T 0775/09 (Erhöhung Glykosilierung/ROCHE) of 20.3.2012

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2012:T077509.20120320
Datum der Entscheidung: 20 März 2012
Aktenzeichen: T 0775/09
Anmeldenummer: 98965223.5
IPC-Klasse: C12N 15/12
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung von Polypeptiden mit geeigneter Glykosilierung
Name des Anmelders: Roche Diagnostics GmbH
Name des Einsprechenden: SANDOZ AG
Patent- und Markenabteilung
Amgen Inc.
Kammer: 3.3.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 123(3)
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Hauptantrag - Zulässigkeit im Beschwerdeverfahren (ja); Stützung durch die Beschreibung (ja); Erweiterung des Schutzumfangs (nein); ausreichende Offenbarung (ja); Zulässigkeit neue Argumente (nein); erfinderische Tätigkeit (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1069/08
T 1621/09
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2308/11
T 1914/12

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 1 036 179 mit der Bezeichnung "Verfahren zur Herstellung von Polypeptiden mit geeigneter Glykosilierung" wurde auf der Grundlage der europäischen Patentanmeldung Nr. 98 965 223.5, die als Internationale Anmeldung WO 99/28455 veröffentlicht wurde (nachstehend "die Anmeldung" genannt), erteilt. Das Patent umfasste acht Ansprüche. Anspruch 1, der einzige unabhängige Anspruch, lautete wie folgt:

"Verfahren zur Erhöhung des Glykosilierungsgrades bei Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids aus Säuger- oder Insektenzellen, wobei die Säuger- oder Insektenzellen in einem geeigneten Medium kultiviert und das gewünschte Polypeptid aus den Zellen oder/und dem Kulturüberstand gewonnen wird,

dadurch gekennzeichnet,

dass während der Kultivierung eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Nährstoffen, umfassend mindestens zwei Kohlenhydrate, abhängig vom jeweiligen Bedarf der Zelle erfolgt."

II. Gegen das Patent legten zwei Einsprechende, gestützt auf die Einspruchgründe gemäß Artikel 100 a), b) und c) EPÜ, Einspruch ein und beantragten den Widerruf des erteilten Patents.

III. Mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 23. Januar 2009 wurde das Patent auf der Basis eines am 25. Juli 2008 eingereichten vierten Hilfsantrags aufrechterhalten. In ihrer Entscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass der Hauptantrag, der erste Hilfsantrag (beide am 28. März 2007 eingereicht) und die Hilfsanträge 2 und 3 (beide am 25. Juli 2008 eingereicht) die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ nicht erfüllten.

IV. Der unabhängig Anspruch 1 in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung lautete wie folgt:

"Verfahren zur Erhöhung des Glykosilierungsgrades bei Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids aus Säugerzellen, wobei die Säugerzellen in einem geeigneten Medium kultiviert und das gewünschte Polypeptid aus den Zellen oder/und dem Kulturüberstand gewonnen wird,

dadurch gekennzeichnet,

dass die Säugerzellen menschliche Zellen sind und dass während der Kultivierung eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Nährstoffen, umfassend Glucose, Mannose und Galactose, abhängig vom jeweiligen Bedarf der Zelle erfolgt."

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 betrafen besondere Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1.

V. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung legte die Einsprechende 01 (Beschwerdeführerin) Beschwerde ein. In ihrer Beschwerdebegründung vom 2. Juni 2009 hielt sie die im Einspruchsverfahren vorgebrachten Einwände bezüglich mangelnder Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ; Artikel 83 EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ; Artikel 56 EPÜ) aufrecht und erhob einen weiteren Einwand unter Hinweis auf Artikel 100 c) EPÜ wegen unzulässiger Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ). Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, den Widerruf des Patents und, hilfsweise, die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.

VI. Mit ihrem Schreiben vom 15. Oktober 2009 nahm die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) zur Beschwerdebegründung Stellung. Sie beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

VII. Am 12. September 2011 wurden die Parteien zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einer dieser Ladung beigefügten Mitteilung nach Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) äußerte die Kammer ihre vorläufige Meinung zur Sachlage.

VIII. Mit ihrer Erwiderung vom 14. Februar 2012 reichte die Beschwerdegegnerin einen ersten und zweiten Hilfsantrag ein. Als Hauptantrag hielt sie den im Einspruchsverfahren als gewährbar erachteten vierten Hilfsantrag aufrecht.

IX. Von der Beschwerdeführerin wurde als Antwort auf den Bescheid der Kammer keine sachliche Erwiderung eingereicht.

X. Die Einsprechende 02, als weitere Verfahrensbeteiligte, äußerte sich nicht im schriftlichen Beschwerdeverfahren.

XI. Die mündliche Verhandlung fand am 20. März 2012 in Abwesenheit der Beschwerdeführerin und in Anwesenheit der Beschwerdegegnerin und der weiteren Verfahrensbeteiligten (Einsprechende 02) statt. Gegen Ende dieser mündlichen Verhandlung zog die Beschwerdegegnerin ihren bisherigen Hauptantrag zurück, machte ihren ersten Hilfsantrag, eingereicht mit Schriftsatz vom 14. Februar 2012, zum ihren Hauptantrag und reichte eine angepasste Beschreibung ein.

XII. Anspruch 1 des Hauptantrages, eingereicht am 14. Februar 2012 als erster Hilfsantrag, lautete wie folgt:

"Verfahren zur Erhöhung des Glykosilierungsgrades bei Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids aus Säugerzellen, wobei die Säugerzellen in einem geeigneten Medium kultiviert und das gewünschte Polypeptid aus den Zellen oder/und dem Kulturüberstand gewonnen wird,

dadurch gekennzeichnet,

dass die Säugerzellen menschliche Zellen sind und dass während der Kultivierung eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose, abhängig vom jeweiligen Bedarf der Zelle erfolgt."

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 entsprachen den von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Ansprüchen 2 bis 7.

