T 1756/07 () of 14.12.2010

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2010:T175607.20101214
Datum der Entscheidung: 14 Dezember 2010
Aktenzeichen: T 1756/07
Anmeldenummer: 00916874.1
IPC-Klasse: C08J 3/24
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Pulverförmige, vernetzte, absorbierende Polymere, Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung
Name des Anmelders: Evonik Stockhausen GmbH
Name des Einsprechenden: Nippon Shokubai Company Limited
BASF SE
Kammer: 3.3.09
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 123(3)
Schlagwörter: Erweiterung des Schutzbereichs (nein)
Ausreichende Offenbarung (ja)
Zurückverweisung an die Erstinstanz
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0869/10

Sachverhalt und Anträge

I. Die Erteilung des Patents EP-B 1 169 372 auf die europäische Patentanmeldung 00 916 874.1, die am 26. Februar 2000 als internationale Anmeldung PCT/EP00/01609 im Namen der Firma Stockhausen GmbH, jetzt Evonik Stockhausen GmbH, angemeldet worden war, wurde am 2. Mai 2003 im Patentblatt 2003/18 bekanntgemacht.

Das Patent wurde mit 22 Ansprüchen erteilt. Ansprüche 1 und 7 lauteten wie folgt:

"1. Pulverförmiges, an der Oberfläche nachvernetztes, Wasser, wäßrige oder seröse Flüssigkeiten sowie Blut absorbierendes Polymerisat, aufgebaut aus

a) 55-99,9 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, säuregruppenenthaltenden Monomeren, die mindestens 25 Mol% neutralisiert sind,

b) 0-40 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, mit a) copolymerisierbaren Monomeren,

c) 0,1-5,0 Gew% eines oder mehrerer polymerisierter Vernetzer,

d) 0-30 Gew% eines wasserlöslichen Polymeren

wobei die Summe der Gewichtsmengen a) bis d) 100 Gew.% beträgt, dadurch gekennzeichnet, daß das Polymerisat mit

e) 0,01 bis 5 Gew.%, bezogen auf das Polymerisat, eines organischen Oberflächennachvernetzungsmittels, mit Ausnahme von Polyolen, in Form einer wässrigen Lösung und mit

f) 0,001 - 1,0 Gew%, bezogen auf das Polymerisat, eines Kations in Form einer wäßrigen Lösung beschichtet und nachvernetzt worden ist."

"7. Polymerisat nach den Ansprüchen 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, dass als Komponente e) Alkylencarbonate eingesetzt worden sind."

Die Ansprüche 2-6 und 8-15 waren abhängige Ansprüche.

Anspruch 16 und die davon abhängigen Ansprüche 17 bis 20 waren auf ein Verfahren zur Herstellung von absorbierenden Polymerisaten nach den Ansprüchen 1 bis 15 und die Ansprüche 21 und 22 auf Verwendungen der Polymerisate nach den Ansprüchen 1 bis 15 gerichtet.

II. Gegen das Patent legten die Firmen Nippon Shokubai Co. Ltd. (Einsprechende I) am 28. Januar 2004 und BASF Aktiengesellschaft, jetzt BASF SE, (Einsprechende II) am 29. Januar 2004 Einspruch ein und beantragten den vollständigen Widerruf des Patents. Die Einsprüche waren auf die Einspruchs gründe gemäß Artikel 100 a) EPÜ, dass der beanspruchte Gegenstand nicht neu und nicht erfinderisch sei, gestützt.

Unter anderem wurden folgende Dokumente genannt:

D3 JP-A 06 107 846 (englische Übersetzung in Teilen);

D8 WO-A 00/22018; und

D10 US-A 5 684 106.

Mit Schreiben vom 13. Dezember 2005 - nach Ablauf der Einspruchsfrist - wurde von der Einsprechenden I noch der Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung unter Artikel 100 b) EPÜ genannt.

Wie sich aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2007 (Punkte 4.1 und 4.2) ergibt, wurde der Einspruchsgrund - entgegen der Zustimmung der Patentinhaberin - zum Einspruchsverfahren zugelassen.

