung des Dokuments (20) ersichtlich. Da der Inhalt dieses Dokuments nach Ansicht der Kammer nicht über den Inhalt des im Einspruchsverfahren eingereichten Dokuments (17) (siehe Absatz X oben) hinausgeht, können aus dem Dokument (20) keine neuen Erkenntnisse für das vorliegende Verfahren gewonnen werden. Aus diesen Gründen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12(4) VOBK das Dokument (20) nicht ins Verfahren zugelassen.
Artikel 100 b) EPÜ
4. Im Beschwerdeverfahren hat die Beschwerdeführerin ihren Einwand, ein Fachmann könne die beanspruchte Erfindung nicht über den gesamten Umfang des Anspruchs 1 ausführen, aufrechterhalten und die Begründung der Einspruchsabteilung für ihre Feststellung zu Artikel 100 b) EPÜ in zwei Punkten angegriffen. Sie argumentierte, dass i) manche der im Anspruch 1 definierten Flavivirus-Mutanten nicht passagierbar seien, und ii) die Offenbarung im Streitpatent auf FSME-Mutanten beschränkt sei und den Fachmann nicht in die Lage versetze, erfindungsgemäße attenuierte Lebendimpfstoffe für andere Flaviviren, insbesondere solche der Gattungen Hepacivirus und Pestivirus herstellen zu können.
5. Aus folgenden Gründen teilt die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin nicht.
6. Den Einwänden der Beschwerdeführerin nach Artikel 100 b) EPÜ liegt eine Auslegung des in Anspruch 1 des Streitpatent enthaltenen Begriffs "Lebendimpfstoff" zugrunde, die aus Sicht der Kammer nicht zutreffend ist. Auf dem Gebiet der viralen Impfstoffe versteht man unter "Lebendimpfstoff" (im Englischen "live vaccine") ein Impfstoff, der replikationsfähige Viruspartikel enthält, die zwar im geimpften Subjekt eine Immunantwort auslösen, aber so abgeschwächt sind, dass sie eine Krankheit nicht mehr auslösen können.
7. Wesentlich für die Wirkung einer Flavivirus-Mutante als attenuierter Lebendimpfstoff wie in Anspruch 1 des Streitpatents definiert sind drei Eigenschaften: i) die Replikationsfähigkeit im geimpften Subjekt, ii) die Fähigkeit, eine spezifische Immunantwort auszulösen, und iii) die Attenuierung, d.h. die Verminderung der Virulenz. Die Beschwerdeführerin hat die letzteren zwei Eigenschaften der in Anspruch 1 definierten Deletionsmutanten nicht in Frage gestellt. Sie war jedoch der Meinung, dass die Replikationsfähigkeit eines Virus in vivo mit der Passagierbarkeit in einer Zellkultur, d.h. mit der Fähigkeit eines Virus, sich durch Infektion von weiteren Kulturzellen zu vermehren, gleichzusetzen ist. Dem kann die Kammer nicht zustimmen. Zwar setzt die Passagierbarkeit eines Virus in einer Zellkultur voraus, dass das virale Genom in den Zellen repliziert wird, sie hängt jedoch von weiteren Faktoren ab, z.B. ob das Virus an die Zellmembran andocken und die virale Nukleinsäure einschleusen kann, welche für die Wirkung der modifizierten Viren als attenuierter Lebendimpfstoff in einem geimpften Subjekt nicht wesentlich sind.
8. Die Tatsache, dass manche Flavivirus-Mutanten, bei denen mehr als vier aufeinanderfolgende Aminosäuren im Kapsidprotein fehlen, insbesondere solche mit größeren Deletionen in einer internen hydrophoben Proteindomäne, nicht passagiert und daher auch nicht in Zellkultur vermehrt werden können, wurde von den Beschwerdegegnern nicht bestritten. Solche Mutanten werden im Streitpatent ausdrücklich als eine besondere Ausführungsform der Erfindung erwähnt. Da die Passagierbarkeit dieser Deletionsmutanten in einer Zellkultur für die Herstellung des erfindungsgemäßen Impfstoffs von Bedeutung sein könnte, wird im Streitpatent eine Methode offenbart, wie sie zu passagierbaren Virus-Mutanten gemacht werden können (siehe Absatz [0033] des Streitpatents). Diese Methode wird in den Beispielen 5 und 6 des Streitpatents exemplifiziert.