XIII. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:

D2: Nyberg, G.B., Ph D Thesis, Massachusetts Institute of Technology, Juli 1998, MIT, US;

D6: Xie, L. et al., Biotechnology and Bioengineering, Band 56, Nr. 5, 5. Dezember 1997, Seiten 577-582;

D7: Alton, G. et al., Glycobiology, Band 8, Nr. 3, 1998, Seiten 285-295;

D9: Panneerselvam et al., J. Biol. Chem., Band 272, Nr. 37, 12. September 1997, Seiten 23123-23129;

D26: Jenkins, N., Biochemical Society Transactions, Band 23, 1995, Seiten 171-175;

D28: Xie, L. und Daniel I.C.W., TIBTECH, Band 15, März 1997, Seiten 109-113;

D30: Römpp Chemie Lexikon, Herausgeber M. Jürgen Falbe et al., Paperback Ausgabe, Band 2, 1995, Seiten 1619-1620;

D40: Coroadinha, A.S. et al., Biotechnology and Bioengineering, Band 94, Nr. 1, 5. Mai 2006.

XIV. In ihrer Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende 01) im wesentlichen Argumente gegen den von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen vierten Hilfsantrag vorgebracht. Zu den von der Beschwerdegegnerin am 14. Februar 2012 eingereichten Hilfsanträgen eins und zwei hat die Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren keine Argumente vorgebracht. Jedoch gelten die Argumente bezüglich der Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 b) EPÜ (Artikel 83 EPÜ) und Artikel 100 a) EPÜ (Artikel 56 EPÜ) auch für diese beiden Hilfsanträge, wobei der erste Hilfsantrag dem jetzigen Hauptantrag der Beschwerdegegnerin entspricht. Diese Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Artikel 100 b) EPÜ/Artikel 83 EPÜ

Das Verfahren gemäß Anspruch 1 müsse eine "Erhöhung des Glykosilierungsgrades ... eines glykosilierten Polypeptids aus Säugerzellen" erzielen. Dieses Merkmal, das ausschließlich den gewünschten Effekt definierte, müsste im gesamten beanspruchten Bereich auftreten. Das Merkmal sei aber ein relatives Merkmal, weshalb der Fachmann einen Referenzpunkt zu seiner Bestimmung benötige. Als geeignete Referenz könne nur ein Vergleichspolypeptid herangezogen werden, das durch ein nicht erfindungsgemäßes Verfahren hergestellt wurde. Absätze [0012] und [0017] der Beschreibung seien die einzige Stellen im Streitpatent, die eine hohe bzw. verbesserte Glykosilierung erwähnten. Diese Textstellen seien aber zu allgemein, um einen geeigneten Referenzpunkt zu definieren und dem Fachmann eine ausreichende Lehre zu geben.

In den Beispielen des Streitpatents wären zwei Ausführungsformen beschrieben, die eine erhöhte Glykosilierung erreichten, wobei jedoch jeweils zwei unterschiedliche Referenzpunkte angeführt würden (Fermentation A, Beispiel 5 und Fermentation E, Beispiel 7). Die technischen Parameter dieser beiden Beispiele (Zusammensetzung und Art der Zugabe der Nährstoffe) seien zu unterschiedlich, um Schlüsse auf einen geeigneten Referenzpunkt zuzulassen. Der Fachmann sei nicht in der Lage zu beurteilen, ob eine Erhöhung der Glykosilierung stattgefunden habe.

Gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern sei ein Merkmal in einem Patent nicht ausreichend offenbart, wenn, wie im vorliegenden Fall, dem Fachmann mehrere Möglichkeiten bzw. Verfahren zur Verfügung stünden, um dieses Merkmal bzw. den gewünschten Effekt zu erzielen, wobei aber je nach verwendetem Verfahren verschiedene Ergebnisse erreicht würden.

Artikel 100 a) EPÜ/Artikel 56 EPÜ

Die im Anspruch 1 enthaltenen Merkmale "Erhöhung des Glykosilierungsgrades" und "kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Nährstoffe" seien im Licht der Beschreibung des Streitpatents und der Entscheidung der Einspruchsabteilung breit auszulegen. Bei einer solchen Auslegung diene das in der Entgegenhaltung D26 offenbarte Verfahren dem gleichen Zweck wie das beanspruchte Verfahren. In der Entgegenhaltung D26, die den nächstliegenden Stand der Technik darstelle, werde die Wichtigkeit des Glykosilierungsprofils eines Polypeptids anerkannt, welches insbesondere für die therapeutische Effizienz eines Glykoproteins von Bedeutung sei. Die Entgegenhaltung beschreibe ein Verfahren zur Aufrechterhaltung des Glykosilierungsgrades, bzw. zur Vermeidung einer möglichen Verschlechterung der Glykosilierungseffizienz, eines Glykoproteins während der Zellkultivierung. Darüber hinaus werde eine kontrollierte, ständige und bedarfsgerechte Zugabe von Glucose durch Verwendung eines Glucose-limitierenden Chemostat-Systems beschrieben. Von dieser Entgegenhaltung unterscheide sich der Gegenstand des vorliegenden Anspruchs 1 im wesentlichen nur durch zwei Merkmale, nämlich durch die Kultivierung von menschlichen Zellen anstatt CHO-Zellen und durch die Zugabe einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose an Stelle eines einzigen Kohlenhydrats (Glucose).

Die Auswahl von geeigneten Zellen für die Herstellung eines rekombinanten Glykoproteins würde vom Fachmann durch routinemäßig durchführbare experimentelle Tests entschieden und bedürfe keinerlei erfinderischen Bemühens. Darüber hinaus beschränke sich die Lehre der Entgegenhaltung D26 keineswegs auf CHO-Zellen. Die vorteilhafte Verwendung menschlicher Wirtzellen zur Herstellung rekombinanter Proteine für die therapeutische Verwendung beim Menschen sei dem Fachmann bereits aus dem Stand der Technik bekannt.

Die Entgegenhaltung D26 erkenne, dass die Verfügbarkeit von Kohlenhydraten im Kulturmedium die Glykosilierung eines rekombinant hergestellten Polypeptids stark beeinflusse und beschreibe, dass eine vorübergehende verbesserte Glykosilierung eines rekombinanten Polypeptids durch Glucose-Stöße in Batch-Kulturen erreicht werden könne (siehe Seite 171, rechte Spalte, letzter Absatz). Es sei jedoch aus dem relevanten Stand der Technik auch bekannt, dass ein Anstieg der Glukose im Kulturmedium deren Metabolisierung zu unerwünschtem Lactat fördere. Die schädliche Wirkung von Lactat auf die Produktivität und Ausbeute der Batch-Kulturen (fed-batch culture) sei unter anderem in der Entgegenhaltung D28 beschrieben (siehe Seite 110, rechte Spalte, dritter Absatz und Seite 112, linke Spalte, erster Absatz).

