T 0869/08 () of 7.7.2011

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2011:T086908.20110707
Datum der Entscheidung: 07 Juli 2011
Aktenzeichen: T 0869/08
Anmeldenummer: 01944974.3
IPC-Klasse: H01H 33/66
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre
Name des Anmelders: Siemens Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: ABB Calor Emag Mittelspannung GmbH
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
Schlagwörter: Neuheit - nein
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 292 960 zurückzuweisen.

II. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung u. a. fest, dass die genannten Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstünden. Insbesondere war die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass das Verfahren gemäß Anspruch 1 des Streitpatents neu gegenüber folgendem Stand der Technik sei:

D8: DE-A-196 03 157.

III In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vom 24. Februar 2011 wies die Kammer insbesondere auf die Relevanz von D8 hin.

IV. Mit Schreiben vom 10. März 2011 teilte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) der Kammer mit, das sie an der am 7. Juli 2011 anberaumten mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen würde. Ferner wurde eine Entscheidung nach Aktenlage beantragt.

V. Am 7. Juli 2011 wurde eine mündliche Verhandlung vor der Kammer unter Anwesenheit der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) abgehalten.

VI. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin hat schriftlich beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

VII. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt:

"Verfahren zum Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre, die für eine Betriebsspannung von wenigstens 12 kV ausgelegt ist und die in einem Gehäuse zwei relativ zueinander bewegbare, über Stromzuführungsbolzen elektrisch nach außen geführte Schaltkontaktstücke aufweist,

dadurch gekennzeichnet, dass

die Kontaktstücke in einer ersten, der Stromlöschung dienenden Phase (S1) der Trennbewegung mit einer ersten Geschwindigkeit auf einen Kontaktabstand (Lh) von etwa 1/4 bis 1/2 eines vorgegebenen Endabstandes gebracht werden und dass die Kontaktstücke in einer zweiten, der Spannungsisolierung dienenden Phase (S2) der Trennbewegung mit einer zweiten Geschwindigkeit auf den vorgegebenen Endabstand (Eh) gebracht werden, wobei die erste Geschwindigkeit größer als die zweite Geschwindigkeit ist."

Ansprüche 2 bis 6 sind von Anspruch 1 abhängig.

VIII. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die in Figur 3 von D8 abgebildete Kurve zeige eine erste Phase mit Geschwindigkeit V1, eine Übergangsphase und eine zweite Phase mit Geschwindigkeit V2. Die Geschwindigkeit V1 sei offensichtlich größer als die Geschwindigkeit V2. Wenn der Fachmann in selbstverständlicher Weise Figur 1 des Streitpatents mit dem physikalisch notwendigen Übergangsbereich ergänze, lande er zwangsläufig bei der Dynamik aus Figur 3 von D8. Mit anderen Worten setze die Ausführbarkeit der Lehre vom Streitpatent voraus, dass der Fachmann die physikalische Notwendigkeit einer Übergangsgeschwindigkeit zwischen den Phasen V1 und V2 mitliest.

Wenn aber beim Streitpatent ein Übergangsbereich vom Fachmann mitgelesen werden müsse, dann könne das verbale Weglassen desselben die Neuheit des beanspruchten Verfahrens gegenüber dem Stand der Technik nicht begründen.

Da das beanspruchte Verfahren nicht neu gegenüber D8 sei, könne das Patent keinen Bestand haben.

IX. Die Beschwerdegegnerin hat ihrerseits folgendes geltend gemacht:

In Figur 3 von D8 sei ein Weg-Zeit-Diagramm dargestellt. Fraglich sei jedoch, welche Informationen ein Fachmann der Figur 3 entnehmen kann. Figuren in Patentschriften seien typischerweise schematische Darstellungen. Sofern keine genaueren Angaben entnehmbar seien, ließen sich auch keine Maße, Werte o. ä. ableiten. Somit sei der Figur 3 lediglich ein schematisierter Bewegungsablauf entnehmbar.

Bei Betrachtung der Figur 3 erkenne der Fachmann, dass es verschiedene Phasen während der Bewegung eines Kontaktstückes gibt. Innerhalb dieser Phasen ergäben sich dann eine erste Geschwindigkeit und eine zweite Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeiten seien (linearisiert) in den beiden Phasen der schematisierten Darstellung der Figur 3 als annähernd gleich dargestellt. Eine darüber hinausgehende quantitative Bewertung sei aufgrund des schematisierten Charakters der Figur 3 nicht entnehmbar.

In der Tat sei eine Auswertung des Anstiegs einzelner isolierter Punkte der Figur 3 nicht geeignet, auf die Geschwindigkeiten während zeitlich andauernder Phasen zu schließen.

