European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2011:T181409.20110331 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 31 März 2011 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1814/09 | ||||||||
Anmeldenummer: | 04712040.7 | ||||||||
IPC-Klasse: | G06F 13/42 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zum Übertragen von Daten über einen Feldbus der Prozessautomatisierungstechnik | ||||||||
Name des Anmelders: | Endress + Hauser GmbH + Co. KG Endress + Hauser (Deutschland) AG + Co. KG Einsprechende I: ABB AG Einsprechende II: KROHNE Messtechnik GmbH & Co. KG |
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Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.5.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Mit Beschwerdebegründung eingeführte Entgegenhaltung - zugelassen Recht auf zwei Instanzen zu jedem Gesichtspunkt - verneint Erfinderische Tätigkeit - bejaht (nach Änderung) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerden der beiden Einsprechenden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Einsprüche gegen das Patent
B1: EP-B1-1 595 214,
"Verfahren zum Übertragen von Daten über einen Feldbus der Prozessautomatisierungs technik", zurückzuweisen. Die Einspruchsabteilung sah das Verfahren nach dem erteilten Anspruch 1 als ursprünglich und ausreichend offenbart, neu und nicht-naheliegend an.
Die beschwerdeführenden Einsprechenden beantragen, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent zu widerrufen.
II. Folgende Dokumente zum Stand der Technik, die erstinstanzlich von der Einsprechenden I (EI) und der Einsprechenden II (EII) genannt wurden, liegen auch der Entscheidung der Beschwerdekammer zu Grunde:
EI/D1: Foundation Fieldbus Technical Overview, FD-043 Revision 2.0, Copyright 1996 (Rev. 1998) Fieldbus Foundation, Austin, Texas (USA);
EI/D3: Profibus Profile HART, Version 1.0, Juli 2001, Bestellnummer 3.102, Seiten 1 bis 17, Copyright 2001 Profibus Nutzerorganisation e.V., Karlsruhe (DE);
EII/D1': EP-A1-1 312 992 (nachveröffentlichte rangältere europäische Patentanmeldung).
In ihrer Beschwerdebegründung nannte die Einsprechende I erstmals die Druckschrift
EI/D7: R. Huck, E/A-Kolonien im Ex-Bereich, iee, 44. Jahrgang 1999, Nr. 10, Seiten 22 bis 24.
III. Einwände der Beschwerdeführerinnen gegen das Streitpatent
a) Die erteilte Fassung des Anspruchs 1 gehe über die ursprüngliche Offenbarung hinaus. Gemäß dem ursprünglichen Anspruch 1, siehe Seite 8 der veröffentlichten Anmeldung
A1: WO-A1-2004/075069,
betreffe das Datenübertragungsverfahren ein "Feldgerät", während der erteilte Anspruch 1 statt dessen einen "Sensor/Aktor" nenne. Da diese Begriffe nicht synonym verwendbar seien, liege eine unzulässige Erweiterung vor, Artikel 100 c) EPÜ 1973.
b) Soweit den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen keine eindeutige Interpretation des Begriffs "Sensor/Aktor" entnommen werden könne, bestehe ein Klarheitsmangel (Artikel 84 EPÜ 1973).
c) Da offen bleibe, wie der Sensor/Aktor über den Feldbus kommunizieren solle, bestehe auch ein Offenbarungs mangel (Artikel 100 b) EPÜ 1973).
d) Dem Verfahren nach dem erteilten Anspruch 1 mangele es an Neuheit (Artikel 54 (1) (2) EPÜ 1973) gegenüber dem Profibus-Standard gemäß EI/D3, gegenüber seiner Ausführungsform gemäß EI/D7 und gegenüber der rangälteren europäischen Patentanmeldung EII/D1' (Artikel 54 (3) EPÜ).
e) Jedenfalls liege keine erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ 1973) gegenüber dem Profibus gemäß EI/D3 oder EI/D7 vor. Die parallele Verwendung unterschiedlicher Übertragungsprotokolle für unterschiedliche Anwendungsprogramme eines Feldgeräts liege nahe. Dabei müsse dasjenige Übertragungsprotokoll, das sich vom Feldbusprotokoll unterscheide, zwangsläufig auf Letzteres abgebildet werden. Zum Beispiel die Druckschrift EI/D1 offenbare, dass Protokolldaten eines Feldbusses auf die Protokolldaten eines zweiten Busses abgebildet würden. Die umgekehrte Alternative übersteige nicht das übliche fachmännische Handeln.