Demzufolge sei es zum relevanten Zeitpunkt bekannt gewesen, dass Glucose notwendig und wesentlich für die Glykosilierung und Zellmetabolismus sei, dass aber ihre Konzentration im Kulturmedium niedrig gehalten werden müsse, um die schädliche Wirkung von gebildetem Lactat zu vermeiden. Es sei jedoch auch bekannt gewesen, dass ein Anstieg der Kohlenhydratkonzentration im Kulturmedium allgemein vorteilhaft für die Glykosilierung sei, wodurch es für den Fachmann offensichtlich gewesen sei, an die Verwendung anderer Kohlenhydrate zu denken und diese dem Kulturmedium zuzufügen. Insbesondere seien dafür Kohlenhydrate in Frage gekommen, die an der Glykosilierung beteiligt gewesen seien, z.B. die Zuckervorläufer Mannose und Galactose (siehe Abbildung 6.1 der Entgegenhaltung D2; Entgegenhaltungen D30 und D40).

Die Entgegenhaltung D6, die alternativ als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden könne, befasse sich, wie die Entgegenhaltung D26, mit der Herstellung von Gamma-Interferon und der Qualität der dazu verwendeten CHO-Zellenkulturen. Die Kulturbedingungen würden darin als "stochiometric fed-batch conditions" beschrieben, was eine bedarfsorientierte und kontrollierte Zugabe von Nährstoffen, einschließlich Glucose, erfordere. Gemäß den in der Entgegenhaltung D6 offenbarten Ergebnissen würde durch die offenbarte Fed-Batch Kultur eine stabile, verbesserte Glykosilierung im Vergleich zur Batch-Kultur erreicht.

XV. Die in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente der weiteren Verfahrensbeteiligten (Einsprechende 02) lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zulässigkeit des Hauptantrages (eingereicht am 14. Februar 2012 als 1. Hilfsantrag)

Der Hauptantrag, der in einem späten Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht worden sei, hätte auch schon zu einem weit früheren Zeitpunkt des Verfahrens eingereicht werden können und sei daher nicht in das Verfahren zuzulassen.

Artikel 100 c) EPÜ/Artikel 123(2),(3) EPÜ

Die Anmeldung enthalte keine Basis für eine während der Kultivierung durchgeführte, kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe einer Mischung aus nur (ausschließlich) drei Zuckern (Glucose, Mannose, Galactose). In der Anmeldung werde die Zugabe einer solchen Mischung immer in Kombination mit anderen Nährstoffen (Nährstofflösung) beschrieben. Die Streichung des Merkmals "Nährstoffen" im erteilten Anspruch 1 stelle daher einen Verstoß gegen Artikel 123(2) EPÜ dar.

Obwohl der Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 die präzise Zusammensetzung der Nährstoffzugabe offen lasse, erfordere er die Anwesenheit mindestens zweier Kohlenhydrate und anderer Nährstoffe. Durch die Streichung des Merkmals "Nährstoffen" wird nunmehr eine Ausführungsform umfasst, nämlich eine Zugabe von Zuckern ohne jegliche zusätzlichen Nährstoffe, die über den Schutzumfang des erteilten Patents hinausgehe (Artikel 123(3) EPÜ).

Artikel 100 b) EPÜ/Artikel 83 EPÜ

Zum Einspruchsgrund der mangelnder Offenbarung schließt sich die Einsprechende 02 der schriftliche Argumentation der Beschwerdeführerin an.

Artikel 100 a) EPÜ/Artikel 56 EPÜ

Zulässigkeit der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente

Beide in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente seien nicht als neu im Verfahren anzusehen. Die erste Argumentationslinie sei bereits schriftlich von der Beschwerdeführerin unter Artikel 100 b) EPÜ (Artikel 83 EPÜ) vorgebracht worden. Deshalb sei dieses Argument der Kammer und den Parteien bereits bekannt gewesen und zu berücksichtigen. Das zweite Argument stütze sich grundsätzlich auf die Entgegenhaltungen D2 und D7, die schon als allgemeiner Stand der Technik im vorliegenden Beschwerdeverfahren explizit genannt worden seien. Der Inhalt der einzigen Entgegenhaltung, die bisher im Beschwerdeverfahren nicht zitiert worden sei, nämlich D9, sei identisch oder vergleichbar mit dem einer anderen im Beschwerdeverfahren zitierten Entgegenhaltung. Aus all diesen Gründen könnten die zwei vorgebrachte Argumente nicht als verspätetes Vorbringen angesehen werden.

Substantielle Argumente

Der in Anspruch 1 angeführte technische Effekt lasse sich nicht aus den Beispielen des Streitpatents ableiten. Sollte die Kammer dem nicht zustimmen, so stehe es aber außer Frage, dass es aus diesen Beispielen nicht ableitbar sei, welche Parameter diesen Effekt tatsächlich beeinflussen und ihn ermöglichen. In Beispiel 5 seien die Kulturbedingungen und die Zusammensetzungen der Referenzfermentation A (Glucose) und der Fermentation B (Glucose, Mannose und Galactose) unterschiedlich. Bei der Fermentation A werde eine einfache Zufütterung der Nährstofflösung mit Glucose beschrieben, während bei der Fermentation B eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zufütterung der drei verwendeten Kohlenhydrate stattfinde. Die Glutaminkonzentration in der Kultur werde zwar in der Fermentation B, nicht aber in der Fermentation A als Regelgröße verwendet. In Beispiel 7 seien die verwendeten Glucosekonzentrationen unterschiedlich. In der Referenzfermentation E (Glucose) sei diese höher als in der Fermentation F (Glucose, Mannose und Galactose), wobei es bereits bekannt gewesen sei, dass eine niedrige Konzentration von Glucose in der Kultur vorteilhaft sei. Ferner seien die in Tabelle 3 angegebenen Ergebnisse weder eindeutig noch als relevant anzusehen.

Weiters schließt sich die Einsprechende 02 der schriftlichen Argumentation der Beschwerdeführerin bezüglich der Offenbarung in den Entegegenhaltungen D26 und D6 und der Kombination mit anderem Stand der Technik an.

