T 1227/08 () of 8.3.2012

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2012:T122708.20120308
Datum der Entscheidung: 08 März 2012
Aktenzeichen: T 1227/08
Anmeldenummer: 01106668.5
IPC-Klasse: G06K 9/00
G06T 5/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur zyklischen, interaktiven Bildanalyse sowie Computersystem und Computerprogramm zur Ausführung des Verfahrens
Name des Anmelders: Carl Zeiss Imaging Solutions GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die am 24. Januar 2008 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 01 106 668.5 zurückzuweisen. Die Entscheidung erfolgte in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung, während deren Verlauf eine Entscheidung nach Aktenlage beantragt wurde.

II. In der angefochtenen Entscheidung wurde auf zwei frühere Bescheide der Prüfungsabteilung sowie auf die Debatte während der mündlichen Verhandlung hingewiesen. In diesen Bescheiden bzw. während der mündlichen Verhandlung wurde u.a. die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des damaligen Hauptantrags und der damaligen Hilfsanträge 1 und 2 im Hinblick auf die Lehre des Artikels von Justus H. Piater et al., "Interactively Training Pixel Classifiers" im International Journal of Pattern Recognition and Artificial Intelligence, Band 13, Nr. 2 von 1999, Seiten 171-193, XP825437, (Dokument D9) und das Fachwissen auf dem Gebiet der Erfindung nicht erfinderisch war. Zur Illustration dieses Fachwissens wurde auf die Seite 39, Punkt 4.3.2 der Diplomarbeit von O. Rockinger, "Fusion dynamischer Bildfolgen", August 1995, eingereicht beim Institut für Regelungstechnik und Systemdynamik der TU Berlin (Dokument D5) hingewiesen, wonach der Schritt der Normierung von Parametern vor deren Klassifikation einer üblichen wohlbekannten Maßnahme auf dem Gebiet der Bildverarbeitung entspricht.

III. Mit Telefax vom 2. April 2008 wurde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdegebühr wurde am gleichen Tag entrichtet. Die schriftliche Begründung wurde am 2. Juni 2008 eingereicht.

IV. Es wurden die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der Patentansprüche des am 2. Juni 2008 eingereichten Hauptantrags oder eines der ebenfalls am 2. Juni 2008 eingereichten Hilfsanträge 1 oder 2 beantragt.

Hilfsweise beantragte die Beschwerdeführerin die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den Fall, dass die Kammer keinem der Anträge stattgeben sollte.

V. Nach Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde in einem Bescheid vom 16. Januar 2012 der Beschwerdeführerin die vorläufige Auffassung der Kammer mitgeteilt. In dieser Mitteilung wurde insbesondere auf mögliche Verstöße gegen die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ und auf einige Bedenken der Kammer hinsichtlich der Frage der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ 1973) hingewiesen. In diesem Zusammenhang erschien es insbesondere fraglich, ob die Unterscheidungsmerkmale zwischen dem beanspruchten Verfahren und dem im Dokument D9 offenbarten Verfahren ausreichen würden, um eine erfinderische Tätigkeit begründen zu können.

VI. Mit ihrem Schreiben vom 27. Februar 2012 reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Hauptantrag sowie neue Hilfsanträge 1 bis 4 ein, mit denen versucht wurde, die Bedenken der Beschwerdekammer hinsichtlich der Frage der unzulässigen Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ) auszuräumen. Die früheren Anträge wurden nicht weiter verfolgt.

VII. Der Patentanspruch 1 lautet wie folgt:

"1. Verfahren zur zyklischen, interaktiven Bildanalyse mit den Schritten:

a) Auswahl interessierender Bildbereiche im Bild durch den Benutzer, wobei sowohl flächenhafte als auch linienhafte Bildbereiche vom Benutzer ausgewählt werden können,

b) Bereitstellen vorprogrammierter Transformationen, wobei die vorprogrammierten Transformationen sowohl translations- und rotationsinvariante Transformationen sowie eine Transformation zur wirksamen Darstellung von Linien und Kanten enthalten,

c) Auswahl von Transformationen aus den bereitgestellten Transformationen, wobei bei einem linienhaften ausgewählten Bildbereich mindestens auch die Transformation zur wirksamen Darstellung von Linien und Kanten ausgewählt wird,