III. Mit der in der mündlichen Verhandlung am 4. Juli 2007 verkündeten und am 2. August 2007 schriftlich begründe ten Entscheidung widerrief die Einspruchsabteilung das Patent.

Die Entscheidung basierte auf den Anspruchssätzen gemäß Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1, 1a, 3 und 7 (die Hilfsanträge 2, 4 bis 6 und 8 waren in der mündlichen Verhandlung zurückgezogen worden).

Der Widerruf wurde damit begründet, dass die Änderungen der Ansprüche 1 gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag 7 nicht im Einklang mit Artikel 123(2) EPÜ seien, der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1a nicht klar sei und die Gegenstände der Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen 1 und 3 gegenüber den Offenbarungen in D3, D8 und D10 nicht neu seien.

IV. Am 2. Oktober 2007 legte die Patentinhaberin (nachfol gend: Beschwerdeführerin) unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein. Die Beschwerdebegründung wurde am 12. Dezember 2007 eingereicht. Als Hauptantrag beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung und die Zurückweisung der Einsprüche. Ferner waren der Beschwerdebegründung neue Anspruchssätze als Basis für Hilfsanträge 1 bis 17 beigefügt.

Diese Anträge wurden mit Schreiben vom 10. Februar 2009 durch neue Anträge ersetzt, an deren Stelle wiederum ein neuer Hauptantrag und Hilfsanträge 1 bis 9 traten, die mit Schreiben vom 12. November 2010 eingereicht wurden.

Die Beschwerdeführerin reichte ferner Versuche in Form der eidesstattlichen Versicherungen D19, D21 (beide mit Schreiben vom 10. Februar 2009) und D24 (mit Schreiben vom 12. November 2010) ein.

V. Bezüglich der am 10. Februar 2009 eingereichten Anträge der Beschwerdeführerin brachten die Einsprechenden I und II (nachfolgend: Beschwerdegegnerinnen I/II) Einwände hinsichtlich mangelnder Neuheit, mangelnder erfinderischer Tätigkeit und unzureichender Offenbarung vor. Hierzu legte die Beschwerdegegnerin II mit Schreiben vom 1. Juli 2009 einen Versuchsbericht D22 vor. Die Beschwerdegegnerin I reichte mit Schreiben vom 13. Januar 2010 das Dokument

D23 EP-A 0 744 435

ein. Zudem wurde von der Beschwerdegegnerin II im Hinblick auf die Entscheidung T 2017/07 vorgetragen, dass durch die in den Ansprüchen 1 der Anträge vorgenommenen Einschränkungen (gemeint waren die nicht mehr geltenden Anträge vom 10. Februar 2009 - Anmerkung der Kammer) der Schutzbereich des Patents - entgegen den Erfordernissen des Artikels 123(3) EPÜ - erweitert würde (Beschwerdegegnerin II, Schreiben vom 29. Oktober 2010).

Schriftliche Stellungnahmen zu den geltenden, mit Schreiben vom 12. November 2010 eingereichten Anträgen der Beschwerdeführerin wurden nicht mehr eingereicht.

VI. Am 14. Dezember 2010 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, in der sich die Diskussion im Hinblick auf den Antrag der Beschwerdegegnerin I, den am 12. November 2000 von der Beschwerdeführerin eingereichten Versuchsbericht D24 als verspätet nicht zum Verfahren zuzulassen, und die von beiden Parteien im Laufe der Verhandlung einvernehmlich gestellten Anträge, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, lediglich auf die Gegenstände der Ansprüche 1 und 14 des Hauptantrags bezüglich der Einwände der unzureichenden Offenbarung der Erfindung (Artikel 83 EPÜ) und der Erweiterung des Schutzbereichs des Patents (Artikel 123(3) EPÜ) konzentrierte.