XVI. Zu den für diese Entscheidung relevanten Punkten trug die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) folgendes vor:

Zulässigkeit des Hauptantrages (eingereicht am 14. Februar 2012 als 1. Hilfsantrag)

Der Hauptantrag wurde in Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15(1) VOBK eingereicht. Der Antrag ist eine direkte Antwort auf den in dieser Mitteilung erhobenen Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ, der erstmals in der Beschwerdebegründung erhoben wurde. Die Änderungen im Wortlaut des Anspruchs 1 sind einfach, eindeutig und erhöhen nicht die Komplexität des Falles.

Artikel 100 c) EPÜ/Artikel 123(2),(3) EPÜ

Anspruch 1 der Anmeldung beziehe sich auf ein Verfahren, das die Zugabe einer Mischung mit mindestens zwei Kohlenhydraten beinhalte. Es gebe darin keinerlei Hinweis auf andere vorhandene Nährstoffe. Diese Mischung sei in der Anmeldung, unter anderen auf Seite 5, Zeilen 16 bis 18, Seite 5, Zeile 27 bis Seite 6, Zeile 11 und Seite 6, Zeilen 22 bis 32, offenbart. Insbesondere auf Seite 6, Zeilen 31 und 32 werde eine Mischung von Glucose, Galactose und Mannose, wie in Anspruch 2 der ursprünglichen Anmeldung beansprucht, ausdrücklich beschrieben. Durch Verwendung des Ausdrucks "oder/und" auf Seite 6, Zeilen 2, 23 und 25 der Beschreibung werde festgestellt, dass die zugegebenen Nährstoffe nicht zwangsläufig andere Komponenten wie essentielle oder nichtessentielle Aminosäuren, Vitamine, Spurenelemente usw. enthalten müssen.

Sowohl der Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 als auch des Anspruchs 1 des vorliegenden Hauptantrages sei diesbezüglich offen und umfasse als eine mögliche Ausführungsform der Erfindung die Zugabe einer Mischung die ausschließlich aus Zuckern bestünde. Gemäß Anspruch 1 des aktuellen Hauptantrages müsse die zugegebene Mischung die angegebenen drei Zucker enthalten, könne jedoch gegebenenfalls zusätzlich auch andere Nährstoffe enthalten. Der Anspruch gehe daher nicht über den Schutzumfang des erteilten Patents hinaus (Artikel 123(3) EPÜ).

Artikel 100 b) EPÜ/Artikel 83 EPÜ

Die Beispiele 5 und 7 des Patents offenbarten die Verwendung einer Mischung, die Glucose, Mannose und Galactose umfasst. Anhand von Vergleichsversuchen zeigten diese Beispiele klar und eindeutig, dass durch eine (kontrollierte und bedarfsgerechte) Zugabe dieser Mischung der Glykosilierungsgrad eines Polypeptids erhöht werden könne (siehe Tabelle 1 aus Beispiel 5; Abbildungen 1 und 2, Tabelle 3 aus Beispiel 7). Der Fachmann benötige keine weiteren Angaben, um das beanspruchte Verfahren auszuführen. Die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung sei in einem solchen Fall nicht relevant.

Artikel 100 a) EPÜ/Artikel 56 EPÜ

Zulässigkeit der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente

Zwei von der weiteren Verfahrensbeteiligten (Einsprechende 02) in der mündlichen Verhandlung gemachten Argumente seien erstmals zu diesem späten Zeitpunkt vorgebracht worden und deshalb nicht zuzulassen. Selbst wenn das erste Argument, wie von der weiteren Verfahrensbeteiligten behauptet, bereits von der Beschwerdeführerin unter Artikel 100 b) EPÜ (Artikel 83 EPÜ) im schriftlichen Verfahren vorgebracht worden sei, wäre es jetzt unter Artikel 100 a) EPÜ (Artikel 56 EPÜ) vollkommen neu und daher nicht zulässig. Das zweite Argument stütze sich auf Entgegenhaltungen, die im vorliegenden Beschwerdeverfahren entweder nie (Entgegenhaltungen D7 und D9) oder nur in einem ganz anderem Zusammenhang (Entgegenhaltung D2) genannt worden seien. Eine Kombinationen des nächstliegenden Standes der Technik mit diesen Entegegenhaltungen sei neu im Verfahren und daher als verspätet anzusehen und nicht zuzulassen.

Substantielle Argumente

Das beanspruchte Verfahren erziele eine Erhöhung des Glykosilierungsgrades bei der Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids und unterscheide sich deshalb von anderen Verfahren, die lediglich darauf abzielten, die diesbezüglichen Nachteile auszugleichen, welche durch die Dauer der Kultur, den Verbrauch von Nährstoffen und die Anreichung von schädlichen Metaboliten verursacht würden. Die in den Entgegenhaltungen D6, D26 und D28 offenbarten Verfahren bewirkten lediglich eine Aufrechterhaltung der Glykosilierung, wie sie zu Beginn einer Kultur mit frischem Medium oder bei einer kurzen Kulturdauer erhalten werden könne. Diese Entgegenhaltungen, die nicht auf eine Verbesserung der Glykosilierung abzielten, offenbarten darüber hinaus keine Nährstoffmischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose. Daher biete ihre Offenbarung dem Fachmann keinen Anlass dazu, ein Verfahren zur Erhöhung des Glykosilierungsgrades ins Auge zu fassen und sie könnten auch nicht als geeignetes Sprungbrett angesehen werden, von dem ausgehend der Fachmann in naheliegender Weise zum beanspruchten Verfahren gelangen würde.

In den Beispielen 5 und 7 des Streitpatents werde der in Anspruch 1 angeführte technische Effekt eindeutig gezeigt. In den beiden in Beispiel 5 beschriebenen Fermentationen werde, wie bereits in der Überschrift angedeutet, eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zufütterung durchgeführt. In Beispiel 7 sei die Glucose- konzentration in beiden Fermentationen sehr ähnlich oder sogar identisch. Die Ergebnisse der Fermentationen von Beispiel 7, die nicht nur in Tabelle 3 sondern auch in Abbildungen 1 und 2 aufgezeigt seien, belegen deutlich den dabei erzielten Effekt (höhere Glykosilierung, bzw. höhere Aktivität dank einer höheren Glykosilierung).

