T 1382/08 () of 30.3.2009

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2009:T138208.20090330
Datum der Entscheidung: 30 März 2009
Aktenzeichen: T 1382/08
Anmeldenummer: 01124075.1
IPC-Klasse: G01S 7/02
H01L 41/00
H02K 44/00
G01S 13/90
G01S 13/86
H02N 3/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: B
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Stromversorgungssystem für ROSAR-Transponder einschliesslich Sende- und Empfangsantennen für ROSAR-Einrichtungen
Name des Anmelders: EADS Deutschland GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention R 99(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 11
European Patent Convention 1973 Art 21(3)
European Patent Convention 1973 Art 113
European Patent Convention 1973 R 68(2)
European Patent Convention 1973 R 69(1)
European Patent Convention 1973 R 69(2)
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Zuständigkeit der technischen Beschwerdekammer (ja)
Klarheit der Entscheidungsformel (nein)
Rechtliches Gehör (nein)
Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
Devolutiveffekt der Beschwerde
Orientierungssatz:

1. Im Hinblick auf die Frage der Zuständigkeit nach Artikel 21(3) EPÜ 1973 ist die angefochtene Entscheidung bei unklarem oder widersprüchlichem Inhalt auf der Grundlage der gegenüber dem Anmelder festgestellten Rechtsfolgen bzw. des gegenüber der Öffentlichkeit erweckten Rechtsscheins zu charakterisieren (vgl. Punkt 1.3).

2. Der logische Aufbau einer angefochtenen Entscheidung setzt voraus, dass die Entscheidungsformel als solche klar und unmissverständlich ist. Die Missachtung dieser auf Regel 68(2) EPÜ 1973 gestützten Bedingung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der die Rückerstattung der Beschwerdegebühr rechtfertigt (vgl. Punkte 3.2, 3,3, 5).

3. Der gemäß Regel 99(2) EPÜ definierte Umfang, in welchem die angefochtene Entscheidung abzuändern ist, stellt gleichzeitig die Grenze des Devolutiveffekts der Beschwerde dar (vgl. Punkt 8).

Angeführte Entscheidungen:
G 0005/88
J 0008/81
T 0698/94
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0021/09
J 0016/13
T 0689/09
T 2117/11

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die am 29. November 2007 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung. Die Entscheidung betrifft die europäische Patentanmeldung Nr. 01 124 075.1 und trägt auf ihrem Deckblatt die Bezeichnung "Entscheidung über die Zurückweisung der Europäischen Patentanmeldung".

II. Im vorangegangenen Verfahren vor der Prüfungsabteilung hatte die Beschwerdeführerin (Anmelderin) in ihrem Schreiben vom 29. April 2004 die Rückerstattung der nach Regel 46(1) EPÜ 1973 entrichteten zusätzlichen Recherchengebühr sowie die Mitteilung gemäß Regel 51(4) EPÜ 1973 auf der Grundlage der mit dem selben Schreiben eingereichten geänderten Unterlagen beantragt. In diesem Schreiben wurde hilfsweise auch ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt.

III. In einem am 28. April 2006 geführten Telefongespräch teilte der erste Prüfer dem Vertreter der Beschwerdeführerin mit, dass die Prüfungsabteilung die von der Recherchenabteilung angeforderte zusätzliche Recherchengebühr als gerechtfertigt betrachte. In diesem Zusammenhang wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, zu erklären, ob der Antrag auf mündliche Verhandlung auch für die gemäß Regel 46(2) EPÜ 1973 geforderte Rückerstattung der Recherchengebühr gelte. Die Beschwerdeführerin versicherte, dass sie eine schriftliche Erklärung einreichen werde, mit der bestätigt würde, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung für die Frage der Rückzahlung der Recherchengebühr nicht gelte.

IV. Mit Schreiben vom 3. Mai 2006, das am 5. Mai beim EPA eingetroffen ist, teilte die Beschwerdeführerin folgendes mit: "Die Anmelderin beantragt Zwischenentscheidung bezüglich der Rückerstattung von Recherchegebühren gemäß R 46(2) EPÜ."