Das nicht von den Patentinhaberinnen erfundene Internet-Protokoll eigne sich objektiv auch für Steuerungsaufgaben in der Prozessautomatisierungstechnik. Daher liege keine erfinderische Auswahl darin, als zweites Übertragungsprotokoll das Internet-Protokoll zu verwenden.
IV. Die beiden Patentinhaberinnen als Beschwerdegegnerinnen beantragen die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines geänderten Anspruchssatzes und einer geänderten Beschreibung, die in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereicht wurden. Der geänderte Anspruch 1 lautet:
"1. Verfahren zum Übertragen von Daten über einen Feldbus der Prozessautomatisierungstechnik mit einem Sensor/Aktor (F1), in dem ein erstes Anwendungsprogramm (A1) für ein erstes Feldbusprotokoll abläuft, das Daten in Feldbustelegrammen über eine Feldbusschnittstelle (FS) des Sensors/Aktors (F1) mit dem Feldbus (A, B) nach dem ersten Feldbusprotokoll austauscht, wobei ein zweites Anwendungsprogramm (A2) für ein zweites Übertragungsprotokoll im Sensor/Aktor (F1) vorgesehen ist, wobei es sich bei dem zweiten Übertragungsprotokoll um das Internet Protokoll, bekannt auch als IP-Standard, handelt, wobei die Protokolldaten des Internet Protokolls auf das erste Feldbusprotokoll abgebildet werden und als Feldbustelegramme über die Feldbusschnittstelle (FS) übertragen werden."
V. Für den Fall, dass die Kammer das erst im Beschwerdeverfahren eingeführte Dokument EI/D7 zuzulassen beabsichtige, beantragen die Beschwerdegegnerinnen die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung, um eine Erörterung des zusätzlichen Standes der Technik durch zwei Instanzen zu ermöglichen.
VI. Argumente der Beschwerdegegnerinnen
a) Der Begriff "Sensor/Aktor" beruhe auf ursprünglicher Offenbarung und konkretisiere lediglich den Begriff "Feldgerät" (A1, Seite 1, Zeilen 8 bis 26; entsprechend B1, Absätze 0002 bis 0006).
b) Klarheit sei gegeben, denn die Begriffe Feldgerät und Sensor/Aktor seien im vorliegenden Zusammenhang synonym.
c) Zum Einwand unzureichender Offenbarung würden jegliche relevante Tatsachen und Beweismittel fehlen. Da solche bis zum Ablauf der Einspruchsfrist zu nennen gewesen seien, sei dieser Einspruchsgrund nicht zu berücksichtigen.
d) Neuheit gegenüber EI/D3 sei gegeben. Ein Feldgerät gemäß dieser Entgegenhaltung enthalte lediglich ein erstes Anwendungs programm für ein erstes Feldbusprotokoll.
e) Die erst mit der Beschwerdebegründung genannte Entgegenhaltung EI/D7 sei prima facie nicht relevanter als die Druckschrift EI/D3 und solle daher im Beschwerdeverfahren nicht berücksichtigt werden.
f) EI/D1 zeige zwei Anwendungsprogramme, die für dasselbe Feldbusprotokoll ausgelegt seien. Es finde sich also kein Hinweis, dass zwei Anwendungsprogramme für zwei verschiedene Übertragungsprotokolle im Feldgerät vorhanden seien.
g) Wie eine Kombination der Dokumente EI/D1, EI/D3 oder EI/D7 zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen solle, sei von den Einsprechenden offen gelassen worden.
