T 1634/07 () of 24.6.2010

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2010:T163407.20100624
Datum der Entscheidung: 24 Juni 2010
Aktenzeichen: T 1634/07
Anmeldenummer: 03016670.6
IPC-Klasse: B60K 31/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Vorrichtung zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeugs
Name des Anmelders: KNORR-BREMSE Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH
Name des Einsprechenden: Daimler AG
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 123(3)
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit, Hauptantrag (nein)
Hilfsantrag - Zulässigkeit (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Der gegen das europäische Patent Nr. 1 386 774 eingelegte Einspruch führte zum Widerruf des Patents durch die am 27. Juli 2007 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung.

Die Einspruchsabteilung befand, dass unter Berücksichtigung der folgenden Unterlagen

E3: EG-Typengenehmigungsbogen des Kraftfahrt-Bundesamtes, 22. Januar 2001, insgesamt 23 Blätter

der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht neu ist.

Folgende Dokumente sind im Einspruchsverfahren als weiterer Stand der Technik zitiert worden

D1: DE- A-199 10 590

D6': WO-A-99/46139.

II. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 26. September 2007 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 5. November 2007 eingereicht.

III. Am 24. Juni 2010 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung in geänderter Form gemäß Hilfsantrag, eingereicht mit Schreiben vom 31. März 2008.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Zu Beginn der mündlichen Verhandlung stellte die Beschwerdeführerin erstmals in diesem Verfahren in Frage, ob der zu den Unterlagen E3 gehörige Prüfbericht am Datum der Genehmigung des Kraftfahrt-Bundesamtes (22. Januar 2001) der Öffentlichkeit zugänglich war. Da die Kammer diese Frage nicht ohne weitere Ermittlungen prüfen konnte, hielt sie es für sinnvoller, die Frage der erfinderischen Tätigkeit zunächst zu erörtern, zumal die Beschwerdegegnerin in ihre Beschwerdeerwiderung die Frage der Neuheit gegenüber den Unterlagen E3 nicht behandelt hatte und ihre Argumentation auf die mangelnde erfinderische Tätigkeit der patentgemäßen Vorrichtung im Hinblick auf eine Zusammenschau der Druckschriften D1 und D6' konzentriert hatte. Dieser Vorgehensweise stimmten alle Beteiligten zu.

IV. Der erteilte Anspruch 1 (Hauptantrag) hat folgenden Wortlaut:

"Vorrichtung (1) zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeugs, beinhaltend folgendes:

a) eine Einrichtung zur adaptiven Abstands- und/ oder Fahrgeschwindigkeitsregelung (ACC), welche von einem Gefahrenmaß wie beispielsweise von einer Relativgeschwindigkeit und/oder von einem Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug abhängiges Dringlichkeitssignal (d) aussteuert,

b) ein elektronisch geregeltes Bremssystem, welches zur Verteilung einer angeforderten Bremskraft auf eine Reibungsbremse (2) und eine Dauerbremse (4) ausgebildet ist, dadurch gekennzeichnet, dass

c) das elektronisch geregelte Bremssystem weiterhin derart ausgebildet ist, dass die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf die Reibungsbremse (2) und die Dauerbremse (4) auch in Abhängigkeit des Dringlichkeitssignals (d) stattfindet."

Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag hat folgenden Wortlaut:

"Vorrichtung (1) zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeugs, beinhaltend folgendes:

a) eine Einrichtung zur adaptiven Abstands- und/ oder Fahrgeschwindigkeitsregelung (ACC) zur Regelung einer Zeitlücke zwischen dem Nutzfahrzeug und einem vorausfahrenden Fahrzeug durch an ein Steuergerät (12) eines elektronisch geregelten Bremssystems gesandte Steuersignale (a), wobei

(b) das elektronisch geregelte Bremssystem zur Verteilung einer angeforderten Bremskraft auf eine Reibungsbremse (2) und eine Dauerbremse (4) ausgebildet ist,

dadurch gekennzeichnet, dass

(c) die Einrichtung zur adaptiven Abstands- und/ oder Fahrgeschwindigkeitsregelung (ACC) ein von einem Gefahrenmaß wie beispielsweise von einer Relativgeschwindigkeit und/oder von einem Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug abhängiges Dringlichkeitssignal (d) aussteuert, und dass

(d) das elektronisch geregelte Bremssystem weiterhin derart ausgebildet ist, dass die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf die Reibungsbremse (2) und die Dauerbremse (4) auch in Abhängigkeit des Dringlichkeitssignals (d) stattfindet."