V. Am 9. Mai 2006 wurde das Protokoll des am 28. April 2006 geführten Telefongesprächs in der Form eines Bescheids gemäß Artikel 96(2) EPÜ 1973 und Regel 51(2) EPÜ 1973 an die Beschwerdeführerin geschickt, mit dem sie aufgefordert wurde, innerhalb einer Frist von 2 Monaten nach Zustellung darauf zu antworten, andernfalls die europäische Patentanmeldung als zurückgenommen gelte.

Da dieser Aufforderung zur Stellungnahme nicht entsprochen wurde, erging am 7. September 2006 eine Mitteilung gemäß Regel 69(1) EPÜ 1973 (Feststellung eines Rechtsverlustes), mit der der Beschwerdeführerin mitgeteilt wurde, dass die Patentanmeldung gemäß Artikel 96(3) EPÜ 1973 als zurückgenommen gelte.

VI. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2006 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ 1973 und brachte Argumente vor, wonach die Feststellung des Rechtsverlustes nicht gerechtfertigt war. Nach ihrer Ansicht wurde bereits mit dem Schreiben vom 3. Mai 2006 der in der telefonischen Rücksprache am 28. April 2006 an sie gerichteten Aufforderung der Prüfungsabteilung entsprochen.

Hilfsweise wurde Weiterbehandlung nach Artikel 121 EPÜ 1973 beantragt.

VII. Am 20. März 2007 wurde ein als "Kurzmitteilung" bezeichnetes Formblatt an die Beschwerdeführerin gesandt, in dem zu vorgedruckten Aussagen die entsprechenden Kästchen angekreuzt waren. In diesem Formblatt wurde explizit auf den Antrag auf Entscheidung vom 25. Oktober 2006 sowie auf den Bescheid vom 7. September 2006 (Feststellung eines Rechtsverlustes) hingewiesen. Zu der vorgedruckten Aussage "Anbei erhalten Sie:" wurde das Kästchen "Mitteilung" angekreuzt. Darunter befand sich folgender Text:

"Entscheidung: Unser o.g. Bescheid ist zurecht ergangen. Mit Schreiben vom 09-05-2006 wurde eine Frist von zwei Monaten gesetzt unnerhalb (sic) derer der Antrag auf mündliche Verhandlung Ihrerseits zurückgenommen werden sollte. Dieses ist nicht erfolgt; auch Ihr Schreiben vom 03-05-2006 enthält keine Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung, dies kann auch nicht sinnentnehmend aus dem Schreiben geschlossen werden. Die Gebühr zur Weiterbehandlung der Anmeldung kann daher nicht erstattet werden.

Mit der Bitte um Kenntnisnahme".

Am selben Tag erging eine Entscheidung über den mit Schreiben vom 25. Oktober 2006 gestellten Antrag auf Weiterbehandlung nach Artikel 121(3) EPÜ 1973. Dem Antrag der Beschwerdeführerin wurde entsprochen, indem die mitgeteilte Rücknahme der Anmeldung rückgängig gemacht wurde.

VIII. Am 29. November 2007 folgte die als "Entscheidung über die Zurückweisung der Europäischen Patentanmeldung" gekennzeichnete Entscheidung der Prüfungsabteilung. Sie trägt auf dem Deckblatt folgende Feststellung: "Die Prüfungsabteilung hat entschieden: Die europäische Patentanmeldung Nr. 01 124 075.1 wird zurückgewiesen." Die beigefügte Begründung besteht aus drei Teilen. Teil I umfasst eine Zusammenfassung der Fakten und der gestellten Anträge. Teil II ist auf eine Entscheidung nach Regel 46(2) EPÜ 1973 gerichtet und entsprechend gekennzeichnet. Der Analyse und Bewertung des Sachverhalts folgt unter Punkt 3 dieses zweiten Teils folgende Feststellung: "Die durch die Anmelderin gemäss Regel 46(2) EPÜ beantragte Erstattung der nach Regel 46(1) EPÜ gezahlten Recherchengebühr wird zurückgewiesen". Teil III der Begründung ist als "Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ" 1973 gekennzeichnet und schliesst mit folgendem Tenor ab: "Die im A3 eingegangene Beantragung gemäss Regel 69(2) EPÜ wird zurückgewiesen", wobei mit A3 das Schreiben des Anmelders vom 25. Oktober 2006 gemeint ist, in dem ein solcher Antrag auf Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ 1973 gestellt wurde.