XVII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 01) beantragte schriftlich den Widerruf des Patents.

XVIII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte das Patent im Umfang des der Hauptantrages (eingereicht als Hilfsantrag 1 mit Schriftsatz vom 14. Februar 2012) aufrechtzuerhalten.

XIX. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer schloss sich die weitere Verfahrensbeteiligte (Einsprechende 02) dem Antrag der Beschwerdeführerin an.

Entscheidungsgründe

Zulässigkeit des Hauptantrages (eingereicht am 14. Februar 2012 als 1. Hilfsantrag)

1. In ihrer Beschwerdebegründung erhob die Beschwerdeführerin einen bis dahin nicht vorgebrachten Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ (Artikel 100 c) EPÜ), der folglich von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt worden war. Zu diesem Einwand nahm die Kammer in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK Stellung, wobei sie mitteilte, dass der Einwand ihrer vorläufigen Ansicht nach gerechtfertigt war.

2. In der Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer reichte die Beschwerdegegnerin Hilfsanträge eins und zwei ein, die ihrer Meinung nach dem neuen Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ Rechnung trugen. Dieser erste Hilfsantrag entspricht dem aktuellen Hauptantrag (siehe Punkte XI und XII, supra).

3. Die Kammer hat keinen Zweifel, dass der Hauptantrages (eingereicht am 14. Februar 2012 als erster Hilfsantrag) eine unmittelbare direkte Antwort auf die Mitteilung der Kammer darstellt. Die vorgenommene minimale Änderung im Anspruch 1 war im Hinblick auf den erhobenen Einwand zu erwarten und kann nicht als überraschend angesehen werden (siehe Punkte IV und XII, supra). Diese Änderung erhöht weder die Komplexität des Verfahrens bzw. des Diskussionsgegenstands, noch erfordert sie eine Verlegung der mündlichen Verhandlung oder eine Zurückverweisung an die Vorinstanz. Die Kammer stellt auch fest, dass die Beschwerdeführerin keinen Einwand gegen die Zulassung dieses Hauptantrages erhoben hat.

4. In Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(1) VOBK lässt die Kammer daher den Hauptantrag (eingereicht am 14. Februar 2012 als erster Hilfsantrag) in das Beschwerdeverfahren zu.

Artikel 100 c) EPÜ/Artikel 123(2),(3) EPÜ

5. Das Verfahren zur Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids aus eukaryotischen Zellen gemäß Anspruch 1 der Anmeldung ist dadurch gekennzeichnet, dass "dem Kulturmedium eine Mischung von mindestens zwei Kohlenhydraten zugegeben wird". Wie von der Beschwerdegegnerin angedeutet, gibt der Wortlaut dieses Anspruchs keinerlei Hinweis auf das Vorhandensein anderer Nährstoffe. Obwohl die genaue Zusammensetzung der zugegebenen Mischung offen ist, umfasst der Anspruch eine Ausführungsform mit Mischungen, die nur (ausschließlich) zwei Zucker enthalten. Diese Ausführungsform wird auf Seite 6, Zeilen 22 bis 32 der Beschreibung der Anmeldung offenbart: "(d)ie ... zugegebenen Nährstoffe umfassen essentielle Aminosäuren ... oder/und Kohlenhydrate" (Hervorhebung durch die Kammer; siehe auch Seite 5, Zeile 27 bis Seite 6, Zeile 3). Als "(b)esonders bevorzugt wird eine Mischung von Glucose, Galactose und Mannose eingesetzt". Die Kammer gelangt daher zu der Überzeugung, dass die Änderungen in Anspruch 1 den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ entsprechen.

6. Auch der Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 ist bezüglich der genauen Zusammensetzung der Nährstofflösung offen (siehe Punkt I, supra). Er umfasst eine Ausführungsform, bei der die zugegebenen Nährstoffe ausschließlich zwei Kohlenhydrate beinhalten. Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrages bezieht sich, wie Anspruch 1 des erteilten Patents, auf eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Nährstoffen bzw. einer Mischung zu einem für die Kultivierung von Zellen geeigneten Medium, abhängig vom jeweiligen Bedarf der Zellen (siehe Punkte I und XII, supra). Der Schutzumfang von Anspruch 1 des Hauptantrages ist durch das verpflichtende Vorhandensein eines dritten Kohlenhydrats und der genauen Definition der drei in der zugesetzten Mischung verwendeten Kohlenhydrate als eingeschränkt gegenüber dem Schutzumfang von Anspruch 1 wie erteilet anzusehen. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zum Schluss, dass Anspruch 1 des Hauptantrages auch den Erfordernissen von Artikel 123 (3) EPÜ entspricht.

7. Die Einspruchsabteilung vertrat die Auffassung, dass die aufrechterhaltenen Ansprüche (gemäß ihr vorliegendem vierten Hilfsantrag) die Erfordernisse der Artikel 123(2),(3) EPÜ erfüllten (siehe Seite 16, zweite Absatz der angefochtenen Entscheidung). Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde diesbezüglich von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. In ihrer Beschwerdebegründung erhob die Beschwerdeführerin einen einzigen Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ, der jedoch bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgetragen worden war, also neu im gesamten Verfahren war (siehe Absatz 1, supra). Nach ihrer Meinung umfassten die von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Ansprüche Ausführungsformen, die eine zeitlich und/oder physikalisch getrennte Zugabe verschiedener Nährstofflösungen umfassten, die jeweils nur eines oder mehrere der im Anspruch genannten drei Kohlenhydrate beinhalteten, welche keine Stützung in der Anmeldung fanden. Durch die Verwendung des Wortes "Mischung" in Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrages trifft dieser Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ auf die Ansprüche des Hauptantrages nicht mehr zu.