V. Zur Stützung ihrer Anträge brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes vor:

a) Zum Hauptantrag

Die Ausgangsbasis für die vorliegende Erfindung bildeten die aus dem Stand der Technik bekannten elektronischen Bremssysteme (EBS), welche zur Verteilung der vom Fahrer gewünschten Bremskraft auf eine Reibungsbremse und eine Dauerbremse (sogenannte "Blending" Funktion) ausgebildet seien, sowie Adaptative-Cruise-Control (ACC) Systeme, welche ein von einer Relativgeschwindigkeit und/oder von einem Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug abhängiges Verzögerungssignal aussteuerten und gegebenenfalls eine Bremsung einleiteten.

Das Ziel der Blending Funktion des EBS bestehe darin, die vom Fahrer gewünschte Bremskraft mit möglichst wenig Verschleiß an den Reibungsbremsen zu erzeugen. In Abhängigkeit eines Verzögerungsanforderungssignal finde eine zeitliche Abfolge des Einsatzes der Reibungsbremse bzw. der Dauerbremse derart statt, dass zuerst mit der schneller ansprechenden Reibungsbremse und dann mit der langsamer ansprechenden Dauerbremse gebremst werde (vgl. Absatz [0003] der Streitpatentschrift).

Die Erfindung basiere auf dem Gedanken, dass die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf die Reibungsbremse und die Dauerbremse darüber hinaus auch in Abhängigkeit eines Dringlichkeitssignals erfolge (vgl. Spalte 4, Zeilen 2 bis 6 der Streitpatentschrift). Wie der Figur 1 in Verbindung mit dem Absatz [0014] der Streitpatentschrift zu entnehmen sei, sende das ACC-Steuergerät 6 nicht nur ein an sich bekanntes Verzögerungssignal "a", sondern auch noch ein Dringlichkeitssignal "d" an das EBS. Das Dringlichkeitssignal "d" im Sinne der Erfindung sei als ein unabhängig von der Verzögerungsanforderung erzeugtes Signal zu betrachten, wie schon der Begriff "auch" in Merkmal c) von Patentanspruch 1 verdeutliche. Mit anderen Worten existiere neben dem Verzögerungsanforderungssignal, in dessen Abhängigkeit die aus dem Stand der Technik bekannte zeitliche Abfolge der Betätigung von Reibungsbremse und Dauerbremse erfolge, zusätzlich ein Dringlichkeitssignal, durch welches nun keine zwangsweise zeitliche Abfolge mehr vorgegeben werde. Vielmehr werde abhängig vom jeweiligen Dringlichkeitssignal eine beliebige Kombination von Reibungsbremse und Dauerbremse im Hinblick auf Zeit und Verteilung möglich. Dies resultiere insbesondere darin, dass nun nicht mehr wie beim Stand der Technik stets zuerst die Reibungsbremse und dann die Dauerbremse mit einem damit einhergehenden erhöhten Verschleiß der Reibungsbremse eingesetzt werde, sondern dass abhängig vom Dringlichkeitssignal beispielsweise ausschließlich mit der Dauerbremse gebremst werde, sofern deren Bremsleistung ausreichend sei.

Eine solche Verteilung der angeforderten Bremskraft in Abhängigkeit eines Dringlichkeitssignals gemäß dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 werde durch eine Zusammenschau der Druckschriften D1 und D6' nicht nahegelegt.

In der Bremsvorrichtung gemäß der Druckschrift D6' erfolge die Aufteilung der Bremskraft nicht aufgrund eines Dringlichkeitssignals. Die im ersten Absatz der Seite 7 dieser Druckschrift erwähnte "Dynamik des Verzögerungswunsches" beziehe sich lediglich auf die reine Betätigung des Bremspedals (Betätigungsgeschwindigkeit) und habe mit ACC-Einrichtungen, insbesondere mit derjenigen gemäß der Druckschrift D1, nichts zu tun.

Genauso wenig offenbare die Druckschrift D1, dass zusätzlich zu der Verzögerungsanforderung auch ein Dringlichkeitssignal erzeugt werde, in dessen Abhängigkeit die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf Reibungs- und Dauerbremse erfolge. Das im erteilten Anspruch 1 definierte Dringlichkeitssignal unterscheide sich von dem in der Druckschrift D1 erwähnten Regelsignal RV, das als reines Verzögerungssignal zu betrachten sei und dessen Erzeugung abhängig von der Unterschreitung eines bestimmten Schwellenwertes sei. In dieser Druckschrift werde lediglich erwähnt, dass das Signal RV die Verzögerung einleite. Wie dies geschehe, werde hingegen nicht erklärt.