Die Ansprüche 1 und 14 gemäß Hauptantrag lauten wie folgt:

"1. Pulverförmiges, an der Oberfläche nachvernetztes, Wasser, wäßrige oder seröse Flüssigkeiten sowie Blut absorbierendes Polymerisat, aufgebaut aus

a) 55-99,9 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, säuregruppenenthaltenden Monomeren, die mindestens 25 Mol% neutralisiert sind,

b) 0-40 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, mit a) copolymerisierbaren Monomeren,

c) 0,1-5,0 Gew% eines oder mehrerer polymerisierter Vernetzer,

d) 0-30 Gew% eines wasserlöslichen Polymeren

wobei die Summe der Gewichtsmengen a) bis d) 100 Gew.% beträgt, dadurch gekennzeichnet, daß das Polymerisat mit

e) 0,01 bis 5 Gew.%, bezogen auf das Polymerisat, eines organischen Oberflächennachvernetzungsmittels, mit Ausnahme von Polyolen, in Form einer wässrigen Lösung und mit

f) 0,001 - 1,0 Gew%, bezogen auf das Polymerisat, eines Kations in Form einer wäßrigen Lösung beschichtet und nachvernetzt worden ist,

wobei als Komponente e) Alkylencarbonate eingesetzt worden sind."

"14. Verfahren zur Herstellung von absorbierenden Polymerisaten nach den Ansprüchen 1 bis 13, dadurch gekennzeichnet, daß man eine Mischung aus

a) 55-99,9 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, säuregruppentragenden Monomeren, die mindestens 25 Mol% neutralisiert sind,

b) 0-40 Gew% polymerisierten, ethylenisch ungesättigten, mit a) copolymerisierbaren Monomeren,

c) 0,1-5,0 Gew% eines oder mehrerer Vernetzer verbindungen,

d) 0-30 Gew% eines wasserlöslichen Polymeren

wobei die Summe der Gewichtsmengen a) bis d) 100 Gew.% beträgt, radikalisch polymerisiert, ggf. zerkleinert, trocknet, pulverisiert, siebt und daß man das Polymerisatpulver mit

e) 0,01 bis 5 Gew.%, bezogen auf das Polymerisat, eines organischen Nachvernetzungsmittels, mit Ausnahme von Polyolen, in Form einer wässrigen Lösung und mit

f) 0,001 - 1,0 Gew%, bezogen auf das Polymerisat, eines Kations in Form einer wäßrigen Lösung behandelt,

wobei unter intensiven Mischen der gemeinsam oder getrennt vorliegenden, wässrigen Lösungen der Komponenten e) und f) mit dem Polymerisatpulver eine Nachvernetzung des Polymerisatpulvers erfolgt und wobei als Komponente e) Alkylencarbonate eingesetzt werden."

VII. Die Beschwerdegegnerinnen trugen folgende Argumente vor

a) Artikel 123(3) EPÜ

Durch die Einschränkung der Komponente e) auf Alkylencarbonate erfolge eine Erweiterung des Schutzbereichs des erteilten Patents, da nunmehr zusätzlich zu dem innerhalb des beanspruchten Bereichs von 0,01 bis 5 Gew.-% zuzusetzenden Alkylencarbonat weitere nicht spezifizierte Oberflächenvernetzer zugegeben werden könnten. So sei es beispielsweise möglich, 4 Gew.-% Alkylencarbonat und weitere 4 Gew.-% eines Ethylenglycol-Diglycidylethers als Oberflächenvernetzer zuzusetzen. Damit wäre aber der obere Grenzwert von 5 Gew.-% überschritten. Diese Situation sei analog zu der der Entscheidung T 2017/07 zugrunde liegenden Situation zu bewerten.

b) Artikel 83 EPÜ

Die Erfindung sei in den Ansprüchen 1 und 14 unzureichend definiert, so dass sie der Fachmann nicht im gesamten beanspruchten Bereich ausführen könne. Auf folgende Mängel sei diesbezüglich hinzuweisen:

i) im Verfahrensanspruch 14 werde "intensives Mischen" der Komponenten e) und f) mit dem Polymerisat verlangt; konkrete Angaben über die Intensität des Mischvorgangs würden nicht gemacht;

ii) ausweislich der Beschreibung und der Beispiele finde die Oberflächennachvernetzung mit Alkylencarbonat unter Erhitzen statt; die Erhitzungstemperatur fehle jedoch in den Ansprüchen 1 und 14;