h) Die Erfindung vereinige folgende Vorteile: Das bewährte und schnelle Feldbusprotokoll könne für sicherheits- und zeitkritische Steuerungsanwendungen beibehalten werden, und parallel könne für weitere Aufgaben (zB zum Parametrieren, Konfigurieren, Diagnostizieren des Feldgeräts) das standardisierte Internet-Protokoll genutzt werden. Dadurch brauche nicht für jede Geräteart ein eigenes Zugriffsprogramm (zB "Device Type Manager" gemäß EI/D7, Seite 24, linke Spalte) geschaffen zu werden, und von überall auf der Welt könne auf eine Feldgerätanwendung zugegriffen werden.
Das Internet-Protokoll werde über das Feldbusprotokoll transparent übertragen (getunnelt). Obwohl das Prinzip der Protokolltunnelung an sich bekannt sei, gebe der Stand der Technik keinerlei Hinweis oder Anregung zu ihrer Verwendung auf der Ebene eines Feldbusses der Prozessautomatisierung. Erst die Patentinhaberinnen hätten die dort erzielbaren Vorteile erkannt.
VII. In einem Ladungsanhang teilte die Kammer ihre vorläufige Absicht mit, die Entgegenhaltung EI/D7 ins Verfahren zuzulassen. Bezüglich des erteilten Anspruchs 1 äußerte die Kammer Zweifel an einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber dieser Entgegenhaltung. Die weiteren Einwände der Beschwerdeführerinnen teilte die Kammer nicht.
Entscheidungsgründe
1. Die Erfindung
Nach dem erteilten Anspruch 1 verwendet ein Feldgerät in Gestalt eines "Sensors/Aktors" zwei Übertragungsprotokolle:
(i) gemäß einem Feldbusprotokoll tauscht der Sensor/Aktor Feldbustelegramme über eine Feldbusschnittstelle mit dem Feldbus aus;
(ii) ein Anwendungsprogramm im Sensor/Aktor verwendet ein zweites Übertragungsprotokoll, dessen Protokolldaten auf das Feldbusprotokoll abgebildet werden, um dann ebenfalls als Feldbustelegramme über die Feldbusschnitt stelle übertragen zu werden.
Gemäß dem im Beschwerdeverfahren geänderten Anspruch 1 handelt es sich bei dem zweiten Übertragungsprotokoll um das Internet-Protokoll.
Durch die parallele Verwendung zweier Protokolle ist das Datenübertragungsverfahren sowohl für Steuerungsaufgaben als auch für Überwachungsaufgaben geeignet (B1, Absatz 0013), denn Feldbusse eignen sich besonders zum Steuern, während übergeordnete Netze (zB Ethernet mit dem Internet-Protokoll TCP/IP) ihre Stärken in der Überwachung und Parametrierung von Anlagen haben (B1, Absatz 0012).
2. Artikel 84 EPÜ 1973: Auslegung des Anspruchs 1
2.1 Ein etwaiger Klarheitsmangel eines erteilten Anspruchs wäre kein Einspruchs grund, siehe Artikel 100 EPÜ 1973. Im übrigen ist die Kammer überzeugt, dass das Verfahren, für das Schutz begehrt wird, im Anspruch 1 hinreichend deutlich angegeben ist. Die Breite eines Anspruchs ist nicht gleichbedeutend mit einem Klarheitsmangel.
2.2 Den Begriff "Sensor/Aktor" legt die Kammer breit als "Sensor oder Aktor" aus. Mangels genauerer Festlegung im Anspruch umfassen die Begriffe Sensor und Aktor auch Baugruppen, die einen Sensor bzw Aktor im engeren Sinne (z.B. ein Ventil) enthalten. Dies ist schon daraus ersichtlich, dass gemäß dem Wortlaut des Anspruchs ein Feldbusprotokoll in einem Sensor/Aktor abläuft.