Folglich ergäben sich die Merkmale von Patentanspruch 1 des Streitpatents nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik. Sie beruhten daher auf einer erfinderischen Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ.

b) Zum Hilfsantrag

Der geänderte Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag wiederhole sämtliche Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1. Das in der erteilten Fassung ursprünglich im Oberbegriff befindliche Merkmal a) werde als Merkmal c) im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag aufgeführt. In den Oberbegriff werde das neue Merkmal a) aufgenommen. Dieses Merkmal sei in Spalte 3, Zeilen 15 bis 33 in Verbindung mit der Figur der ursprünglich eingereichten Anmeldung EP-A-1 386 774 offenbart. Bei den Steuersignalen "a" handele es sich um die Verzögerungsanforderungssignale "a" des ACC-Systems, wie dies auch in der Figur durch den Pfeil a symbolisiert sei.

Die im Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag durchgeführten Änderungen erfüllten somit die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ.

VI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin kann wie folgt zusammengefasst werden:

a) Zum Hauptantrag

Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei durch die Zusammenschau der Druckschrift D1 und D6' nahegelegt.

b) Zum Hilfsantrag

Bei der Aufnahme des neuen Merkmals a) in den Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag seien Teilmerkmale aus einem Gesamtzusammenhang herausgegriffen worden, obwohl sie durchgehend in Kombination mit anderen Teilmerkmalen ursprünglich offenbart gewesen seien und deshalb nur in dieser Kombination hätten übernommen werden dürfen. Dadurch sei eine unzulässige Erweiterung entstanden, die gegen die Bestimmungen des Artikels 123 (2) EPÜ verstoße.

Zusätzlich sei der Patentanspruch 1 in der Weise geändert worden, dass sein Schutzbereich erweitert werde. Diese Änderung verstoße somit auch gegen Artikel 123 (3) EPÜ.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Gegenstand des erteilten Anspruchs 1; erfinderische Tätigkeit

2.1 Kombination D6'/D1

2.1.1 Die Druckschrift D6' zeigt in der Figur 1 eine Vorrichtung (Steuerung/Regelung 111 und Steuerung 100) zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeugs (Seite 10, Zeile 6 des letzten Absatzes bis Seite 11, Zeile 5). Diese Vorrichtung beinhaltet ein elektronisch geregeltes Bremssystem (vgl. Figur 2: Einrichtung 204), welches zur Verteilung einer angeforderten Bremskraft auf eine Reibungsbremse (107a - 107d) und eine Dauerbremse (elektrisch regenerative Bremse) ausgebildet ist (Seite 11, letzter Absatz; Seite 12, zweiter Absatz bis Seite 13, erster Absatz). Das elektronisch geregelte Bremssystem 204 ist weiterhin derart ausgebildet, dass die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf die Reibungsbremse und die Dauerbremse in Abhängigkeit eines Verzögerungswunsches stattfindet (Seite 12, zweiter Absatz, ersten drei Zeilen).

2.1.2 Dieser Verzögerungswunsch kann aus der Betätigung des Bremspedals 201 durch den Fahrzeugführer über einen Bremspedalsensor 202 abgeleitet werden. Parallel dazu, kann der Verzögerungswunsch aber auch fahrzeugintern durch andere Steuerungs- bzw. Regelungskomponenten erzeugt werden (Seite 11, zweiter Absatz, Zeilen 1-9). Gemäß dem dritten Absatz der Seite 6 von D6' kann ein solcher regelungstechnisch erzeugter Verzögerungswunsch von einer "Fahrzeugfolgeregelung oder ähnliches" ausgegeben werden.

2.1.3 Eine derartige Fahrzeugfolgeregelung ist in der Druckschrift D1 beschrieben. D1 offenbart eine Einrichtung zur adaptiven Abstands- und/ oder Fahrgeschwindigkeitsregelung (ACC), welche ein von einem Gefahrenmaß wie beispielsweise von einer Relativgeschwindigkeit und/oder von einem Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug (Spalte 3, Zeilen 9-31) abhängiges Dringlichkeitssignal aussteuert, welches gegebenenfalls eine Verzögerung des Fahrzeuges initiiert (vgl. auch Absatz [0002] der Streitpatentschrift).

