T 0960/09 () of 19.7.2011

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2011:T096009.20110719
Datum der Entscheidung: 19 Juli 2011
Aktenzeichen: T 0960/09
Anmeldenummer: 94926078.0
IPC-Klasse: A61F 2/44
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Implantat für den Zwischenwirbelraum
Name des Anmelders: Synthes GmbH
Name des Einsprechenden: Medtronic Sofamor Danek USA, Inc.
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(3)
Schlagwörter: Berücksichtigung verspäteter Anträge (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1018/10

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte am 4. Mai 2009 gegen die am 23. Februar 2009 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäischen Patent Nr. 0670702 Beschwerde ein. Die Beschwerdegebühr wurde am selben Tag entrichtet und die Beschwerdebegründung ging am 6. Juli 2009 ein.

II. Mit dem Einspruch war das Patent im Hinblick auf Artikel 100 (a), (b) und (c) EPÜ angegriffen worden.

III. Mit ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vom 12. November 2009 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) Hilfsanträge I bis VIII ein für den Fall, dass das erteilte Patent nicht aufrecht erhalten werden sollte.

IV. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 8. März 2011 beigefügten Anlage gemäß Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung zu wesentlichen strittigen Punkten mit.

V. Am 19. Juli 2011 fand eine mündliche Verhandlung statt.

Während der mündlichen Verhandlung war zunächst die Zulässigkeit im Sinne des Artikels 123(2) EPÜ des Merkmals

"f) die in Richtung der Querachse (44) gemessene Kantenlänge a des Körpers (7) und die in Richtung der Querachse (45) gemessene Kantenlänge b des Körpers (7) verschieden gross sind"

des Anspruchs 1 des erteilten Patents (und aller geltenden Hilfsanträge I bis VIII), erörtert worden. Dieser Einwand war bereits in der Beschwerdebegründung, Punkt 2.2 erhoben und ausführlich begründet worden.

Nach Anhörung der Parteien war die Kammer der Meinung, dass dieses Merkmal zu einem Verstoß gegen Artikel 123(2) EPÜ führt. Daraufhin ersetzte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) alle vorherigen Anträge durch einen neuen Hauptantrag und drei neue Hilfsanträge 1 bis 3, jeweils gefolgt von weiteren neuen Hilfsanträgen I bis VIII, insgesamt 36 Anträge.

VI. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent auf der Basis der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Anträge aufrechtzuerhalten.

VII. Der unabhängige Anspruch 1 des angefochtenen Patents lautet wie folgt:

"1. Implantat (6) für den Zwischenwirbelraum (25) mit

a) einem im wesentlichen quaderförmigen Körper (7) mit den Kantenlängen a,b,c;

b) einer vorderen axialen Endflache (12) und einer hinteren axialen Endfläche (10), welche von der Längsachse (35) durchstossen werden;

c) zwei Seitenflächen (14, 15) welche von einer Querachse (44) durchstossen werden;

d) einer Oberfläche (16) und einer Unterfläche (17) welche von einer Querachse (45) durchstossen werden; wobei

e) die vordere axiale Endfläche (12) und/oder die hinteren axialen Endfläche (10) im wesentlichen rechteckig ausgebildet sind;

f) die in Richtung der Querachse (44) gemessene Kantenlänge a des Körpers (7) und die in Richtung der Querachse (45) gemessene Kantenlänge b des Körpers (7) verschieden gross sind;

dadurch gekennzeichnet, dass,

g) das Implantat (6) zusätzlich eine Vorrichtung (8) zur Ergreifung durch ein Werkzeug (9) aufweist, welche derart beschaffen ist, dass sie die Ausübung einer Rotationskraft in beiden Richtungen um die Längsachse (35) auf das Implantat (6) ermöglicht;

h) das Implantat einen bezüglich der Längsachse (35) orthogonalen, teilweise abgerundeten Querschnitt aufweist;

i) das Implantat (6) am Längsschnitt des grössten Durchmessers (D2) ein linsenförmiges Profil aufweist;

k) das vordere axiale Ende (12) des Körpers abgerundet oder keilförmig ausgebildet ist."

Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hauptantrag fügt nach Merkmal f) des erteilten Patentanspruchs 1 folgendes Merkmal hinzu: "; wobei die Kantenlängen a und b den Durchmessern (D1, D2) entsprechen;".

Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ersetzt das Merkmal f) des erteilten Patentanspruchs 1 durch folgendes Merkmal: "f) das Implantat verschiedene Durchmesser (D1, D2) aufweist;".

Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 ersetzt im Merkmal f) des erteilten Patentanspruchs 1 an zwei Stellen den Ausdruck "in Richtung" durch den Ausdruck "längs".

Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 ersetzt im Merkmal f) des erteilten Patentanspruchs 1 an zwei Stellen den Ausdruck "in Richtung" durch den Ausdruck "längs" und fügt dem Merkmal f) des erteilten Patentanspruchs 1 folgendes Merkmal hinzu: "der kleinste Durchmesser (D1) des Implantats (6) durch die Seitenflächen (14, 15) und der größte Durchmesser (D2) durch die Oberfläche (16) und Unterfläche (17) verläuft".