Da der Gegenstand von Anspruch 1 des angefochtenen Patents durch den Stand der Technik nicht neuheitsschädlich getroffen sei, sei die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2.1 Anspruch 1 des Streitpatents bezieht sich auf ein "Verfahren zum Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre" und umfasst folgende Merkmale:

a) die Vakuumschaltröhre ist für eine Betriebsspannung von wenigstens 12 kV ausgelegt;

b) die Vakuumschaltröhre weist in einem Gehäuse zwei relativ zueinander bewegbare, über Stromzuführungsbolzen elektrisch nach außen geführte Schaltkontaktstücke auf;

c) die Kontaktstücke werden in einer ersten, der Stromlöschung dienenden Phase (S1) der Trennbewegung mit einer ersten Geschwindigkeit auf einen Kontaktabstand (Lh) von etwa 1/4 bis 1/2 eines vorgegebenen Endabstandes gebracht;

d) die Kontaktstücke werden in einer zweiten, der Spannungsisolierung dienenden Phase (S2) der Trennbewegung mit einer zweiten Geschwindigkeit auf den vorgegebenen Endabstand (Eh) gebracht;

e) wobei die erste Geschwindigkeit größer als die zweite Geschwindigkeit ist.

2.2 Zur Erläuterung des erfindungsgemäßen Verfahrens zeigt Figur 1 des Streitpatents ein Diagramm, in dem der Schalthub über die Zeit dargestellt ist. "Die Öffnung der Schaltstrecke erfolgt in zwei Abschnitten S1, S2, die als Geraden mit unterschiedlicher Steigung dargestellt sind. Die Gerade S1 verdeutlicht, dass der Löschhub Lh nach einer Zeit t1 erreicht wird, die beispielsweise bei einer Trenngeschwindigkeit der Kontaktstücke von 1 m/s und einem Löschhub von 5 mm 5 ms beträgt.-Die Gerade S2 verdeutlicht, dass der Endhub Eh nach einer Zeit t1 plus t2 erreicht wird, die beispielsweise bei einer Trenngeschwindigkeit von 0,2 m/s und einem Endhub von 20 mm ca. 100 ms beträgt" (Streitpatent, Absatz [0010]).

3.1 In D8 (Spalte 1, Zeilen 41 bis 47) wird als bekannt angegeben, bei Hochspannungs-Vakuumschaltern den Öffnungsvorgang in einen Schalthub und in einen Isolierhub zu unterteilen. "Hierdurch können im Aus-Zustand auch hohe Nennstehblitzstoßspannungen für Geräte-Nennspannungen >= 36 kV beherrscht werden. Dabei bedingt die Funktionstrennung von "Schalten" und "Isolieren" unter Berücksichtigung der hohen Geräte-Nennspannungen einen Hub der Schaltkontakte von etwa 50 mm." Der Hochspannungs-Vakuumschalter gemäß D8 weist u. a. eine Vakuumschaltkammer auf, die durch einen den beweglichen Schaltstift koaxial umschließenden Metallfaltenbalg abgedichtet ist, wobei der Metallfaltenbalg "aus mindestens zwei in Reihe miteinander verbundenen Einzelbälgen besteht" (D8, Spalte 2, Zeilen 25 und 26).

Die Einzelbälge des in D8 offenbarten Hochspannungs-Vakuumschalters weisen unterschiedliche Federraten auf und sind in Abhängigkeit von der jeweiligen Federrate nacheinander um eine vorbestimmte Hubhöhe komprimierbar (siehe Spalte 2, Zeilen 36 bis 53).

Während der Löschphase bewegt sich der Schaltstift 10 des in Figur 1 von D8 abgebildeten Vakuumschalters "bei einer Geschwindigkeit von etwa 1,2m/s um ca. 10 bis 18 mm in Pfeilrichtung, wobei nur der Einzelbalg 11 infolge seiner geringeren Federrate gegenüber dem nachfolgenden Einzelbalg 13 komprimiert wird, bis die Umhüllung 15 an dem horizontalen Abschnitt der Umhüllung 15' anschlägt und damit das Komprimieren des Einzelbalges 12 beendet. Dieser Anschlag, ... , führt zu einer begrenzten Verzögerung der Bewegung im Bereich von 15 bis 20 mm. ... . Im weiteren Verlauf des Ausschaltvorganges wird der zweite Einzelbalg 13 komprimiert, ... . Da der folgende Einzelbalg 14 gegenüber dem Einzelbalg 13 eine höhere Federrate besitzt, erfolgt auch hier eine Verzögerung der Bewegung" (D8, Spalte 5, Zeile 53 bis Spalte 6, Zeile 3, Unterstreichung hinzugefügt).

Aus dem Hub-Zeit-Diagramm nach Figur 3 von D8 ist die Verzögerung des Löschhubes Hlö während der Löschzeit tlö und die Verzögerung des Isolierhubes His während der Isolierzeit tis ersichtlich, wobei bei der Kurve K1 die Dämpfung im Bereich von Hlö durch den Einsatz eines Einzelbalges 12 und im Bereich von His - lö durch zwei Einzelbälge 13 und 14 erreicht wird. Die Kurve K2 hingegen zeigt den zeitlichen Ablauf der Hubbewegung bei einem Vakuumschalter mit insgesamt zwei Einzelbälgen (D8, Spalte 7, Zeilen 27 bis 33).