8. Somit erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse der Artikel 123(2),(3) EPÜ.

Artikel 100 b) EPÜ/Artikel 83 EPÜ

9. Das erfindungsgemäße Verfahren bezieht sich auf die Kultivierung menschlicher Zellen in einem geeigneten Medium und ist durch die kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose gekennzeichnet (siehe Punkt XII, supra). Das Prinzip der kontrollierten, bedarfsgerechten Zugabe von Nährstofflösungen ist im Stand der Technik bekannt. Gleichfalls sind Verfahren zur Bestimmung des Glykosilierungsgrades eines Polypeptids gewonnen aus menschlichen Zellen aus dem Stand der Technik bekannt (siehe z.B. Beispiele 2 bis 4 des Streitpatents). Diese Erkenntnisse wurden in der angefochtenen Entscheidung anerkannt und von der Parteien nicht in Zweifel gezogen (siehe Seite 11, zweite Absatz der angefochtenen Entscheidung). Die Durchführung des beanspruchten Verfahrens erfordert also keinen unzumutbaren Aufwand.

10. Die Argumentation der Beschwerdeführerin hinsichtlich mangelnder Offenbarung stützt sich hauptsächlich auf das Merkmal "Erhöhung des Glykosilierungsgrades", welches ihrer Meinung nach relativ und daher, ohne Angabe eines Referenzpunktes, unbestimmt ist (siehe Punkt XIV, supra). Die Kammer vertritt die Auffassung, dass Polypeptide, die mittels eines anderen Verfahrens als dem beanspruchten, d.h. ohne eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose, hergestellt wurden, als Referenzpunkte zur Bestimmung des fraglichen Parameters dienen können. Die Ergebnisse der Beispielen 5 und 7 (siehe Tabellen 1, 3 und Abbildungen 1, 2 des Streitpatents) zeigen, dass die kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe einer Mischung von Glucose, Mannose und Galactose eine Erhöhung des Glykosilierungsgrades der Erythropoietin-Isoformen, im Vergleich zu einer kontrollierten und bedarfsgerechten Zugabe von nur Glucose bewirkt. Wie auch von der Einspruchsabteilung festgestellt (siehe Seite 11 der angefochtenen Entscheidung), wurden seitens der Einsprechenden keine konkreten und experimentell nachgewiesenen Daten vorgelegt, die diese Auffassung in Frage stellen könnten (siehe Absatz 18, infra). Daher sieht die Kammer keine Veranlassung, von der Meinung der Einspruchsabteilung abzuweichen, wonach die Erfordernisse von Artikel 83 EPÜ erfüllt sind.

Artikel 100 a) EPÜ/Artikel 56 EPÜ

Zulässigkeit der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente

11. Artikel 12(2) VOBK sieht vor, dass die Beschwerdebegründung ausdrücklich und spezifisch alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel eines Beteiligten enthalten soll. Gemäß Artikel 13(1) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Im Hinblick darauf sind neue Argumente, die ohne angemessene Erklärung bzw. Rechtfertigung erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen werden, als verspätet anzusehen und nicht in das Verfahren zuzulassen (siehe unter anderen die Entscheidungen T 1069/08 vom 8. September 2011, insbesondere die Absätze 26 bis 29 und T 1621/09 vom 22. September 2011).

12. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung zwei Entgegenhaltungen, nämlich D26 und D6, als möglichen nächstliegenden Stand der Technik angeführt. Wie die Kammer in ihrer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK bereits angemerkt hat, waren im erstinstanzlichen Verfahren zwei andere Entgegenhaltungen als nächstliegender Stand der Technik genannt worden, die wiederum mit anderen Entgegenhaltungen kombiniert worden waren (siehe Seite 13, Punkt 3, Seite 14, Punkt 6 und Seite 15, Punkt 7 der angefochtenen Entscheidung). Die Entscheidung und die Begründung der Einspruchsabteilung in Bezug auf diesen spezifischen Stand der Technik wurden weder mit der Beschwerdebegründung noch zu einem späteren Zeitpunkt des schriftliches Verfahrens angegriffen und sind daher nicht Teil des Beschwerdeverfahrens.

13. Ein derartiger Angriff wurde auch von der weiteren Verfahrensbeteiligten im gesamten schriftlichen Verfahren nicht vorgetragen. Vielmehr wurden von dieser Seite während des schriftlichen Beschwerdeverfahrens keinerlei Eingaben gemacht, d.h. weder eine Stellungnahme zu den Argumenten der anderen Parteien oder zur Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK der Kammer, noch wurden neue Argumente vorgebracht. Einzig und allein bei der mündlichen Verhandlung hat die weitere Verfahrensbeteiligte zwei neue Argumente vorgebracht (siehe Punkt XV, supra), zu denen die Kammer folgende Meinung vertritt:

13.1 Das erste neue Argument bezieht sich auf den durch die Erfindung zu erzielenden technischen Effekt, nämlich eine "Erhöhung des Glykosilierungsgrades". Die Kammer stimmt der weiteren Verfahrensbeteiligten darin zu, dass ein gleiches oder sehr ähnliches Argument im schriftlichen Verfahren unter Artikel 83 EPÜ (Artikel 100 b) EPÜ) von der Beschwerdeführerin vorgebracht wurde. Ferner ist auch die Kammer der Auffassung, dass die wesentlichen Elemente dieses Arguments relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sind. Dafür ist es im vorliegenden Fall notwendig festzustellen, ob die zu lösende technische Aufgabe durch das beanspruchte Verfahren tatsächlich gelöst wird. Aus diesem Grunde lässt die Kammer das Argument im Verfahren zu.

13.2 Das zweite vorgebrachte Argument stützt sich auf die Entgegenhaltungen D2, D7 und D9.

Die Entgegenhaltung D2 wurde in der Beschwerdebegründung als allgemeiner Stand der Technik zitiert, es wurde von der Beschwerdeführerin aber ausschließlich auf die Abbildung 6-1 Bezug genommen. Zu den von der weiteren Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung zitierten Absätzen und Abbildungen der Entgegenhaltung D2 wurde im gesamten schriftlichen Beschwerdeverfahren nie etwas vorgetragen.

Die Entgegenhaltungen D7 und D9 wurden im Beschwerdeverfahren von der weiteren Verfahrensbeteiligten erstmals in der mündlichen Verhandlung angeführt. Bezüglich D7 ist anzumerken, dass die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin zwar auf Seite 9 eine Bezugnahme auf eine "Entgegenhaltung D7" enthält, es ist aber klar zu erkennen und wurde von den Parteien auch nicht angezweifelt, dass damit die im ursprünglichen Einspruchsschriftsatz von der Beschwerdeführerin bezeichnete Entgegenhaltung D7 gemeint war, die im gegenwärtigen Beschwerdeverfahren gemäß der konsolidierten Liste des Standes der Technik als Entgegenhaltung D30 bezeichnet wird.