9. Als weitere Methode zur Lösung des Passagierbarkeitsproblems hat die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung die Verwendung von Helfer-Zellen bzw. -Viren genannt. Die Eignung dieser Methode zur Lösung des Passagierbarkeitsproblems hat die Beschwerdeführerin nicht bestritten. Ebensowenig hat sie bestritten, dass die Methode zum allgemeinen Wissen des Fachmanns am Anmeldetag gehörte.
10. Somit standen dem Fachmann am Anmeldetag mindestens zwei Methoden zur Verfügung, die im Falle einer durch die Deletion im Kapsidprotein beeinträchtigten Passagierfähigkeit die Herstellung des erfindungsgemäßen Flavivirus-Lebendimpfstoffs ermöglichen.
11. Die Kammer vermag den von der Beschwerdeführerin entgegengehaltenen Dokumenten (1), (3), (4) und (15) keine Angaben zu entnehmen, die den Einwand stützen, die darin beschriebenen Flavivirus-Mutanten könnten in dem geimpften Subjekt nicht replizieren bzw. eine Immunantwort hervorrufen und eigneten sich daher nicht als Lebendimpfstoff.
12. Wie von der Beschwerdeführerin selbst vorgetragen, sind die in Dokument (4) beschriebenen FSMEV-Deletionsmutanten C(Delta28-89) und C(Delta28-89)-S nicht infektiös, aber dennoch replikationsfähig (siehe Seite 1953, rechte Spalte, letzter Satz "Both mutants were found to be competent for replication and translation but not found to yield infectious progeny ...").
13. In Dokument (1) wird eine Virus-Mutante beschrieben, die BHK-21-Zellen in Zellkultur nicht infizieren konnte. Diese Mutante produzierte jedoch erhebliche Mengen an nicht-infektiösen subviralen Partikeln (siehe Zusammenfassung). Im Gegensatz zur Meinung der Beschwerdeführerin ist die Tatsache, dass es sich um subgenomische virale Partikel und nicht um vollständige Viren handelt, irrelevant, solange die Partikel replikationsfähig sind und eine Immunantwort auslösen können. Dies ist von der Beschwerdeführerin nicht bestritten worden.
14. Dokument (3), eine Veröffentlichung der im Streitpatent genannten Erfinder, beschreibt Mutationen, die die Passagierbarkeit von FSMEV-Mutanten mit großen Deletionen im Kapsidprotein wiederherstellen. Somit bestätigen die darin gezeigten Ergebnisse die Aussagen in Absatz [0033] des Patents (siehe Absatz 9 oben). Ein Beweis zur Stützung der Einwände der Beschwerdeführerin vermag die Kammer darin nicht zu sehen.
15. Dokument (15) beschreibt Deletionsmutanten des Kapsidproteins des Dengue-Virus Typ 2. Wie bei FSMEV-Deletionsmutanten sind Dengue-Virus-Mutanten mit einer umfangreichen Deletion im Kapsidprotein (C(Delta42-59)) nicht infektiös, dennoch lösen sie eine starke Immunantwort in Mäusen aus und sind daher erfolgsversprechende Kandidaten für einen attenuierten Lebendimpfstoff gegen Dengue (siehe Zusammenfassung). Dem auf Dokument (15) gestützten Argument der Beschwerdeführerin, der Gegenstand des Streitpatents sei auf die im Patent beschriebenen Flavivirus-Impfstoffe mit Deletionsmutationen im Helix I-Bereich des Kapsidproteins zu beschränken, kann die Kammer nicht folgen. Nach Meinung der Kammer kann dem Dokument (15) nicht entnommen werden, dass Flavivirus-Mutanten mit einer Deletion, die über den Helix I-Bereich des Kapsidproteins hinausgeht, nicht als attenuierter Lebendimpfstoff verwendet werden können.