iii) ebenso fehlten Angaben über die Konzentration der Nachvernetzerlösung;

iv) aus den Abschnitten [0018] und [0037] der Patentschrift werde deutlich, dass organischer Nachvernetzer und Kation gleichzeitig zudosiert werden müssten um die gewünschte Produktcharakteristik zu erzielen. Dies werde durch das Vergleichsbeispiel 14 untermauert, wonach eine primäre Vernetzung mit organischem Nachvernetzer und eine nachträgliche Vernetzung mit dem Kation zu schlechteren Produkteigenschaften führten. Entsprechende Angaben über eine gleichzeitige Nachvernetzung mit e) und f) fehlten jedoch in den Ansprüchen 1 und 14.

VIII. Die Beschwerdeführerin brachte folgende Gegenargumente vor:

a) Artikel 123(3) EPÜ

Anspruch 1 des Hauptantrags sei eine Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 7. Allein deshalb schon könne Anspruch 1 des Hauptantrags den Schutzbereich des Patents nicht erweitern.

b) Artikel 83 EPÜ

Die Patentschrift enthalte eine große Zahl von Informationen, die es dem Fachmann ermöglichten, die Erfindung im beanspruchten Bereich auszuführen, ohne einen unzumutbaren Aufwand betreiben zu müssen. So enthalte die Patentschrift:

i) detaillierte Angaben, wie die Komponenten e) und f) mit dem Polymerisat vermischt werden müssen (Abschnitt [0038]);

ii) Angaben über die Erhitzungstemperatur während des Nachvernetzens in den Abschnitten [0017] und [0039];

iii) Konzentrationsangaben über die Nachver netzerlösung im Abschnitt [0035];

iv) Angaben über das gleichzeitige Zudosieren von e) und f) in den Abschnitten [0037] bis [0039].

Ferner werde die Erfindung durch zahlreiche Beispiele illustriert.

IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags oder eines der Hilfsanträge 1 bis 9, eingereicht mit Schreiben vom 12. November 2010. Hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung.

X. Die Beschwerdegegnerin/Einsprechende I beantragte die Zurückweisung der Beschwerde. Hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabtei lung zur Fortsetzung des Verfahrens.

Die Beschwerdegegnerin/Einsprechende II beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Zulassung der Anträge in das Verfahren

Die Änderungen in den Ansprüchen gemäß Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1-9 betreffen im Wesentlichen Merkmale, die bereits in den erteilten Ansprüchen enthalten waren. In den Anspruchssätzen gemäß den Hilfsanträgen 5-9 wurden zudem die Verfahrensansprüche gestrichen.

Diese Änderungen bringen keine neuen Sachverhalte ein, die für die Beschwerdegegnerinnen überraschend waren und deren Diskussion den Parteien in der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten war. Auch wird durch die Änderungen die Komplexität des Diskussionsgegenstands nicht erhöht. Die Kammer lässt daher die Anträge im Hinblick auf Artikel 13 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern zum Verfahren zu.

Hauptantrag

3. Änderungen - Artikel 123(2) EPÜ

Die Ansprüche des Hauptantrags entsprechen im Wesentlichen den erteilten Ansprüchen, wobei jedoch im Stoffanspruch 1 und im Verfahrensanspruch 14 die Komponente e) auf Alkylencarbonat eingeschränkt wurde. Damit erhält der kennzeichnende Teil des Anspruchs 1 folgenden Wortlaut:

... dadurch gekennzeichnet, daß das Polymerisat mit

e) 0,01 bis 5 Gew.%, bezogen auf das Polymerisat, eines organischen Oberflächenvernetzungsmittels, mit Ausnahme von Polyolen, in Form einer wässrigen Lösung und mit

f) 0,001 - 1,0 Gew%, bezogen auf das Polymerisat, eines Kations in Form einer wäßrigen Lösung beschichtet und nachvernetzt worden ist,

wobei als Komponente e) Alkylencarbonate eingesetzt worden sind."