2.3 Als potenziell unklar könnte der Ausdruck "erstes Feldbusprotokoll" angesehen werden, da weder Anspruch 1 noch ein sonstiger Anspruch ein zweites Feldbusprotokoll nennt. Andererseits erkennt der mit der Patentsprache vertraute Leser, dass Anspruch 1 ein erstes und ein zweites Übertragungs protokoll enthält, nämlich in Form des Feldbusprotokolls und des zweiten Übertragungsprotokolls.
2.4 Das Merkmal, dass Protokolldaten "auf das Feldbusprotokoll abgebildet" werden, umfasst jedes Umsetzen von Daten eines zweiten Übertragungsprotokolls (hier: des Internet-Protokolls) auf das Feldbusprotokoll in der Weise, dass die Daten über den Feldbus übertragen werden können, ohne dessen Protokollstandard zu ändern.
3. Artikel 100 c) EPÜ 1973 - Ursprüngliche Offenbarung des Verfahrens nach den erteilten Ansprüchen 1 und 5
3.1 In der Anmeldung wird der Begriff "Sensor/Aktor" nicht synonym zum Begriff "Feldgerät" verwendet, denn nicht jeder Sensor oder Aktor ist ein Feldgerät, und nicht jedes Feldgerät ist ein Sensor oder Aktor (siehe auch Beschwerde erwiderung vom 10. Juni 2010, Seite 2, "2. Klarheit", Absatz 2). Die breite Verwendung des Begriffs "Sensor/Aktor" in der Anmeldung deckt sich mit der breiten Auslegung des Begriffs im erteilten Anspruch 1 (siehe Punkt 2.2 oben).
3.2 Dass das zweite Übertragungsprotokoll in Form des Internet-Protokolls ausgestaltet sein kann, geht zum Beispiel aus dem ursprünglichen Anspruch 5 hervor.
3.3 Somit geht der Gegenstand der erteilten Ansprüche 1 und 5 nicht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus.
4. Artikel 123 (2) EPÜ - Ursprüngliche Offenbarung des Verfahrens nach dem geänderten Anspruch 1
Der geänderte Anspruch 1 fasst die auf ursprünglicher Offenbarung beruhenden erteilten Ansprüche 1 und 5 zusammen und erweitert somit nicht die Lehre der ursprünglichen Anmeldung.
5. Artikel 123 (3) EPÜ - Keine Erweiterung des Schutzbereichs
Der geänderte Anspruch 1 konkretisiert das zweite Übertragungsprotokoll als Internet-Protokoll und ist dadurch gegenüber dem erteilten Anspruch 1 eingeschränkt. Somit liegt keine Erweiterung des Schutzbereichs vor.
6. Artikel 100 b) EPÜ 1973 - Ausreichende Offenbarung
6.1 Der Einwand unzureichender Offenbarung befindet sich im Beschwerdeverfahren, da die Einspruchs abteilung über ihn sachlich entschieden hat.
6.2 Den von den Beschwerdeführerinnen geltend gemachten Offenbarungsmangel sieht die Kammer nicht, denn aus der Anmeldung und dem Streitpatent ist deutlich, wie der Sensor oder Aktor mit dem Feldbus kommuniziert: über die Feldbusschnittstelle. Diese ist in der Beschreibung und im ursprünglichen Anspruch 1 angegeben, die Anmeldung und das Streitpatent bieten diesbezüglich eine in sich geschlossene Lehre. Wie die Einspruchsabteilung anmerkt (Punkt 11 der angegriffenen Entscheidung), beruht das Argument der Beschwerdeführerin auf der Annahme, dass der Sensor/Aktor "ein einfacher Wandler" sei. Die Kammer, wie die Einspruchsabteilung, interpretiert dieses Merkmal jedoch breiter (vgl. Punkt 2.2 oben).
7. Zulassung der im Beschwerdeverfahren erstmals genannten Entgegenhaltung EI/D7
7.1 Die Entgegenhaltung EI/D7 wurde mit der Beschwerdebegründung der Einsprechenden I eingeführt und zählt daher grundsätzlich zur Grundlage des Beschwerdeverfahrens, siehe Artikel 12 (1) VOBK. Die Kammer hat allerdings die Befugnis, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können (Artikel 12 (4) VOBK).