IX. Mit Schreiben vom 14. Januar 2008, eingereicht am 17. Januar 2008, wurde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 29. November 2007 Beschwerde eingelegt. Es wurden die Aufhebung der Entscheidung über die Zurückweisung der Patentanmeldung sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr beantragt. Mit Einlegung der Beschwerde wurde gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet und die Begründung eingereicht. Aus der Beschwerdebegründung geht hervor, dass die Beschwerdeführerin in der Entscheidung vom 29. November 2007 eine zweite Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ 1973 sieht, die zu Unrecht erlassen wurde, da ihrer Meinung nach mit dem Schreiben vom 20. März 2007 schon eine erste Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ 1973 erlassen worden sei und ihr mit dem zweiten Schreiben dieses Datums bereits Weiterbehandlung gewährt wurde.

X. Am 12. November 2008 erging eine Mitteilung der Beschwerdekammer, in der die vorläufige Auffassung der Kammer der Beschwerdeführerin mitgeteilt wurde. Auf die Anregung der Kammer, zu den erwähnten Punkten Stellung zu nehmen, wurde seitens der Beschwerdeführerin nicht eingegangen.

Entscheidungsgründe

Im Hinblick auf die am 13. Dezember 2007 in Kraft getretene revidierte Fassung des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ 2000) wird auf den Beschluss des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 hingewiesen (vgl. Sonderausgabe Nr. 1 Abl. EPA 2007, Seite 197). Auf den Beschluss des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 zur Änderung der Ausführungsordnung zum EPÜ 2000 (vgl. Sonderausgabe Nr. 1 Abl. EPA 2007, Seite 89) wird ebenfalls Bezug genommen.

In dieser Mitteilung der Kammer werden zitierte Artikel und Regeln mit dem Zusatz "1973" versehen, wenn auf bis zum 13. Dezember 2007 geltende Vorschriften des EPÜ Bezug genommen wird. Andernfalls werden Artikel und Regeln ohne Zusatz zitiert.

1. Zuständigkeit der technischen Beschwerdekammer 3.4.01

1.1 Die Frage der Zuständigkeit der technischen Beschwerdekammer stellt sich wegen der Tatsache, dass die Überschrift "Entscheidung über die Zurückweisung der Europäischen Patentanmeldung" und die nachfolgende Feststellung "Die europäische Patentanmeldung Nr. 01 124 075.1 wird zurückgewiesen" auf dem Deckblatt der angefochtenen Entscheidung den Entscheidungsformeln am Ende von Teil II und III der Entscheidungsgründe widersprechen, wonach die beantragte Erstattung der nach Regel 46(1) EPÜ 1973 gezahlten Recherchengebühr bzw. der Antrag auf eine Entscheidung gemäß Regel 69(2) EPÜ 1973 zurückgewiesen wurden. Folglich muss zuerst geprüft werden, ob die angefochtene Entscheidung in der Tat als Zurückweisung der Anmeldung oder bloss als Zurückweisung eines Antrags auf Rückerstattung einer Recherchengebühr bzw. als Bestätigung des mit der Mitteilung gemäß Regel 69(1) EPÜ 1973 festgestellten Rechtsverlustes anzusehen ist. In den letzteren zwei Fällen wäre nach Artikel 21(3)c) EPÜ 1973 nämlich die juristische Beschwerdekammer für die Beschwerde zuständig.

1.2 Die Kammer stellt fest, dass auf den am 20. November 2007 von den Mitgliedern der Prüfungsabteilung unterschriebenen, der zugestellten Entscheidung zugrunde liegenden Unterlagen (EPA Form 2048.2) nach dem Hinweis "Die Prüfungsabteilung hat entschieden" die vorgedruckte Angabe "Die europäische Patentanmeldung wird aufgrund des Art. 97(1) EPÜ zurückgewiesen" mit der Hand gestrichen und durch die handschriftliche Angabe "siehe Anlage Form 2916" ersetzt wurde, wobei mit Form 2916 der eigentliche Text der dreiteiligen Begründung gemeint ist. Diese Tatsache scheint zunächst einen Hinweis darauf zu liefern, dass die Zurückweisung der Anmeldung gemäß Art. 97(1) EPÜ 1973, wie sie aus der zugestellten, vom Formalprüfer ausgefertigten Entscheidung folgt, von den Prüfern der Prüfungsabteilung nicht beabsichtigt war.