16. Zur Stützung ihres weiteren Einwands, die Offenbarung im Streitpatent versetze den Fachmann nicht in die Lage, erfindungsgemäße attenuierte Lebendimpfstoffe für Viren der Gattungen Hepacivirus und Pestivirus herstellen zu können, hat die Beschwerdeführerin auf die Dokumente (4), (17) und (18) hingewiesen. Nach Auffassung der Kammer belegt keines der beiden Dokumente, dass die Lehre der Erfindung auf Hepaciviren und Pestiviren nicht erfolgreich angewendet werden kann.
17. Bezüglich des Dokuments (4) wird auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen (siehe insbesondere Absatz 12 oben). Dokument (17), das die erfolgreiche Verwendung von Deletionsmutanten des Bovine Virusdiarrhoe-Virus (BVDV) als attenuierter Lebendimpfstoff beschreibt, kann das Argument der Beschwerdeführerin auch nicht stützen. Vielmehr wiederlegt es dieses. In Dokument (17) wird ausgeführt:
"Infection of bovine cell cultures with rescued viruses resulted in one cycle of replication without release of infectious virus particles, and no genetic reversion of the generated viruses was detected. Packaged replicons with a deletion within the capsid-coding region were characterized in vivo in immunization and challenge trials. Following immunization of calves with the replication-deficient virus, neither virus shedding nor viremia was detected. After challenge infection with virulent BVDV, all vaccinates were completely protected from disease ..." (siehe Zusammenfassung)
"In conclusion, we describe here the construction and successful testing of a new pestivirus vaccine prototype, which combines the safety aspects of inactivated vaccines with the efficacy of an attenuated, modified live vaccine. In contrast to other flavivirus pseudovirion models, protective immunity could be induced in a natural virus-host system using intramuscular immunization. Furthermore, the reported type of vaccine virus could also serve as a model for similar capsid-deleted replicons for related viruses, such as HCV. Since efficiently replicating systems for HCV are now available (Lindenbach et al., 2005), our data suggest that the construction and testing of HCV pseudovirions for immunization might be a goal that is worthwhile pursuing" (siehe Seite 383, rechte Spalte, zweiter vollständiger Absatz)
18. Dem Argument der Beschwerdeführerin, die im Dokument (17) beschriebenen Versuche seien nicht als Beweis für die Anwendbarkeit der Lehre der Streitpatents auf Hepaciviren und Pestiviren geeignet, weil sie mit Replikons durchgeführt worden sind, kann die Kammer nicht folgen. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin ist die Kammer der Auffassung, dass die im Dokument (17) beschriebenen subgenomischen viralen Partikel als attenuierter Lebendimpfstoff anzusehen sind, weil sie repliziert werden können und im geimpften Subjekt eine Immunantwort auslösen.
19. In der Erklärung von Herrn Prof. Ruemenapf (Dokument (18)), auf die sich die Beschwerdeführerin stützt, werden Deletionen im Kapsidprotein zweier Pestiviren, das Bovine Virusdiarrhoe-Virus und das Schweinepest-Virus beschrieben. Die Versuche zeigen, dass, obwohl das Genom der Virusmutanten in geeigneten Zellen repliziert wird und virale Antigene produziert werden, die Zellen keine infektiösen ("viable") Viren freisetzen, d.h. die Virusmutanten sind nicht passagierbar. Dies bedeutet jedoch nicht - und wird auch von Herrn Prof. Ruemenapf nicht behauptet -, dass solche Virusmutanten nicht als attenuierter Lebendimpfstoff verwendet werden können.
20. Zusammenfassend stellt die Kammer fest, dass angesichts der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Argumente bezüglich des Artikels 100 b) EPÜ die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und der Widerruf des Patents nicht gerechtfertigt sind.
Artikel 100(a) i.V.m. 56 EPÜ
21. Die Beschwerdeführerin hat die Feststellung der Einspruchsabteilung, der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents in der erteilten Fassung beruhe auf erfinderischer Tätigkeit, nicht angefochten. Die Kammer hat daher keine Veranlassung, die von der Einspruchsabteilung für diese Feststellung angegebenen Gründe zu überprüfen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.