2.1.4 Der dritte Absatz der Seite 6 von D6' legt es nahe, die von der aus der Druckschrift D1 bekannten ACC-Einrichtung erzeugten Verzögerungssignale dem aus der Druckschrift D6' bekannten elektronisch geregelten Bremssystem zuzuführen, und zwar analog zu den Verzögerungssignalen, die das elektronisch geregelte Bremssystem vom Bremspedal 201 erhält. Das elektronisch geregelte Bremssystem wird die Bremssignale der ACC-Einrichtung analog zu den Bremssignalen des Bremspedals 201 behandeln und dementsprechend die gewünschte Bremsverzögerung durch eine entsprechende Ansteuerung der verschiedenen Reibungs- bzw. Dauerbremsen realisieren.

2.1.5 Das Ergebnis dieser naheliegenden Kombination entspricht der im erteilten Anspruch 1 definierten Vorrichtung zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeug.

2.2 Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, dass das in der ACC-Einrichtung gemäß Druckschrift D1 erzeugte Verzögerungsanforderungssignal RV kein Dringlichkeitssignal sei, denn das erfindungsgemäße "Dringlichkeitssignal" sei als ein zusätzliches Signal "d" zu betrachten, das unabhängig vom Verzögerungsanforderungssignal erzeugt werde.

2.2.1 Diese Interpretation des Begriffs "Dringlichkeitssignal" findet keinen Niederschlag in den Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1. Im Patentanspruch 1 wird das Dringlichkeitssignal lediglich dadurch definiert, dass es "von einem Gefahrenmaß wie beispielsweise von der Relativgeschwindigkeit und/oder vom Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug" abhängig ist und von der Einrichtung zur adaptiven Abstands- und/ oder Fahrgeschwindigkeitsregelung (ACC) ausgesteuert wird. Im Absatz [0002] der Patentschrift wird explizit angegeben, dass die aus der Druckschrift D1 bekannte ACC-Einrichtung ein solches "Dringlichkeitssignal" aussteuert. Für die Kammer ist nicht ersichtlich, inwiefern das im Anspruch 1 definierte Dringlichkeitssignal sich von dem in der Druckschrift D1 erwähnten Regelsignal RV bzw. dem Gefahrenmaß G unterscheidet, das eine Verzögerung des Fahrzeuges einleitet (vgl. D1: Spalte 3, Zeilen 9-30).

Auch der Inhalt der Streitpatentschrift stützt nicht den Standpunkt der Beschwerdeführerin. Woraus das Dringlichkeitssignal genau besteht und wie es entsteht, gibt die Patentschrift nicht an. Es wird lediglich erwähnt, dass das Dringlichkeitssignal von einem Funktionsblock des Steuergeräts der ACC-Einrichtung erzeugt wird (Spalte 4, Zeilen 7-9). Aus der Patentschrift geht auch nicht hervor, wie genau die Verteilung der Bremskraft auf die verschiedenen Reibungs- und Dauerbremsen in Abhängigkeit des Dringlichkeitssignals stattfinden soll.

2.2.2 Das Wort "auch" in der Klausel "auch in Abhängigkeit des Dringlichkeitssignals stattfindet" gemäß Merkmal c) des erteilten Anspruchs 1 stellt die obige Darstellung nicht in Frage. Das Wort "auch" ist dahingehend auszulegen, dass die Verteilung der Bremskräfte nicht nur in Abhängigkeit vom Dringlichkeitssignal der ACC-Einrichtung, sondern "auch", wie an sich bekannt, in Abhängigkeit des aus der Betätigung des Bremspedals 201 ermittelten Verzögerungswunsches in Form eines elektronischen Verzögerungssignals stattfinden kann. Diese Auslegung wird durch den Absatz [0007] der Streitpatentschrift bestätigt.

2.3 Selbst wenn die Kammer das Argument des Beschwerdeführerin gelten lassen würde, dass das in der Druckschrift D1 erwähnte, eine Verzögerung des Fahrzeugs einleitende Regelsignal RV, kein Dringlichkeitssignal im Sinne der Erfindung darstellt, so ist festzustellen, dass das aus D6' bekannte Bremssystem auch zwei unterschiedliche Signale aus dem Verzögerungswunsch des Fahrzeugführers ermittelt. Zusätzlich zu der Ermittlung der Position des Bremspedals wird nämlich auch dessen Bewegungsgeschwindigkeit berücksichtigt und dadurch die Dynamik des Verzögerungswunsches hergeleitet. Die Verteilung der angeforderten Bremskraft auf die Reibungsbremse und die elektrisch regenerative Bremse erfolgt dann auch in Abhängigkeit dieser Dynamik (Seite 6, letzter Absatz bis Seite 7, erster Absatz in Verbindung mit Figur 2). Mit anderen Worten, das vom Fahrzeugführer über das Bremspedal erzeugte, die Dynamik berücksichtigende Signal hat stets auch den Charakter eines Dringlichkeitssignals, da eine langsame Betätigung des Bremspedals für eine geringe Dringlichkeit, während eine schnelle Betätigung des Bremspedals für eine hohe Dringlichkeit der gewünschten Verzögerung spricht.