7.2 Die Beschwerdegegnerinnen sehen die Entgegenhaltung EI/D7 nicht als relevanter als die EI/D3 an und beantragen daher, die EI/D7 im laufenden Verfahren nicht zu berücksichtigen, sondern als verspätet eingereicht zurückzuweisen.
7.3 Die Einsprechende I sieht die Relevanz der zusätzlichen Druckschrift EI/D7 darin, dass sie ein tatsächlich vermarktetes Produkt beschreibe, welches auf dem Profibus-Konzept gemäß EI/D3 beruhe.
7.4 Nach Ansicht der Kammer stellt es grundsätzlich eine legitime Reaktion eines erstinstanzlich unterlegenen Einsprechenden dar, den Stand der Technik zu vertiefen, der seiner Meinung nach dem angegriffenen Patent entgegensteht. Die Kammer sieht im vorliegenden Fall keinen Anhaltspunkt für ein missbräuchliches Zurückhalten der Entgegenhaltung EI/D7 durch die Einsprechende I in der ersten Instanz.
Eine Zulassung von EI/D7 erhöht auch nicht die Komplexität oder Dauer des Beschwerdeverfahrens. Die Beziehung zwischen der Entgegenhaltung und dem Patentgegenstand kann vor der Kammer sachlich ausdiskutiert werden. Die Berücksichtigung der Entgegenhaltung dient schließlich auch der Rechtssicherheit über die Beständigkeit des Streitpatents.
Daher lässt die Kammer die Entgegenhaltung EI/D7 ins Beschwerdeverfahren zu.
7.5 In Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 111 (1) EPÜ 1973 beurteilt die Kammer selbst die Relevanz der Entgegenhaltung EI/D7 für das Streitpatent und sieht aus verfahrensökonomischen Gründen davon ab, die Angelegenheit allein zur Prüfung der zusätzlichen Entgegenhaltung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Das EPÜ sieht kein Recht auf zwei Instanzen zu jedem einzelnen Gesichtspunkt vor, und die Kammer sieht sich in der Lage, die Relevanz der Entgegenhaltung EI/D7 unmittelbar zu beurteilen.
8. Artikel 54 (1) (2) EPÜ 1973 - Neuheit gegenüber EI/D3
In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer stand das Profibus-Konzept gemäß Entgegenhaltung EI/D3, insbesondere Figuren 1 und 2, im Vordergrund der technischen Diskussion.
8.1 Die breite Auslegung des Begriffs Sensor oder Aktor führt dazu, dass der Begriff auf eine Baugruppe lesbar ist, die ein HART-Feldgerät (unterste Ebene der Figur 1 oder 2 der EI/D3) und ein zugeordnetes HART-Steuergerät (HART Master Device, HMD) umfasst (HART: Highway Addressable Remote Transducer). In der Regel ist zwar eine Mehrzahl von HART-Feldgeräten an einem HART-Steuergerät angeschlossen (Figur 1), aber Figur 2 zeigt auch eine Konstellation (unten links), in der ein einziges HART-Feldgerät über einen HART Master (HM) mit dem als Feldbus dienenden Profibus-DP (Decentralised Peripherals) verbunden ist.
Eine in dieser Weise aufgefasste Sensor- bzw Aktor-Baugruppe der EI/D3 verwendet zwei Übertragungsprotokolle, nämlich auf der untersten Ebene (Feldebene) das HART-Protokoll und im HART-Steuergerät (HMD) das Feldbusprotokoll des Profibusses. Dabei müssen die HART-Daten auf das Feldbusprotokoll abgebildet werden, um über den Feldbus übertragen werden zu können.