Die unterstrichene Passage bezeichnet die Änderung gegenüber dem erteilten Anspruch 1. Sie war bereits Gegenstand der ursprünglichen Anmeldung (siehe dort den abhängigen Anspruch 7) bzw. des erteilten Patents (siehe Anspruch 7, Punkt I oben). Damit ist Anspruch 1 des Hauptantrags eine Kombination des erteilten Anspruchs 1 mit dem darauf rückbezogenen Anspruch 7, der wiederum auf dem ursprünglichen Anspruch 7 basiert. Diese Kombination verstößt daher nicht gegen Artikel 123(2) EPÜ. Von den Beschwerdegegnerinnen wurden diesbezüglich auch keine Einwände erhoben.

Analoges gilt für den Verfahrensanspruch 14.

4. Erweiterung des Schutzbereichs - Artikel 123(3) EPÜ

4.1 Die Beschwerdegegnerinnen haben jedoch geltend gemacht, dass die Aufnahme des Unteranspruchs 7 in den Anspruch 1 gegen Artikel 123(3) EPÜ verstoße. Durch die Einschränkung der Komponente e) auf Alkylencarbonate erfolge eine Erweiterung des Schutzbereichs des erteilten Patents, da nunmehr zusätzlich zu dem innerhalb des beanspruchten Bereichs von 0,01 bis 5 Gew.-% zuzusetzenden Alkylencarbonat weitere nicht spezifizierte Oberflächenvernetzer zugegeben werden könnten. So sei es beispielsweise möglich, 4 Gew.-% Alkylencarbonat und weitere 4 Gew.-% eines Ethylenglycol-Diglycidylethers als Oberflächenvernetzer zuzusetzen. Dies wäre bei dem erteilten Anspruch 1 nicht möglich gewesen.

4.2 Selbst wenn man dem Argument der Beschwerdegegnerinnen dahingehend folgt, dass Anspruch 1 des Hauptantrags breiter auszulegen ist als der erteilte Anspruch 1, dann führt dies im vorliegenden Fall nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs des Patents. Die Beschwerdegegnerinnen berücksichtigen in ihrer Argumentation nämlich nicht, dass es sich bei Anspruch 1, wie oben gezeigt, lediglich um die Umformulierung des abhängigen erteilten Anspruchs 7 zum neuen unabhängigen Anspruch 1 des Hauptantrags handelt. Alle Annahmen der Beschwerdegegnerinnen hinsichtlich des Anspruchs 1 des Hauptantrags müssen logischerweise auch schon für den erteilten Anspruch 7 gegolten haben. In diesem Fall würde es sich bei dem erteilte Anspruch 7 des Patents nicht um einen "abhängigen" Anspruch im Sinne der Regel 43 (4) EPÜ, Satz 1, handeln, sondern de facto um einen (weiteren) unabhängigen Stoffanspruch, der einen breiteren Schutzbereich hat als der erteilte Anspruch 1.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die Weiterverfolgung des Patents auf der Grundlage des erteilten Anspruchs 7 als neuem unabhängigem Stoffanspruch keine Erweiterung des Schutzbereichs des Patents darstellen kann.

Damit ist aber auch die von der Beschwerdegegnerin II zitierte Entscheidung T 2017/07 für den vorliegenden Fall nicht relevant. Dort basierte die Änderung nämlich nicht auf einem erteilten Anspruch.

4.3 Zu keiner anderen Schlussfolgerung bezüglich Artikel 123(3) EPÜ gelangt man, wenn man davon ausgehen würde, dass es sich bei dem erteilten Anspruch 7 um einen "echten" abhängigen Anspruch handelt, der den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 weiter einschränkt. Der Fachmann würde diese Einschränkung dann logischerweise auch auf den Gegenstand des Anspruch 1 des Hauptantrags übertragen, der ja mit dem Gegenstand des Anspruchs 7 identisch ist.

4.4 Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Einwände der Beschwerdegegnerinnen bezüglich des Artikels 123(3) nicht greifen.