d) Durchführen der ausgewählten Transformationen am Bild in allen Bildpunkten oder an einer Auswahl von Bildpunkten,

e) Durchführen einer Normierung der einzelnen Transformationsergebnisse,

f) Unterteilung des gesamten, normierten Transformationsraumes in Klassen mit dem Ergebnis einer Klassifizierung im Transformationsraum mit Hilfe von Trennvorschriften, die von den Transformationsergebniswerten in den vom Benutzer ausgewählten Bildbereichen abgeleitet werden,

g) Zuordnung der im Transformationsraum erhaltenen Klassifizierung zu den einzelnen Bildpunkten, und

h) Darstellung des so klassifizierten Bildes im Bildraum."

Die Ansprüche 2-11 sind abhängige Ansprüche.

Der unabhängige Anspruch 12 lautet:

"12. Computerprogrammprodukt, das in den Speicher eines digitalen Computers ladbar ist und einen Softwarecode zur Durchführung eines Verfahrens mit den Schritten nach einem der Ansprüche 1 bis 11 aufweist, wenn das Programm auf dem Computer abläuft."

Der Hilfsantrag 1 unterscheidet sich vom dem Hauptantrag indem das Wort "können" im Verfahrenschritt (a) des Anspruchs 1 gestrichen wurde und Verfahrenschritt (c) entsprechend umformuliert wurde.

Der Hilfsantrag 2 unterscheidet sich von dem Hilfsantrag 1 indem die abhängigen Ansprüche 6 und 7 gestrichen wurden und die folgenden Ansprüche entsprechend umnummeriert wurden.

Die Hilfsanträge 3 bzw. 4 unterscheiden sich vom Hauptantrag bzw. vom Hilfsantrag 2 im Wesentlichen dadurch, dass in den Merkmalen b) und c) des Anspruchs 1 der jeweiligen Anträge explizit auf eine Radontransformation zur wirksamen Darstellung von Linien und Kanten hingewiesen wird.

VIII. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer, in der die Entscheidung der Beschwerdekammer verkündet wurde, fand am 8. März 2012 in Anwesenheit der Beschwerdeführerin statt.

IX. Die Beschwerdeführerin teilte die Auffassung der Beschwerdekammer, wonach das Dokument D9 den nächstliegenden Stand der Technik darstellt, bestritt aber, dass das beanspruchte Verfahren sich in naheliegender Weise aus dessen Lehre ergebe. Dabei wies sie darauf hin, dass gemäß Dokument D9 lediglich 3*3 Matrizen, d.h. nur Felder aber keine Linien, ausgewählt werden. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin gebe es keine Grundlage für das Einbeziehen einer Radontransformation in das im Dokument D9 beschriebene Verfahren. Darüber hinaus hätte der Fachmann, auch wenn er eine solche Transformation berücksichtigt hätte, diese nicht notwendigerweise in der beanspruchten Form implementiert. Es sei nämlich nicht notwendig, einen linienhaften Bildbereich zu definieren, wenn man diese Transformation durch einfaches Auswählen der entsprechenden Funktion betätigen könnte, z.B. durch bloßes Aktivieren einer dafür vorgesehenen Taste.

X. In dieser Entscheidung werden zitierte Artikel und Regeln mit dem Zusatz "1973" versehen, wenn auf bis zum 13. Dezember 2007 geltende Vorschriften des EPÜ Bezug genommen wird. Andernfalls werden Artikel und Regeln ohne Zusatz zitiert.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag: Neuheit - Erfinderische Tätigkeit