8.2 Andererseits nimmt selbst bei der weiten Auslegung des Anspruchs 1 die Entgegenhaltung EI/D3 nicht eine Sensor- oder Aktor-Baugruppe vorweg, die neben dem Feldbusprotokoll das Internet-Protokoll als zweites Übertragungsprotokoll verwendet.
Somit begründet jedenfalls das Merkmal, dass das zweite Übertragungsprotokoll in Gestalt des Internet-Protokolls vorliegt, die Neuheit des beanspruchten Verfahrens gegenüber EI/D3.
9. Artikel 54 (1) (2) EPÜ 1973 - Neuheit gegenüber EI/D7
9.1 Die Entgegenhaltung EI/D7 offenbart eine praktische Anwendung des Profibus-Konzepts. Sie erwähnt Sensoren und Aktoren ("Aktuatoren"), die direkt über ein standardisiertes Feldbusprotokoll angesprochen werden können, und hebt zusätzlich hervor, dass einfache Feldgeräte (zB binäre Feldgeräte mit zwei Zuständen; Temperatursensoren) und intelligente HART-Geräte in das Feldbussystem integriert werden können (Seite 24, rechte Spalte, letzter Absatz).
Somit müssen auch gemäß EI/D7 die für HART-Geräte bestimmten oder aus HART-Geräten stammenden Daten auf das Protokoll des Profibusses abgebildet werden, so dass eine im weitesten Sinn des Anspruchs 1 integrierte Sensor- oder Aktor-Baugruppe beide Protokolle verwendet (Feldbusprotokoll und HART-Protokoll).
9.2 Jedoch offenbart auch EI/D7 nicht die Verwendung des Internet-Protokolls als zweites Übertragungsprotokoll neben dem Feldbusprotokoll.
10. Artikel 54 (1) (2) EPÜ 1973 - Neuheit gegenüber EI/D1
Figur 25 der Entgegenhaltung EI/D1 zeigt ein an einen Feldbus (Fieldbus) angeschlossenes Feldgerät (Fieldbus Device), in dem zwei Anwendungen arbeiten (Network and System Management Application; Function Block Application).
EI/D1 gibt jedoch keinen Hinweis auf die Nutzung eines zweiten Übertragungsprotokolls neben dem Feldbusprotokoll, und insbesondere nicht auf die Nutzung des Internet-Protokolls neben dem Feldbusprotokoll.
11. Artikel 54 (3) EPÜ - Neuheit gegenüber EII/D1'
11.1 Die Entgegenhaltung EII/D1' zählt als rangältere nachveröffentlichte europäische Patentanmeldung zum Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. Die Entgegenhaltung offenbart ein "Verfahren zum Tunneln eines höherwertigen Protokolls auf einem Feldbus" (Titel) und befasst sich mit der Übertragung rahmenstrukturierter Nachrichten (EII/D1', zB Absätze 0010 und 0025). Über den Feldbus kommunizieren Geräte zum Messen, Steuern und Regeln --- d.h. Sensoren und Aktoren --- mit wenigstens einem Steuergerät (Absatz 0024). Als Realisierungsbeispiel wird die Tunnelung von Internet-Protokoll-Paketen über einen Profibus beschrieben (Absatz 0040 ff).
Auch das Streitpatent sieht vor, Internet-Protokoll-Daten im Datenfeld eines Feldbusrahmens zu übertragen, siehe den erteilten Anspruch 2 (der auch den aktuellen Anspruch 2 bildet).
11.2 Jedoch offenbart EII/D1' keine Sensor- oder Aktor-Baugruppe, in der ein erstes Anwendungsprogramm nach dem Feldbusprotokoll und ein zweites Anwendungsprogramm nach dem Internet-Protokoll arbeitet.
12. Artikel 56 EPÜ 1973 - Erfinderische Tätigkeit
12.1 Das Streitpatent stellt als bekannt dar, dass Feldbusse sich besonders für die Steuerung mit verteilter Intelligenz eignen (B1, Absatz 0012). Ein Feldbussystem gemäß EI/D3 bildet daher einen realistischen Ausgangspunkt für die Erörterung erfinderischer Tätigkeit.
