T 1314/05 (Schweizer Anspruchsfassung für Vorrichtung zur medizinischen … of 15.4.2008

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2008:T131405.20080415
Datum der Entscheidung: 15 April 2008
Aktenzeichen: T 1314/05
Anmeldenummer: 03012355.8
IPC-Klasse: A61N 1/04
A61N 1/05
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: B
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Mikroelektroden-Anordnung
Name des Anmelders: Retina Implant GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: 1. Eine Übertragung der mit der Schweizer Anspruchsfassung für Stoffe oder Stoffgemische verbundenen Ausnahmeregelung für die Beurteilung der Neuheit auf die Verwendung eines Gerätes für die Herstellung einer für medizinische Zwecke einsetzbaren Vorrichtung ist durch die Entscheidung G 1/83 (Abl. 1985, 060) nicht gedeckt. Einer Ausdehnung der genannten Ausnahmeregelung auf die Herstellung medizinisch verwendbarer Vorrichtungen steht das allgemeine Rechtsprinzip entgegen, dass gesetzliche Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind. Eine Bestätigung hierfür bildet der Umstand, dass der Gesetzgeber mit dem EPÜ 2000 den Ausnahmetatbestand der zweiten medizinischen Indikation mit Artikel 54(5) EPÜ ausdrücklich auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt hat. 2. Die Verwendung einer Vorrichtung (hier: Mikroelektroden- Anordnung) zur Herstellung eines für medizinische Zwecke eingesetzten Gerätes (hier: Implantat) stellt ein vom Ausschlusstatbestand des Artikels 53c) EPÜ (Artikel 52(4) EPÜ 1973) umfasstes Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers dar, wenn die Herstellung des Geräts notwendig chirurgische Handlungen umfasst.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 53(c)
European Patent Convention 1973 Art 54(5)
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Neuheit (verneint: Hauptantrag und Hilfsanträge)
Chirurgieverfahren (bejaht: Hauptantrag)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (abgelehnt)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/83
J 0010/07
T 0227/91
T 0775/97
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2003/08
T 1099/09
T 2369/10
T 0037/12

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) richtete ihre am 29. September 2005 zusammen mit einer Begründung und unter gleichzeitiger Bezahlung der Beschwerdegebühr eingelegte Beschwerde gegen die am 5. August 2005 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, die vorliegende Teilanmeldung aus der Stammanmeldung 96931732.0 wegen Klarheits- und Offenbarungsmängeln (Artikel 84 EPÜ 1973 sowie Artikel 123(2) und 76(1) EPÜ 1973) zurückzuweisen. Der Beschwerdebegründung beigefügt waren neue Anspruchssätze gemäß einem Hauptantrag, einem Hilfsantrag 1 und einem Hilfsantrag 2 sowie neue Beschreibungsseiten.

II. Die Beschwerdeführerin wurde auf ihren Antrag hin zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einem Bescheid vom 16. Januar 2008 wies die Kammer auf eine Reihe von in der Verhandlung zu diskutierender Fragen hin. Dabei bezweifelte die Kammer im Falle des Hauptantrags, dass die gewählte Form der Schweizer Anspruchsfassung für eine Vorrichtung, im vorliegenden Fall für ein durch eine Mikroelektroden-Anordnung gebildetes Implantat, angemessen und zulässig ist. Neben Hinweisen auf Klarheits- und Offenbarungsmängel äußerte die Kammer im Hinblick auf den mit Dokument D1 : US-A-5 024 223 gegebenen Stand der Technik Zweifel an der Neuheit der Gegenstände der Ansprüche 1 der vorliegenden Anträge.

III. Mit einem Schreiben vom 3. März 2008 teilte die Beschwerdeführerin der Kammer mit, dass sie an der anberaumten mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde. Zu den im Bescheid der Kammer aufgeworfenen Fragen wurde nicht Stellung genommen.