Die Zurückweisung europäischer Patentanmeldungen nach Artikel 97(1) EPÜ 1973 gehört jedoch aufgrund der ihm gemäß Regel 9(3) EPÜ 1973 übertragenen Tätigkeiten auch zum Zuständigkeitsbereich des Formalprüfers (vgl. Mitteilung des Vizepräsidenten des GD2 des EPA vom 28. April 1999, Punkt 21, Abl. 1999, 504), so dass die im vorliegenden Fall vom Formalprüfer ausgefertigte Zurückweisungsentscheidung vom 29. November 2007 für die betroffene Partei als maßgebend betrachtet werden kann. Der Anschein, wonach die Zurückweisung der Anmeldung beabsichtigt war, wird auch dadurch erweckt, dass der Beschwerde nicht abgeholfen wurde.

1.3 Die Kammer hält es unter diesen Umständen für angebracht, im Hinblick auf die Frage ihrer Zuständigkeit nach Artikel 21(3) EPÜ 1973 die angefochtene Entscheidung auf der Grundlage der gegenüber dem Anmelder festgestellten Rechtsfolgen bzw. des gegenüber der Öffentlichkeit erweckten Rechtsscheins zu charakterisieren. Im vorliegenden Fall weist nicht nur die interne Kodierung und die Entscheidungsformel auf dem Deckblatt der am 29. November 2007 abgesendeten Entscheidung auf eine Zurückweisung der Anmeldung hin, sondern auch die im europäischen Patentregister und für die Öffentlichkeit verfügbare Information, wonach laut Informationsdienst des EPA "Epoline" am 29. November 2007 die "Absendung der Mitteilung über die Zurückweisung der Anmeldung" erfolgte.

1.4 Folglich wird der am 29. November 2007 abgesendeten Entscheidung der Prüfungsabteilung die Wirkung einer Zurückweisung zugeschrieben, was die Zuständigkeit der technischen Beschwerdekammer rechtfertigt.

2. Die Kammer hat sich davon überzeugt, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Beschwerde erfüllt sind.

3. Regel 68(2) EPÜ 1973 - Form der Entscheidungen

3.1 Nach Regel 68(2) EPÜ 1973 sind die Entscheidungen des EPA, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen. Wie die Beschwerdekammer in der Entscheidung T 698/94 befand, bedeutet dieses Erfordernis, dass in der Entscheidung für jeden angeführten und substanziierten Grund ausdrücklich die logische Kette der Argumente dargelegt sein muss, auf denen die Schlussfolgerung und damit der endgültige Urteilsspruch basieren (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 5. Auflage, S. 539, 540).

3.2 Diese Prüfung des logischen Aufbaus der Begründung einer Entscheidung setzt deshalb voraus, dass die Entscheidungsformel als solche klar und unmissverständlich ist. Insbesondere darf sie nicht in sich widersprüchlich sein.

Wie schon im vorangehenden Punkt dargelegt, ist diese Voraussetzung bei der angefochtenen Entscheidung nicht erfüllt. Die Entscheidungsformel im Teil III der angefochtenen Entscheidung: "Die im A3 eingegangene Beantragung gemäss Regel 69(2) EPÜ wird zurückgewiesen" - wobei mit A3 das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 25. Oktober 2006 gemeint ist - bringt im Hinblick auf die vorliegenden Umstände nicht eindeutig zum Ausdruck, ob der Aufhebung der Feststellung des Rechtsverlustes stattgegeben wird oder nicht. Auf jeden Fall steht diese Schlussformel in Widerspruch zu der Entscheidungsformel auf dem Deckblatt, wonach die Patentanmeldung zurückgewiesen wird.

Die den Teil II der Entscheidung abschließende Formel: "Die durch die Anmelderin gemäss Regel 46(2) EPÜ beantragte Erstattung der nach Regel 46(1) EPÜ gezahlten Recherchengebühr wird zurückgewiesen" trägt auch nicht zu einer Klärung der Absichten der Prüfungsabteilung bei, da sie sich auf einen weiteren Aspekt der Entscheidung bezieht, der nicht in Verbindung steht mit den auf dem Deckblatt oder im Teil III der Entscheidung verkündeten Formeln.