Durch diese Änderung des Vorbringens der weiteren Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung ergeben sich Kombinationen und Sachverhalte komplexer Natur, die vorher im schriftlichen Verfahren nicht angesprochen wurden. Im Sinne der obengenannten Rechtsprechung macht die Kammer von ihrem Ermessen nach Artikel 13(1) VOBK Gebrauch und lässt dieses (zweite) neue Argument der weiteren Verfahrensbeteiligten zu diesem späten Stadium nicht in das Beschwerdeverfahren zu.

Substantielle Argumente

14. Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern besteht kein Anlass, bei der Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit einen breit gefassten Anspruch mithilfe der Beschreibung enger zu interpretieren, wenn es sich nicht um das Verständnis von erläuterungsbedürftigen Begriffen, sondern um die Beurteilung eines breit gefassten Patentbegehrens in Relation zum Stand der Technik handelt (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 6. Auflage 2010, I.C.2.9, Seite 120 und II.B.1.1.5, Seite 297). Nach Auffassung der Kammer gibt es keinen Grund, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Im Hinblick auf diese Rechtsprechung sind im vorliegenden Fall die von der Beschwerdeführerin genannten Entgegenhaltungen D26 und D6 als relevant anzusehen. Ein in diesem Stand der Technik beschriebenes Verfahren zur Aufrechterhaltung der Glykosilierung kann, bei einer breiten Interpretation des im Anspruch 1 verwendeten Wortlauts "Erhöhung des Glykosilierungsgrades", im wesentlichen als unter den Umfang des Anspruchs fallend angesehen werden. Auch das im Anspruch 1 angeführte Merkmal "während der Kultivierung eine kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von einer Mischung" ist diesbezüglich, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, breit auszulegen.

15. In ihrer Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin auf die Offenbarung in den Entegegenhaltungen D26 und D6, als möglichen alternativen nächstliegenden Stand der Technik verwiesen. Bezüglich den im Einspruchsverfahren zu diesem Zweck ausgewählten Entgegenhaltungen hat die Beschwerdeführerin hier eine neue Auswahl getroffen (siehe Absatz 12, supra).

15.1 Die Entgegenhaltung D26 befasst sich mit der Glykosilierung von IFN-gamma in rekombinanten CHO-Zellen. Mehrere Faktoren, die die Glykosilierung eines rekombinanten Polypeptids beeinflussen können, werden in dieser Entgegenhaltung anerkannt. Explizit werden die Kulturbedingungen bzw. die Zusammensetzung der Zellkultur und der verwendete, rekombinante Zelltyp genannt. Eine Verschlechterung der Glykosilierung über den Verlauf einer CHO-Kultur hinweg wird durch ein "glucose-limited chemostat system" verhindert. Die Erhöhung des Glykosilierungsgrades des IFN-gamma wird durch die Zugabe von zwei Glukose-Pulsen erreicht (siehe Seite 171, rechte Spalte). Daraus geht klar hervor, dass die Verfügbarkeit von Kohlenhydraten den Glykosilierungsgrad beeinflusst. Im Hinblick auf die breite Interpretation des im Anspruch 1 angeführten Merkmals "kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Nährstoffen" (siehe Absatz 14 oben), ist dieses Merkmal der Entgegenhaltung D26 direkt zu entnehmen.

15.2 Auch die Entgegenhaltung D6 bezieht sich auf Studien, die den Einfluss verschiedener Faktoren und Kulturbedingungen (u.a. Glucosegehalt und pH des Kulturmediums) auf die Glykosilierung von therapeutisch verwendbaren Glykoproteinen untersuchen (siehe Seite 577, rechte Spalte). Die Bedeutung der Glucose-Konzentration im Kulturmedium für eine optimale Glykosilierung von rekombinanten IFN-gamma in CHO-Zellen wird explizit beschrieben. Die Glykosilierung verbessert sich unter "fed-batch" Bedingungen (kontrollierte und bedarfsgerechte Zugabe von Glucose) im Vergleich zu einer Kultur unter "batch" Bedingungen (siehe Seite 581, rechte Spalte und Abbildung 4).

16. Ausgehend von diesem Stand der Technik kann die zu lösende technische Aufgabe, übereinstimmend mit der im Streitpatent genannten Aufgabe (siehe Absatz [0013] des Streitpatents), darin gesehen werden, ein Verfahren zur Erhöhung des Glykosilierungsgrades bei der Gewinnung eines glykosilierten Polypeptids bereitzustellen. Im Hinblick auf die von der weiteren Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Argumente (siehe Absatz 13.1 oben), stellt sich zunächst die Frage, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 eine Lösung der gestellten technischen Aufgabe darstellt.

17. Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von den in der Entgegenhaltungen D26 bzw. D6 offenbarten Verfahren durch zwei Merkmale, nämlich i) die Verwendung von rekombinanten "menschlichen Zellen" und ii) die "Zugabe von einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose". Die vorteilhafte Verwendung von rekombinanten menschlichen Zellen für die Herstellung von therapeutisch anwendbaren Polypeptiden ist aus dem Stand der Technik grundsätzlich bereits bekannt und stellt daher keinen Beitrag, geschweige denn einen erfinderischen, zum Stand der Technik dar. Dieses wurde auch von den Parteien nicht bestritten. Hingegen argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass das zweite Merkmal erforderlich und wesentlich für die Erzielung des erfindungsgemäß gewünschten technischen Effekts und somit zur Lösung der obengenannten technische Aufgabe ist.

18. Eine wesentliche Rolle spielen diesbezüglich die Beispiele 5 und 7 des Streitpatents, deren Ergebnisse von der weiteren Verfahrensbeteiligten wegen angeblicher mangelhafter Versuchsstandards und Kontrollen (siehe Punkt XV, supra) in Zweifel gezogen wurden. Angesichts fehlender überzeugender Tatsachen, die diese Zweifel belegen würden, kann die Kammer die Auffassung der weiteren Verfahrensbeteiligten nicht teilen.