2.1 Neuheit

Es besteht Einvernehmen darüber, dass das im Dokument D9 offenbarte Verfahren als nächstliegender Stand der Technik anzusehen ist. In diesem Dokument wird nämlich ein Verfahren zur zyklischen, interaktiven Bildanalyse offenbart (vgl. S. 171, Zusammenfassung; den die S. 172, 173 überbrückenden Absatz; S. 173, 2. Absatz; S. 177, 2. Absatz). Dabei werden vorprogrammierte translations- und rotationsinvariante Transformationen bereitgestellt. Interessierende flächenhafte Bildbereiche werden vom Benutzer im Bild ausgewählt (vgl. S. 175, Sektion 3 "Qualitative examples") und ausgewählte Transformationen werden am Bild in allen Bildpunkten oder an einer Auswahl von Bildpunkten durchgeführt (vgl. S. 176, 1. und 2. Absatz). Der gesamte Transformationsraum wird dann mit Hilfe von Trennvorschriften in Klassen unterteilt mit dem Ergebnis einer Klassifizierung im Transformationsraum (vgl. S. 176, 3. Absatz). Die Trennvorschriften werden ebenfalls von den Transformationsergebniswerten in den vom Benutzer ausgewählten Bildbereichen abgeleitet (vgl. S. 176, 3. Absatz). Die im Transformationsraum erhaltene Klassifizierung wird den einzelnen Bildpunkten zugeordnet, was wiederum die Darstellung des so klassifizierten Bildes im Bildraum ermöglicht (vgl. Figur 11).

Eine Normierung der Transformationsergebnisse (Schritt (e)) wird im Dokument D9 nicht erwähnt. Da dieser Schritt auch nicht als implizit angesehen wird, stellt er ein erstes Unterscheidungsmerkmal zwischen dem beanspruchten Verfahren und der Lehre von D9 dar.

Dass das beanspruchte Verfahren, wie von der Beschwerdeführerin angeführt, sich von dem in D9 offenbarten Verfahren weiter unterscheidet, indem linienhafte Bildbereiche vom Benutzer ausgewählt werden (Schritt (a)) und entsprechende Transformationen bereitgestellt und ausgewählt werden können (Schritte (b) und (c)), wird von der Kammer nicht bestritten.

Das beanspruchte Verfahren ist somit neu gegenüber der Lehre von D9. Da ein Verfahren mit allen Merkmalen des Anspruchs 1 des Hauptantrages aus den anderen im Verfahren befindlichen Dokumenten auch nicht bekannt ist, ist das beanspruchte Verfahren neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ 1973.

2.2 Erfinderische Tätigkeit

2.2.1 Die Feststellung, wonach die Durchführung einer Normierung der Transformationsergebnisse einer üblichen Maßnahme auf dem Gebiet der Bildverarbeitung entspricht, wurde von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt. Die explizite Erwähnung dieses Schrittes in der Definition der Erfindung reicht dementsprechend nicht, um die erfinderische Tätigkeit des beanspruchten Verfahrens zu begründen. Eine Bestätigung hierfür gibt der erste Satz des Abschnitts "4.3.2 Normierung der Merkmale" in Dokument D5, welcher feststellt: "Vor der Klassifikation wird zumeist eine Normierung durchgeführt". Dabei wird in D5 die Normierung von Daten als vorteilhafte Maßnahme geschildert, wenn es darum geht:

- dass eine gewisse Invarianz des Klassifikationsergebnisses gegenüber globalen Änderungen des Eingangsbildes gewährleistet wird;

- dass alle Merkmale einen vergleichbar großen Beitrag zum Klassifikationsergebnis liefern, und

- die Merkmalsvektoren verschiedener Klassen im Merkmalsraum besser separiert werden (vgl. D5, Absatz 4.3.2, S. 39).

2.2.2 Die Option, linienhafte Bildbereiche auszuwählen und mittels entsprechender Transformationen zu bearbeiten, ermöglicht die Identifizierung von Linien und Kanten in dem zu bewertenden Bild und damit eine wirksame Darstellung derartigen geometrischer Strukturen (vgl. Absätze [0012] und [0022] in der veröffentlichten Anmeldung). Die Aufgabenstellung selbst hat keine erfinderische Bedeutung, da ihr lediglich ein etwaig bestehender Bedarf nach Linienerkennung zugrunde liegt.

Um die Aufgabe zu lösen, würde der Fachmann ausgehend von dem im Dokument D9 offenbarten Verfahren, eben solche Transformationen auswählen, die für ihre Eignung, Linien ermitteln zu können, bekannt sind. In diesem Zusammenhang würde er ohne erfinderisches Zutun z.B. die Radontransformation in Betracht ziehen, da diese als besonders geeignet bekannt ist, um Linien in einem Bild zu erkennen (vgl. Image Processing Toolbox - User's Guide, Version 2.1, von 1998, Seiten 6.19 -6.25, XP2277424 - Dokument D2). Aus diesen Gründen wird in den Verfahrensschritten (a), (b) und (c) des Anspruchs 1 des Hauptantrags keine erfinderische Maßnahme gesehen.