3.2 D8 offenbart somit ein Verfahren zum Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre, welche die in Anspruch 1 des Streitpatents aufgeführten Merkmale a) und b) aufweist (siehe Punkt 2.1). Typischerweise haben die Kontaktstücke einer Vakuumschaltröhre für eine Betriebsspannung >= 36 kV einen Hub von 50 mm (siehe Spalte 1, Zeilen 44 bis 47 und Spalte 5, Zeilen 53 bis 61), wobei die Kontaktstücke in einer ersten Phase der Trennbewegung auf einen Abstand von 10 bis 18 mm des vorgegebenen Endabstandes (d.h. 50 mm) gebracht werden (Merkmal c)). In einer weiteren, der Spannungsisolierung dienenden Phase der Trennbewegung werden die Kontaktstücke auf den vorgegebenen Endabstand gebracht (Merkmal d)).

4.1 Nach Auffassung der Einspruchsabteilung offenbart D8 kein Verfahren, das eine zweite Phase mit geringerer Geschwindigkeit umfasst, mit der die Kontaktstücke auf den vorgegebenen Endabstand gebracht werden. Vielmehr zeige die Kurve K2 der Figur 3 von D8, linearisiert betrachtet, eine zweite Phase mit Geschwindigkeit gleich Null, die in eine Endphase übergeht. Die Endphase, linearisiert betrachtet, weise jedoch die gleiche Geschwindigkeit der ersten Phase oder zumindest nicht eine kleinere Geschwindigkeit als die erste Phase auf (Merkmal c)).

4.2 Ferner hat die Beschwerdegegnerin geltend gemacht, dass der Fachmann der Figur 3 von D8 lediglich entnehmen könne, dass es verschiedene Phasen während der Bewegung eines Kontaktstückes gibt. Die Geschwindigkeit sei (linearisiert) in den beiden mit tlö und tis gekennzeichneten Phasen der schematischen Darstellung der Figur 3 als annähernd gleich dargestellt.

5.1 Figur 1 des Streitpatents, die dem erfindungsgemäßen Verfahren entspricht, und Figur 3 von D8 zeigen Diagramme, die den Schalthub über die Zeit schematisch darstellen. Wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt, lassen sich aus schematisierten Diagrammen keine Maße bzw. Werte ableiten. Relevant sind jedoch die Lehren, die für den Fachmann aus diesen Diagrammen und den jeweiligen Ausführungsbeispielen hervorgehen.

5.2 Es liegt auf der Hand, dass bei einem Verfahren zum Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre, die Geschwindigkeit der Kontaktstücke nicht abrupt geändert werden kann. Somit impliziert Figur 1 für den Fachmann eine Übergangsphase zwischen der Löschphase und der Isolierphase, die einen fließenden Übergang zwischen der ersten und der zweiten Geschwindigkeit gewährleistet.

Diese Auslegung der Figur 1 wird auch durch die im Streitpatent angegebenen Ausführungsbeispiele gestützt. In Absatz [0008] des angefochtenen Patents wird angegeben, dass die beiden Geschwindigkeiten beim Öffnen der Schaltstrecke auf unterschiedliche Weise erreicht werden können. "Beispielsweise können in bisher übliche Antriebsmechanismen Dämpfungsglieder eingefügt werden", die in der Isolierphase der Trennbewegung zum Einsatz kommen und die Trenngeschwindigkeit entsprechend vermindern. Der Antrieb kann aber auch mittels entsprechender Kurvenscheiben so gestaltet werden, "dass der bewegbare Schaltkontakt mittels einer Kurvenscheibe zwangsgesteuert wird".

Es ist implizit, dass die im Streitpatent genannten Antriebsmechanismen lediglich eine relative Bewegung der Kontaktstücke mit stetiger Geschwindigkeit zulassen, und dass beim Öffnen der Schaltstrecke einer Vakuumschaltröhre, die das beanspruchte Verfahren implementiert, ein Bewegungsablauf mit einer Übergangsphase zwischen der Löschphase und der Isolierphase resultiert (vgl. Figur 3 von D8).

5.3 Was die Geschwindigkeiten der Löschphase und der Isolierphase anbelangt, wird in D8 ausführlich erklärt (siehe Spalte 5, Zeile 44 bis Spalte 6, Zeile 15), dass sie maßgeblich durch die Federkonstante des jeweils komprimierten Einzelbalges bestimmt werden. Da die Federkonstante des zweiten Einzelbalges größer als die Federkonstante des ersten Einzelbalges ist, wird die Bewegung der Kontaktstücke durch die Kompression des zweiten Einzelbalges weiter verzögert, so dass die Geschwindigkeit während der Löschphase tatsächlich größer als die Geschwindigkeit während der Isolierphase sein muss (siehe Punkt 2.1, Merkmal e)).

5.4 Zusammenfassend stimmt die Kammer mit der Beschwerdeführerin überein, dass zwischen dem Gegenstand von Anspruch 1 und dem aus D8 bekannten Verfahren kein patentbegründender Unterschied zu sehen ist.

6.1 Aus den vorstehenden Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents nicht neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ ist.

6.2 Dem Antrag der Beschwerdeführerin, das Patent zu widerrufen, war somit stattzugeben.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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