3.3 Demzufolge liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der die Aufhebung der Entscheidung der Prüfungsabteilung rechtfertigt.

4. Artikel 113(1) EPÜ 1973 - Rechtliches Gehör

4.1 Ein weiterer Verfahrensmangel sieht die Kammer in dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin sich weder bezüglich der Gründe für die Bestätigung des Rechtsverlustes noch bezüglich der Gründe für die Zurückweisung der Anmeldung äußern konnte.

4.2 Die Kammer gelangt zu dem Ergebnis, dass das vom EPA als "Kurzmitteilung" bezeichnete Schreiben vom 20. März 2007 im Hinblick auf seinen Inhalt eigentlich als Entscheidung einzustufen ist. Dies entspricht auch der Annahme der Beschwerdeführerin, die laut Beschwerdeschrift in dieser Kurzmitteilung eine (erste) Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ 1973 sah. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern hängt die Frage, ob ein vom EPA herausgegebenes Dokument eine Entscheidung oder einen Bescheid darstellt, von der Substanz seines Inhalts und nicht von seiner Form ab (vgl. J 8/81; Abl. 1982, 10). Im vorliegenden Fall entspricht z.B. der in der Kurzmitteilung enthaltene Text: "Entscheidung: Unser o.g. Bescheid ist zurecht ergangen" mehr der Ausdrucksweise einer Entscheidung, als der einer einfachen Mitteilung. Dies wird durch die Schlussformel "mit der Bitte um Kenntnisnahme" bestätigt, indem die Beschwerdeführerin zu keiner Stellungnahme mehr aufgefordert wurde. Somit hatte das Formblatt trotz seiner Bezeichnung als Kurzmitteilung insgesamt die Wirkung, dass die Beschwerdeführerin von einer solchen Stellungnahme abgehalten wurde. Dadurch ließ sich die Beschwerdeführerin die Gelegenheit entgehen, sich zu der Bestätigung der Feststellung des Rechtsverlustes zu äußern. Insbesondere wurden weder das frühere Schreiben vom 3. Mai 2006 noch das Schreiben vom 25. Oktober 2006 als der im Bescheid vom 9. Mai 2006 gestellten fristgebundenen Aufforderung der Prüfungsabteilung zur Stellungnahme entsprechend angesehen. Erst mit der Zustellung der Entscheidung vom 29. November 2007 hat die Beschwerdeführerin erkennen können, dass die Kurzmitteilung vom 20. März 2007 tatsächlich einer Mitteilung hätte entsprechen sollen, auf die sie hätte reagieren können.

4.3 Der Akte ist auch eine Begründung für die Zurückweisung der Anmeldung nicht zu entnehmen.

Aus dem Ablauf des Prüfungsverfahrens ergibt sich, dass die Entscheidung vom 29. November 2007 eigentlich überraschenderweise zugestellt wurde, da zu diesem Zeitpunkt eine Zurückweisung der Anmeldung nicht zu erwarten war. Die im Bescheid der Prüfungsabteilung vom 9. Mai 2006 erwähnten Gründe bezogen sich nämlich auf die Frage der Rückerstattung der Recherchengebühr und hätten somit nur zu einer Zurückweisung des diesbezüglichen Antrags und nicht der Anmeldung als solcher führen können.

Der Antrag auf Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ hätte möglicherweise nach entsprechender Mitteilung der Gründe zu einer Bestätigung des Rechtsverlustes führen können. Eine solche Entscheidung wäre jedoch rein feststellender Art gewesen und ist mit einer Zurückweisung der Anmeldung nicht gleichzusetzen.

4.4 Aus diesen Gründen ist ein weiterer Verfahrensmangel festzustellen, der an sich ebenfalls die Aufhebung der Entscheidung vom 29. November 2007 rechtfertigt.

5. Rückerstattung der Beschwerdegebühr (Regel 67 EPÜ 1973)

Wegen der oben genannten Verfahrensmängel im Verfahren vor der ersten Instanz, die als wesentlich einzustufen sind, entspricht die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit. Die Rückzahlung wird somit angeordnet.