Der unabhängige Anspruch 1 des jeweiligen Hilfsantrags I bis VIII, der sich an die jeweiligen Haupt- und Hilfsanträge 1 bis 3 anschließt, hat den Wortlaut des Anspruchs 1 der jeweiligen Hilfsanträge I bis VIII vom 12. November 2009 mit den gleichen Änderungen des Merkmals f) wie der Anspruch 1 des entsprechenden Haupt- und Hilfsantrags 1 bis 3.

VIII. Die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten entscheidungsrelevanten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die erst während der mündlichen Verhandlung vorgelegten neuen Anträge würden die Einsprechende überraschen und unberechtigterweise benachteiligen. Die erstmalige Befassung mit einer Vielzahl neuer Anträge während der mündlichen Verhandlung entspräche nicht der Verfahrensgerechtigkeit. Die Einwände hinsichtlich Artikel 123(2) EPÜ, insbesondere hinsichtlich des Merkmals f) des Patentanspruchs 1, seien bereits ausführlich in der Beschwerdebegründung diskutiert worden. Seit diesem Zeitpunkt, allenfalls nach der zu diesem Einwand geäußerten vorläufigen Meinung der Kammer in der Ladung zur mündlichen Verhandlung, hätte die Patentinhaberin ausreichend Gelegenheit gehabt, auf diese Einwände zu reagieren. Die vorgelegten neuen Anträge erschienen darüber hinaus, prima facie, im Hinblick auf Artikel 84, 123(2) und (3) nicht gewährbar zu sein. Falls die Kammer dennoch die spät eingereichten Anträge zulassen sollte, wäre eine hinreichend lange Unterbrechung der mündlichen Verhandlung notwendig.

IX. Die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten entscheidungsrelevanten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- bezüglich der zurückgezogenen Anträge: Der Begriff "Kantenlänge" sei mit dem Begriff "Durchmesser" gleichbedeutend. Die ursprüngliche Anmeldung offenbare eindeutig verschiedene Durchmesser. Die Gleichsetzung beider Begriffe "Kantenlänge" und "Durchmesser" folge auch aus dem im Merkmal f) definierten Ausdruck "in Richtung der Querachse" (gemessene Kantenlänge a, b). Der Ausdruck bedeute lediglich, dass die Messung "entlang" oder "längs" der Achse auszuführen sei, wie bei dem Durchmesser.

- bezüglich der derzeit gültigen Anträge: die Anträge könnten nicht als verspätet angesehen werden, da sie durch die während der mündlichen Verhandlung stattgefundene Diskussion verursacht worden seien. Sie seien ferner auf die Überwindung der Beanstandung gerichtet, entweder durch die Klarstellung, dass die Kantenlängen den Durchmessern entsprechen (Hauptantrag), durch die Streichung des beanstandeten Merkmals (erster Hilfsantrag) oder durch die Änderung des Ausdrucks "in Richtung der Querachse" mit "längs der Querachse" (2. und 3. Hilfsantrag).

Auch wenn die neuen Anträge erst während der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, so würden die Anspruchsänderungen keine sonderlichen Schwierigkeiten bereiten, die nicht während der mündlichen Verhandlung untersucht und diskutiert werden könnten. Ferner sei im wesentlichen nur ein Haupt- und drei Hilfsanträge zu prüfen, da die restlichen Hilfsanträge analoge Änderungen enthielten.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Zulässigkeit der in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge

2.1 Die derzeit gültigen, am Ende der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge (Hauptantrag gefolgt von 3 Hilfsanträgen, jeweils gefolgt von weiteren acht Hilfsanträgen, insgesamt 36 Anträge) sind nach Meinung der Kammer nicht zulässig, da sie spät eingereicht wurden, "prima facie" nicht gewährbar erscheinen und wegen der Komplexität des neuen Vorbringens unter Berücksichtigung des Standes des Verfahrens und der gebotenen Verfahrensökonomie, von der gegenseitigen Partei (und der Kammer) nicht abschließend beurteilt werden können, siehe Artikel 114 (2) EPÜ und Artikel 12 und 13 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern.

2.2 Die Beschwerdegegnerin hat in der Erwiderung auf die in der Beschwerdebegründung ausführlich dargelegte Einwendung des Verstoßes gegen Artikel 123 (2) EPC des Merkmals f) reagiert, ohne das Merkmal f) zu ändern. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung hatte ferner auch die Beschwerdekammer Zweifel an der Zulässigkeit des besagten Merkmals f) geäußert. Erst nachdem in der mündlichen Verhandlung die besagten Einwände erneut diskutiert worden waren, hat die Patentinhaberin die derzeit gültigen 36 neuen Anträge gestellt.

Dieses Verhalten der Patentinhaberin steht in mehrerlei Weise nicht im Einklang mit der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des EPA sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung (s. "Rechsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 6. Auflage (2010), VII.E.16; s.a. T 1122/09, Punkt 3 der Entscheidungsgründe).