12.2 Die Entgegenhaltung EI/D7 (Seite 24, rechte Spalte unten) thematisiert ein Feldbussystem, in dem einfache Feldgeräte, die direkt über ein standardisiertes Feldbusprotokoll angesprochen werden können, mit intelligenten HART-Geräten integriert werden. Andererseits sieht die Kammer aufgrund der breiten Auslegung des Anspruchs 1 auch schon in der Druckschrift EI/D3 eine Sensor- bzw Aktor-Baugruppe mit zwei Übertragungsprotokollen als gegeben an.
Daher akzeptiert die Kammer den Standpunkt der Parteien, den Profibus-Standard gemäß EI/D3 als nächstkommenden Stand der Technik zu wählen.
12.3 Das Tunneln von Internet-Protokoll-Daten über ein Feldbussystem ist zwar in EII/D1' beschrieben, diese Entgegenhaltung zählt jedoch nur nach Artikel 54 (3) EPÜ zum Stand der Technik und ist daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht zu ziehen (Artikel 56 Satz 2 EPÜ 1973).
12.4 Bezüglich einer parallelen Kommunikation mit einem Sensor (oder Aktor) über das Feldbusprotokoll und das Internet-Protokoll haben die Beschwerdeführerinnen deren Naheliegen auf die Behauptung gestützt, dass das vorbekannte Internet-Protokoll sich objektiv für Steuerungsaufgaben der Prozessautomatisierungstechnik eigne und daher keine erfinderische Auswahl darin bestehe, in einer Sensor- oder Aktor-Baugruppe der Profibus-Architektur (EI/D3) anstelle des dort verwendeten HART-Protokolls, oder zusätzlich zu diesem, das Internet-Protokoll zu verwenden.
12.5 Nach dem Urteil der Kammer fehlt dieser Argumentationskette jedoch ein naheliegendes Motiv, warum der von EI/D3 ausgehende Fachmann eine Ersetzung oder Ergänzung des HART-Protokolls anstreben sollte. Der entgegengehaltene Stand der Technik lässt nur im Nachhinein, d.h. in Kenntnis des Streitpatents, ohne weiteres erkennen, dass der wahlweise Zugriff auf einen Sensor (bzw Aktor) über das Feldbusprotokoll und das Internet-Protokoll vorteilhafte Steuerungs- und Parametrierungsmöglichkeiten eröffnet und obendrein durch eine Protokolltunnelung auf einfache Weise erzielbar ist, ohne die Zuverlässigkeit und Schnelligkeit des Feldbusprotokolls preisgeben zu müssen.
Die Erzielung dieser kombinierten Wirkungen ist die durch das beanspruchte Verfahren objektiv gelöste Aufgabe. Das Verfahren betrifft somit nicht nur die grundsätzlich im Trend liegende Idee, für eine gegebene Datenübertragungsaufgabe auf das Internet-Protokoll überzugehen, um dessen bekannte hersteller- und nutzerseitigen Vorteile ein weiteres Mal zu nutzen. Vielmehr stellt das Streitpatent für die Kommunikation des Feldgeräts eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Feldbusprotokoll und dem Internet-Protokoll bereit, ohne den technischen Aufwand verdoppeln zu müssen. Auch die hierin liegende, explizit genutzte Synergie trägt zur erfinderischen Tätigkeit bei, auch wenn sie schon bei der aus EI/D3 bekannten Kombination von Übertragungsprotokollen (Feldbusprotokoll und HART-Protokoll) inhärent vorliegen mag.
12.6 Das Verfahren nach Anspruch 1 gilt daher als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend (Artikel 56 EPÜ 1973).
13. Die von den Beschwerdeführerinnen erhobenen Einwände stehen dem im Beschwerdeverfahren geänderten Streitpatent somit nicht entgegen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die 1. Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1 bis 6 eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer,
- Beschreibung einschließlich Anlage eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer,
- Zeichnungen: Figur 1 bis 3 der Patentschrift.