6. Zurückverweisung an die erste Instanz

Gemäß Artikel 111(1) EPÜ 1973 in Verbindung mit Artikel 11 VOBK verweist eine Kammer die Angelegenheit an die erste Instanz zurück, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist, es sei denn, dass besondere Gründe gegen die Zurückverweisung sprechen.

Im vorliegenden Fall würde die Zurückverweisung an die erste Instanz, deren Auffassung zu dem gestellten Antrag auf Entscheidung über den Rechtsverlust trotz Verfahrensmängeln eindeutig ersichtlich ist, jedoch von der Beschwerdekammer nicht geteilt wird (vgl. Punkt 7), zu einer unnötigen Zeitverzögerung führen. Darüber hinaus, da dem Antrag auf Weiterbehandlung mit Schreiben vom 20. März 2007 stattgegeben wurde, wäre im Fall einer ungünstigen Entscheidung nach der Zurückverweisung der Weg der Beschwerde, die einzig und allein zu der Rückerstattung der Weiterbehandlungsgebühr führen könnte, im Hinblick auf die dafür zu entrichtende Beschwerdegebühr praktisch sinnlos.

Aus diesen Gründen erachtet die Kammer es für angebracht, über die Feststellung des Rechtsverlustes zu entscheiden.

7. Feststellung des Rechtsverlustes (Rücknahmefiktion)

7.1 Es stellt sich dabei die Frage, ob die Beschwerdeführerin mit ihrem Schreiben vom 3. Mai 2006 der Aufforderung der Prüfungsabteilung gemäß dem Bescheid vom 9. Mai 2006 (mit dem Ergebnis der telefonischen Rücksprache vom 28. April 2006) bereits nachgekommen war (vgl. Ziffer V, oben). Wie aus diesem Bescheid zu entnehmen ist, ergibt sich diese Aufforderung zur Stellungnahme eigentlich aus dem am 28. April 2006 geführten Telefongespräch, so dass das Antwortschreiben vom 3. Mai 2006 als Reaktion auf die Anfrage der Prüfungsabteilung anzusehen ist. Die vom EPA zu verantwortende Verzögerung bei der Übermittlung des Telefonprotokolls darf nicht den Anmelder benachteiligen. Dies ergibt sich allein schon aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes (vgl. G 5/88, Abl. 1991, 137, Punkt 3.2 der Entscheidungsgründe; Singer/Stauder, "Europäisches Patentübereinkommen", 4. Auflage, S.949, Punkt 6).

In diesem Zusammenhang spielt nur eine Rolle, dass die Anmelderin fristgerecht Stellung genommen hat. Der Umstand, dass das Antwortschreiben vom 3. Mai 2006 inhaltlich den Erwartungen der Prüfungsabteilung nicht entsprach, indem die Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung nicht wie angekündigt bestätigt wurde, ist dabei unerheblich.

7.2 Folglich erachtet die Kammer die Aufhebung der Feststellung des Rechtsverlustes für angebracht, was wiederum die Rückzahlung der Weiterbehandlungsgebühr nach sich zieht.

8. Devolutiveffekt der Beschwerde

Soweit eine Beschwerdekammer mit einer Beschwerde befasst wird, erstreckt sich der Devolutiveffekt nur auf den in der Beschwerdebegründung angegebenen Teil der angefochtenen Entscheidung, der tatsächlich mit der Beschwerde angegriffen wird. Für die Kammer stellt somit der unter Regel 99(2) EPÜ definierte Umfang, in welchem die angefochtene Entscheidung abzuändern ist, gleichzeitig die Grenze des Devolutiveffekts dar. Dies wiederum impliziert, dass der von der Beschwerdebegründung nicht umfasste Teil der angefochtenen Entscheidung auch nicht Teil des Beschwerdeverfahrens werden kann und folglich mit Ablauf der Beschwerdefrist rechtkräftig wird.

Dies ist der Fall für Teil II der Entscheidung der Prüfungsabteilung, die sich mit der Frage der Rückerstattung der nach Regel 46(1) EPÜ 1973 bezahlten Recherchengebühr befasst und von der Beschwerdebegründung nicht erfasst wurde.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

2. Die Rückerstattung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.

3. Die Rückerstattung der Weiterbehandlungsgebühr wird angeordnet.

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