Gemäß Artikel 12(2) VOBK muss die Erwiderung auf die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag der Beschwerdegegnerin enthalten. Hiezu zählen nach ständiger Rechtsprechung neben allen Argumenten, Tatsachen und Beweismitteln insbesondere auch alle Anträge (s. z.B. T 764/03, Punkt 6.7 der Entscheidungsgründe). Im Hinblick auf Artikel 123(2) EPÜ hat die Patentinhaberin in ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vom 12. November 2009 lediglich die Meinung vertreten, dass diese Erfordernisse erfüllt seien, ohne allerdings diesbezüglich Änderungen an den Ansprüchen vorzunehmen (die mit der Erwiderung eingereichten Hilfsanträge I bis VIII ergänzen lediglich den erteilten Patentanspruch 1 durch zusätzliche Merkmale im Hinblick auf eine Abgrenzung zum Stand der Technik).

Gemäß Artikel 13(1) VOBK steht es weiterhin im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens des Beschwerdegegners nach Einreichung seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung zuzulassen, wobei die Komplexität des Vorbringens, der Verfahrensstand und die Verfahrensökonomie zu berücksichtigen sind. Nach Artikel 13(3) VOBK sind Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zuzulassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.

Wenn die Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren beabsichtigt, geänderte Ansprüche einzureichen, sollte dies allgemein zum frühestmöglichen Zeitpunkt geschehen. Ein nicht rechtzeitig eingereichter Antrag auf Änderungen ist von der Kammer nur ausnahmsweise und nur dann zu berücksichtigen, wenn sowohl das späte Einreichen gerechtfertigt ist und auch der Grund der Änderungen dargelegt wird (s. z.B. T 95/83, Punkt 8 der Entscheidungsgründe). Im vorliegenden Fall hat die Patentinhaberin keine Gründe vorbringen können, warum die derzeitigen Anträge erst derartig spät eingereicht wurden. Die Behauptung der Patentinhaberin, dass die Beurteilung der Änderungen keine sonderlichen Schwierigkeiten bereiten dürfte, stellt keine Begründung für die späte Einreichung dar, die als solche die Einsprechende benachteiligt. Für die Kammer sind auch keine entsprechenden Gründe ersichtlich. Da die in der mündlichen Verhandlung erörterten Einwände unter Artikel 123(2) EPÜ, die sich auf das besagte Merkmal f) beziehen, bereits in der Beschwerdebegründung detailliert vorgebracht worden waren, hätten Anträge zur Überwindung dieser Einwände bereits mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht werden können und sollen.

Darüber hinaus würde die Zulassung einer erst während der mündlichen Verhandlung vorgelegten Vielzahl neuer Anträge die gegenseitige Partei und die Kammer in die unzumutbare Lage versetzen, sich in einer relativ kurzen Zeit während der mündlichen Verhandlung auf das Vorbringen neuer Einwände vorbereiten zu müssen. Dies würde sowohl gegen den Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit verstoßen als auch die abschließende Behandlung der zu erwartenden Einwände durch die Kammer ohne Vertagung der mündlichen Verhandlung in Frage stellen.

2.3 Schließlich sind insbesondere erst in der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge wie die vorliegenden regelmäßig dann nicht zu berücksichtigen, wenn sie nicht eindeutig gewährbar sind (s. z.B. T 95/83). Genau dies scheint im vorliegenden Fall zu sein, da die Änderungen bezüglich des strittigen Merkmals f) prima facie nicht geeignet erscheinen, den erhobenen Einwand zu überwinden, oder gar neue Probleme hinsichtlich Artikel 84 bzw. 123 (2) und (3) EPÜ aufzuwerfen scheinen.

2.3.1 Der Argumentation der Beschwerdegegnerin zur Stütze der vorherigen Fassung des Merkmals f) konnte insofern nicht gefolgt werden, als dass der Ausdruck "Kantenlänge" dem Ausdruck "Durchmesser" nicht gleichgesetzt werden kann. Da Anspruch 1 des angefochtenen Patents zusätzlich auch das Merkmal des Durchmessers enthält, ist klar, dass diese verschiedenen Ausdrücke im Anspruch zwei verschiedene Begriffe bezeichnen.

Ferner bedeutet der Ausdruck "in Richtung der Querachse (44)" (gemessene Kantenlänge a, b), entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerin, nicht "entlang" oder "lang" der Achse, wenn die Kanten a, b nicht geradlinig sind, wie es in der Figur 3 der Erfindung der Fall ist. Dort sind nämlich die gezeigten Kantenlänge a, b eindeutig von den Durchmessern unterschiedlich, die in den Figuren 4 und 5 dargestellt sind.

Die Änderungen der derzeit gültigen Anträge scheinen demzufolge, prima facie, hinsichtlich Artikel 84 bzw. 123 (2) und (3) EPÜ nicht gewährbar.

3. Aus den oben genannten Gründen lässt die Kammer die verspätet eingereichten Anträge nicht zu. Da die Patentinhaberin die mit der Erwiderung auf die Beschwerdeschrift eingereichten Anträge durch die besagten verspäteten, nicht zugelassenen Anträge ersetzt hat, liegt keine gültige Fassung des Patents vor und - demzufolge - muss das Patent widerrufen werden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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