18.1 Schon aus dem Wortlaut der Überschrift des Beispiels 5 geht klar hervor, dass die im Beispiel ausgeführten Zufütterungen kontrolliert und bedarfsgerecht sind. In den ersten vier Absätzen (Absatz [0043] bis Absatz [0046]) sind die allgemeinen Kultivierungsbedingungen und Vorräte für die zwei im Beispiel ausgeführten Fermentationen, nämlich Fermentation A (nur mit Glucose) und Fermentation B (mit Glucose, Galactose und Mannose) (siehe Absatz [0047]), detailliert beschrieben. In diesen Absätzen wird Bezug auf eine "bedarfsgerechte" Zufütterung und eine "kontinuierliche" Zugabe von Nährstofflösung genommen (siehe Absatz [0043], Zeile 23 und Absatz [0046], Zeile 31). In diesem Sinne ist auch Absatz [0051], der die in Tabelle 1 gezeigten Ergebnisse beschreibt, zu verstehen (siehe, Absatz [0051], Zeilen 50 bis 52). Die Kammer ist überzeugt, dass die angegebenen Ergebnisse der beiden Fermentationen dem eigentlichen angegebenen Ziel des Beispiels entsprechen und damit miteinander vergleichbar und im Sinne der Erfindung aussagekräftig sind. Bezüglich der Signifikanz der periodischen Analyse der Glutaminkonzentration (siehe Abätze [0047] und [0048] des Streitpatents) kann die Kammer zwar der weiteren Verfahrensbeteiligten insoweit zustimmen, als dass die unterschiedliche Verwendung der Glutaminkonzentration in den zwei Fermentationen gewissen Zweifel an ihrer Ausführung und an der tatsächliche Rolle des Glutamins lassen, jedoch sind diese Zweifel, wie schon im erstinstanzlichen Verfahren von der Einspruchsabteilung bemerkt wurde (siehe Seiten 10 und 11, Absatz 4 und Seite 15, letzter Absatz der angefochtenen Entscheidung), nicht durch experimentelle Vergleichsversuche bestätigt worden.

18.2 Gleichfalls sind die in der Form von Zweifeln vorgebrachten Beanstandungen der Ergebnisse des Beispiels 7 von der weitere Verfahrensbeteiligten durch keinerlei Experimente oder andere Fakten bekräftigt worden. Zwar ist die während der Kultivierung konstant gehaltenen Glucosekonzentration (3 ± 0,5 g/l) der Fermentationen E (nur mit Glucose) nur mit dem oberen Wert des angegebenen Konzentrationsbereichs für alle Zucker (zwischen 0,25 g/l und 3,5 g/l) in der Fermentation F (Glucose, Galactose und Mannose) identisch (siehe Absätze [0060] und [0062] des Streitpatents), jedoch lässt sich daraus nicht eindeutig feststellen, ob der erzielte Effekt auf eine möglicherweise niedrige Konzentration von Glucose in der Fermentation F zurückzuführen ist, wie von der weiteren Verfahrensbeteiligten behauptet wurde. Tatsache ist, dass das Ersetzen von Glucose durch eine Mischung umfassend Glucose, Galactose und Mannose eine Erhöhung des Glykosilierungsgrades des rekombinanten, menschlichen Erythropoietins ergibt. Obwohl die erzielte Erhöhung gemäß Tabelle 3 nicht außerordentlich hoch zu sein scheint, ist sie doch von einer gewissen Signifikanz, wie aus den Abbildungen 1 und 2 des Streitpatents ersichtlich wird.

18.3 Angesichts der Offenbarung im Streitpatent und in Abwesenheit experimentell substantiierter Beweises der von der weiteren Verfahrensbeteiligten erhobenen Zweifel, ist die Kammer davon überzeugt, dass der gewünschte technischen Effekt durch den Gegenstand des Anspruchs 1 erreicht wird. Daher stellt der Gegenstand dieses Anspruchs eine Lösung der der Erfindung zugrundeliegenden technischen Aufgabe dar (siehe Punkt 16, supra).

19. Abschließend kann die Kammer im Hinblick auf den von der Beschwerdeführerin zitierten Stand der Technik nicht erkennen, dass die anspruchsgemäße Zugabe von einer Mischung umfassend Glucose, Mannose und Galactose in naheliegender Weise aus dem vorliegenden Stand der Technik entnommen werden kann. Auch wenn es aus diesem Stand der Technik bereits bekannt ist, dass eine höhere Konzentration von Glucose im Zellkulturmedium eine schädliche Wirkung haben könnte (siehe Entgegenhaltung D28) und andere Kohlenhydrate als anerkannte Bausteine der Zellkohlenhydrate explizit beschrieben wurden (siehe Entgegenhaltungen D2, D30 und D40 - letztere wurde nur als "Expertenmeinung" zitiert), ergibt sich für den Fachmann keine ausreichende Veranlassung, die Lehre der Entgegenhaltung D26 bzw. D6 mit diesen Offenbarungen zu kombinieren. Auch wenn der Fachmann tatsächlich, wie von der Beschwerdeführerin behauptet, eine solche Kombination ohne weiteres in Erwägung ziehen sollte, hätte er eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten, um die im nächsten Stand der Technik verwendete Glucose zu ersetzen. Der Kammer liegt kein Hinweis darauf vor, dass alle, oder zumindest eine Mehrheit dieser Möglichkeiten, den anspruchsgemäßen gewünschten Effekt bewirken.

20. Im Hinblick auf diese Erwägungen ist die Kammer davon überzeugt, dass der Hauptantrag die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ erfüllt.

Anpassung der Beschreibung

21. Die Einsprechende 02 als weitere Verfahrensbeteiligte hatte keine Einwände gegen die von der Beschwerdegegnerin vorgelegte angepasste Beschreibung gemäß dem Hauptantrag. Die Kammer hat ebenfalls keine Einwände, so dass die gesamten Unterlagen gemäß Hauptantrag den Anforderungen des EPÜ genügen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Vorinstanz mit der Maßgabe zurückverwiesen, das Patent in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1 - 7 des als Hilfsantrag 1 mit Schriftsatz vom 14. Februar 2012 eingereichten Anspruchssatzes, nunmehr Hauptantrag;

- Beschreibung Seite 1 wie erteilt, Seiten 2, 3, 3a, 4 und 9 wie in der mündlichen Verhandlung überreicht, Seiten 5 - 8 wie erteilt.

- Zeichnungen wie erteilt.

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