5. Ausreichende Offenbarung - Artikel 83/100 (b) EPÜ

5.1 Mit Schreiben vom 13. Dezember 2005 - nach Ablauf der Einspruchsfrist - hat die Einsprechende I (jetzt Beschwerdegegnerin I) den Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) geltend gemacht und das verspätete Vorbringen auf die Entscheidung G 10/91 gestützt und mit dessen hoher Relevanz begründet. Der sachliche Einwand der mangelnden Ausführbarkeit bezog sich darauf, dass ein Fachmann die Zahlenwerte für die Flüssigkeitsaufnahme unter Druck (AAP), Permeabilität (SFC) und Retention (TB) in den damals vorliegenden Ansprüchen 1 und 2 nicht zweifelsfrei feststellen könne.

Mit Bescheid vom 15. Januar 2007 teilte die Einspruchs abteilung den Parteien unter anderem mit, dass in der für den 4. Juli 2007 anberaumten mündlichen Verhandlung unter anderem die ausreichende Offenbarung der Erfindung im Rahmen von Artikel 83 EPÜ zu diskutieren sei. Aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung geht hervor, dass der Einspruchsgrund - entgegen der Zustimmung der Patentinhaberin - zum Verfahren zugelassen wurde und die Frage der mangelnden Offenbarung in der Verhandlung auch diskutiert wurde (Punkte 4.1 und 4.2 des Protokolls). Obwohl der Einwand der unzureichenden Offenbarung in der angefochtenen Entscheidung nicht abgehandelt wird, zeigt die obige Analyse, dass die Einspruchsabteilung diesem Einspruchsgrund eine hohe Relevanz bezüglich der Aufrechterhaltung des Patents zugemessen und im Sinne der Entscheidung G 9/91 (Entscheidungsgründe 16.) in das Verfahren eingeführt hat.

Da sich der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ damit im Verfahren befindet, konnte ihn die Beschwerdegegnerin I wieder aufgreifen, um das vor der Einspruchsabteilung erreichte Ergebnis, d. h. den Widerruf des Patents, zu verteidigen.

5.2 Bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung gilt der Grundsatz, dass die Erfindung anhand der Angaben in den ursprünglichen Unterlagen unter Hinzuziehung des allgemeinen Wissensstands des Fachmanns ausführbar sein muss. In einer Reihe von Entscheidungen wurde festge stellt, dass die Frage, ob eine Erfindung ausreichend im Sinne von Artikel 83 EPÜ offenbart ist, nicht nur vom Inhalt der Ansprüche her, sondern anhand des Gesamtinhalts der Patentanmeldung unter Berücksichtigung der Beschreibung und gegebenenfalls der Zeichnungen zu beantworten ist (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 6. Auflage 2010, II.A. 1. und 3.).

5.3 Gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags besteht die Erfindung in einem pulverförmigen, an der Oberfläche nachvernetzten, Wasser, wässrige oder seröse Flüssigkeiten sowie Blut absorbierenden Polymerisat, aufgebaut aus den Komponenten a) bis d), das mit Lösungen der Vernetzerkomponenten e) und f) in bestimmter Menge beschichtet und an der Oberfläche nachvernetzt worden ist. Die vollzogene Nachvernetzung nach Beschichtung mit den Lösungen e) und f) ist somit eines der wesentlichen Merkmale des beanspruchten Polymerisats. Gemäß der Beschreibung soll das Polymerisat Superabsorber-Eigenschaften mit sehr guter Permeabilität, hohem Retentionsvermögen und guter Flüssigkeitsaufnahme unter Druck aufweisen (Absätze [0017/18] der Patentschrift).

Der Fachmann kann bei der Bereitstellung des gewünschten Polymerisats unter anderem auf das Verfahren gemäß Anspruch 14 zurückgreifen, welches die Schritte der Polymerisation der Komponenten a) bis d) sowie die Behandlung der Oberfläche des Polymerisats mit den Lösungen der Komponenten e) und f) und die Nachver netzung skizziert.