Das von der ACC-Einrichtung erzeugte, von einem Gefahrenmaß abhängige Regelsignal gemäß der Druckschrift D1 unterliegt zeitlich ebenfalls schnellen und langsamen Veränderungen. Nach Auffassung der Kammer ist es naheliegend, gemäß der Lehre der Druckschrift D6' auch die Dynamik dieser Änderungen zu berücksichtigen und daraus ein entsprechendes Signal, das eine Maßgabe für die Dringlichkeit der Verzögerung darstellt, an das elektronisch geregelte Bremssystem auszusteuern.

2.4 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht patentfähig ist, weil er die in Artikel 52 (1) EPÜ geforderte erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ 1973 nicht aufweist.

3. Hilfsantrag; Zulässigkeit des geänderten Anspruchs 1

3.1 Im Oberbegriff des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag wurde gegenüber dem Hauptantrag präzisiert, dass die Regelung der Zeitlücke zwischen dem Nutzfahrzeug und einem vorausfahrenden Fahrzeug durch die Sendung von "Steuersignalen (a)" von der ACC-Einrichtung an ein Steuergerät 12 eines elektronisch geregelten Bremssystems erfolgt.

3.2 Die Beschwerdeführerin sieht eine Grundlage für diese Präzisierung in der Spalte 3, Zeilen 15 bis 33 in Verbindung mit der Figur der ursprünglich eingereichten Anmeldung. Die Figur 1 und die dazugehörige Textstelle der ursprünglich eingereichten Anmeldung beschreiben jedoch eine ganz konkrete Ausführungsform des ACC-Steuergeräts 6 mit einer Regelelektronik 8, die mit einem Funktionsblock 10 und einem Funktionsblock 16 kommuniziert. Die Regelung der Zeitlücke erfolgt nicht allein durch die Sendung des Steuersignals "a" zu dem Steuergerät 12 über den Funktionsblock 10, sondern auch noch durch die Sendung des Steuersignals M zu einem Steuergerät 14 des Antriebsmotors des Nutzfahrzeugs.

Die Sendung des Verzögerungsanforderungssignals "a" erfolgt somit in funktionellem und konstruktivem Zusammenhang mit weiteren Merkmalen, die nicht mit in den neuen Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag aufgenommen worden sind. Die Kammer sieht in dem Weglassen dieser weiteren Merkmale eine Zwischenverallgemeinerung, die gegen die Bestimmungen des Artikels 123 (2) EPÜ verstößt. Insbesondere erfasst der neue Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag mit seinem Schutzbereich auch Ausführungsformen, die beispielsweise ohne die Regelelektronik 8 und ohne die Funktionsblöcke 10 und 16 auskommen, also Ausführungsformen, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbart sind.

3.3 Der Anspruch 1 wie erteilt bezieht sich auf eine Vorrichtung zur Steuerung der Bremsen eines Nutzfahrzeugs, wobei diese Vorrichtung gemäß der Merkmalsgruppe a) eine ACC-Einrichtung und gemäß Merkmalsgruppe b) ein elektronisch geregeltes Bremssystem beinhaltet.

Die Vorrichtung nach dem Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag beinhaltet nur noch die ACC-Einrichtung und beansprucht lediglich die Erfüllung von funktionellen Anforderungen an das elektronisch geregelte Bremssystem. Die Kammer sieht darin eine unzulässige Erweiterung des Schutzbereiches.

3.4 Aus diesen Gründen kommt die Kammer zum Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht und dass der Schutzbereich des Patents durch diesen Anspruch erweitert wurde. Die vorgenommenen Änderungen sind somit gemäß Artikel 123 (2) und (3) EPÜ unzulässig. Der vorliegende Hilfsantrag kann daher nicht als Grundlage für eine Aufrecherhaltung des Patents dienen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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