2.2.3 Zwar schließt sich die Beschwerdekammer der Feststellung der Beschwerdeführerin an, wonach das Dokument D9 keinen Hinweis enthält, der auf das Auswählen von linienhaften Bereichen in dem Bild hinweisen würde. Auch wäre es an sich vorstellbar, eine Bildanalyse-Vorrichtung zu entwerfen, bei der das Drücken einer entsprechenden Taste für die Durchführung einer bestimmten Transformation ausreicht, um die gesuchten Strukturen erkennen zu können.

Diese Argumente können jedoch nicht überzeugen, da sie der eigentlichen Lehre von D9 widersprechen, für die die Möglichkeit, Bildbereiche direkt am Bild auszuwählen, eine wesentliche Eigenschaft des offenbarten Bildanalyse-Verfahrens darstellt. Dadurch, dass es in diesem bekannten Verfahren möglich ist, interaktiv weitere Bildbereiche zu definieren, um mögliche Fehlinterpretationen im Transformationsraum zu beeinflussen bzw. zu korrigieren, wird eine hohe Flexibilität in der Auswahl der entscheidenden Parameter geboten. Dieser Spielraum wäre erkennbar verloren, wenn die Transformationen nur per Drücken einer Taste ausgewählt würden. Insbesondere ist dem Fachmann bewusst, dass die Auswahl eines bestimmten linienhaften Bereiches am Bild de facto eine Mehrzahl von Parametern festlegt. Dabei werden z.B. Parameter wie die Orientierung der gesuchten Linien, der Bereich des Bildes, in dem nach solchen Linien oder Kanten gesucht wird, oder auch gewisse Farbnuancen bestimmt.

Da der Fachmann dem Dokument D9 die Vorteile, die eine Auswahl interessierender Bildbereiche im Bild bietet, entnimmt, erschiene ihm jegliche Alternative, die eine solche Flexibilität bei der Auswahl der Parameter nicht gewährleisten würde, als nachteilig. In anderen Worten ausgedrückt, weist die Lehre von D9 eindeutig auf eine Auswahl eines Bildbereiches im Bild hin und führt dementsprechend von einem Verfahren, in dem die Transformationen durch Betätigen von Tasten aktiviert wären, weg.

Aus dieser Analyse folgt, dass der Fachmann ausgehend von dem in D9 offenbarten Verfahren, es um die Verfahrenschritte (a), (b) und (c) ergänzen würde, um die gestellte Aufgabe zu lösen, d.h. um Linien und Kanten im zu bewertenden Bild zu identifizieren und darzustellen.

2.2.4 Der Hauptantrag ist daher nicht gewährbar.

3. Hilfsanträge

Der Anspruch 1 in den Hilfsanträgen 1 und 2 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das Wort "können" im Verfahrenschritt (a) des Anspruchs 1 gestrichen wurde und der Verfahrenschritt (c) entsprechend umformuliert wurde. Da die vorstehende Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unter Punkt 2.2 die Möglichkeit linienhafte Bildbereiche auszuwählen (Schritt (a)) als Bestandteil des beanspruchten Verfahrens und nicht als bloße Option berücksichtigt, bleiben diese Änderungen im Wortlaut des Anspruchs ohne Konsequenzen für das negative Ergebnis.

Da Dokument D2, auf das unter Punkt 2.2 Bezug genommen wird, gerade auf die Auswahl einer Radontransformation zur wirksamen Darstellung von Linien und Kanten hinweist, gilt die negative Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gleichermaßen für den jeweiligen Anspruch 1 der Hilfsanträge 3 und 4.

Aus diesen Gründen sind die Verfahren gemäß dem jeweiligen Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 4 ebenfalls nicht erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ 1973.

Auch die Hilfsanträge 1 bis 4 sind daher nicht gewährbar.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde ist zurückgewiesen

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