Es ist zwar zutreffend, dass in den Ansprüchen 1 und 14 Angaben über die Art des Mischens der Komponenten e) und f), Konzentrationsangaben sowie die Nachvernetzungs temperatur (siehe VII b), Punkte i) bis iv) der Argumentation der Beschwerdegegnerinnen) nicht vollständig sind, bzw. fehlen, jedoch würde der Fachmann ohne weiteres die Beschreibung und die Beispiele konsultieren, um die in den Ansprüchen fehlenden Angaben zu ergänzen.

So erfährt der Fachmann aus dem Absatz [0039] der Patentschrift, dass die Nachvernetzungsreaktion bei Temperaturen von 40 bis 300ºC, bevorzugt 80 bis 250ºC, besonders bevorzugt 160 bis 210ºC erfolgt. Da eine unter Verwendung von Alkylencarbonat nachvernetzte Oberfläche eine wesentliche Eigenschaft des beanspruchten Polymerisats ist, würde der Fachmann selbstverständlich innerhalb der angegebenen Temperaturbereiche denjenigen Bereich auswählen, der für Alkylencarbont optimal ist, zumindest aber zur Nachvernetzung führt, und der ausweislich der Beispiele zwischen 160 und 210ºC liegt.

Das Merkmal des "intensiven Mischens" der Nachvernetzer lösung mit dem Polymerisat wird im Absatz [0038] erläutert, wobei geeignete Mischaggregate genannt werden. Aus den Absätzen [0034] und [0037] geht eindeutig hervor, dass die Nachvernetzung mit den Komponenten e) und f) gleichzeitig erfolgt. Im Absatz [0034] finden sich zudem Angaben über die Konzentration der Nachvernetzerlösung. Zahlreiche Beispiele illustrieren und ergänzen die Angaben im allgemeinen Teil der Beschreibung.

Die Kammer hat daher keinen Zweifel, dass der Fachmann - ohne unzumutbaren Aufwand und ohne erfinderisch tätig werden zu müssen - die beanspruchten Polymerisatpulver mit optimalen Eigenschaften hinsichtlich Retention (TB), Flüssigkeitsaufnahme unter Druck (AAP) und Permeabilität (SFC) erhalten kann.

Die beanspruchte Erfindung ist daher im Sinne von Artikel 83 EPÜ ausführbar.

6. Zurückverweisung der Sache an die Erstinstanz

Mit Schreiben vom 12. November 2010 hat die Beschwerdegegnerin I die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung beantragt, falls die Kammer die mit Schreiben vom 10. Februar 2009 von der Beschwerde führerin eingereichten geänderten Ansprüche ins Verfahren zulassen würde (Seite 2, Absatz 4 des Schreibens). Dieser Antrag wurde in der mündlichen Verhandlung im Lichte der mittlerweile geltenden neuen Anträge der Beschwerdeführerin sowie des Vergleichs versuchs D24, beides eingereicht mit Schreiben vom 12. November 2010, wiederholt.

Die Kammer bewertet die Relevanz des sehr kurzfristig eingereichten Vergleichsversuchs D24 für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit als hoch und stellt weiterhin fest, dass auch seitens der Beschwerdegegnerin I mit Schreiben vom 13. Januar 2010 das Dokument D23 relativ spät eingereicht wurde, dessen Relevanz für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des geltenden Hauptantrags ebenfalls als hoch einzuschätzen ist.

Durch die obigen Handlungen der beiden gegnerischen Parteien ist daher eine Situation entstanden, die in der mündlichen Verhandlung eine faire Diskussion der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit im Lichte der neuen relevanten Beweismittel nicht zulassen würde.

Um den Parteien im Hinblick auf die neu entstandene Situation die Möglichkeit zu geben, die Frage der Neuheit und der in der Entscheidung der Einspruchsabtei lung nicht abgehandelten erfinderischen Tätigkeit ohne Instanzverlust zu diskutieren, macht die Kammer daher von ihrem Ermessensspielraum gemäß Artikel 111(1) EPÜ Gebrauch und verweist die Sache an die Einspruchsabtei lung zurück. Dies umso mehr, als sich auch die Beschwer deführerin in der mündlichen Verhandlung dem Antrag der Beschwerdegegnerin I auf Zurückverweisung angeschlossen hat.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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