IV. Die mündliche Verhandlung fand am 15. April 2008 in Abwesenheit der Beschwerdeführerin statt.

V. Gemäß ihrem schriftlichen Vortrag beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Basis

eines Hauptantrages umfassend :

Ansprüche : 1 bis 16, eingereicht am 29. September 2005

Beschreibung : Seiten 1, 4, 4a und 6, eingereicht am 29. September 2005

Seiten 2, 3, 5 und 7 bis 15 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

Zeichnung : Blätter 1/3 bis 3/3 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

eines Hilfsantrages 1 umfassend :

Ansprüche : 1 bis 13, eingereicht am 29. September 2005

Beschreibung : Seiten 1, 4, 4a, 6 und 7, eingereicht am 29. September 2005

Seiten 2, 3, 5 und 8 bis 15 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

Zeichnung : Blätter 1/3 bis 3/3 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

oder eines Hilfsantrages 2 umfassend :

Ansprüche : 1 bis 13, eingereicht am 29. September 2005

Beschreibung : Seiten 1, 4, 4a, 6 und 7, eingereicht am 29. September 2005

Seiten 2, 3, 5 und 8 bis 15 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

Zeichnung : Blätter 1/3 bis 3/3 der ursprünglich eingereichten Anmeldung.

Darüber hinaus machte die Beschwerdeführerin geltend, dass die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegte Interpretation des Dokumentes D1 in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht diskutiert worden sei, und beantragte aus diesem Grund die Rückerstattung der Beschwerdegebühr.

VI. Der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt :

"Verwendung einer Mikroelektroden-Anordnung zur Herstellung eines Implantates zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen, wobei die Mikroelektroden-Anordnung eine Vielzahl von Mikroelektroden (M1 bis Mn) aufweist und wobei jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) eine Kontaktierelektrode (K1 bis Kn), die mit dem Netzwerk biologischer Zellen (Ze) in elektrischen Kontakt bringbar ist, eine Anschlusselektrode (A; A1 bis As) und ein lichtempfindliches Element (p) aufweist, das zwischen der Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) und der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Anschlusselektrode (A; A1 bis As) elektrisch leitend mit einer Stimulationselektronik verbunden ist, und dass das lichtempfindliche Element (p) als Schalter dient, der die Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) von der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) isoliert oder mit der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) verbindet, so dass jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) für sich durch Licht ansteuerbar ist."

Die Ansprüche 2 bis 16 sind abhängige Ansprüche.

Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 lautet :

"Retina-Implantat mit einer Mikroelektroden-Anordnung zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen, wobei die Mikroelektroden-Anordnung eine Vielzahl von Mikroelektroden (M1 bis Mn) aufweist und wobei jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) eine Kontaktierelektrode (K1 bis Kn), die mit dem Netzwerk biologischer Zellen (Ze) in elektrischen Kontakt bringbar ist, eine Anschlusselektrode (A; A1 bis As) und ein lichtempfindliches Element (p) aufweist, das zwischen der Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) und der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Anschlusselektrode (A; A1 bis As) elektrisch leitend mit einer Stimulationselektronik verbunden ist, und dass das lichtempfindliche Element (p) als Schalter dient, der die Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) von der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) isoliert oder mit der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) verbindet, so dass jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) für sich durch Licht ansteuerbar ist."

Die Ansprüche 2 bis 13 sind abhängige Ansprüche.

Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 lautet :

"Retina-Implantat in Kombination mit einer Stimulationselektronik, wobei das Retina-Implantat eine Mikroelektroden-Anordnung zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen aufweist, wobei die Mikroelektroden-Anordnung eine Vielzahl von Mikroelektroden (M1 bis Mn) aufweist und wobei jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) eine Kontaktierelektrode (K1 bis Kn), die mit dem Netzwerk biologischer Zellen (Ze) in elektrischen Kontakt bringbar ist, eine Anschlusselektrode (A; A1 bis As) und ein lichtempfindliches Element (p) aufweist, das zwischen der Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) und der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Anschlusselektrode (A; A1 bis As) elektrisch leitend mit der Stimulationselektronik verbunden ist, und dass das lichtempfindliche Element (p) als Schalter dient, der die Kontaktierelektrode (K1 bis Kn) von der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) isoliert oder mit der Anschlusselektrode (A; A1 bis As) verbindet, so dass jede Mikroelektrode (M1 bis Mn) für sich durch Licht ansteuerbar ist."

Die Ansprüche 2 bis 13 sind abhängige Ansprüche.

VII. Im schriftlichen Verfahren verteidigte die Beschwerdeführerin die Zulässigkeit der Schweizer Anspruchsfassung für ihren Hauptantrag mit dem Argument, die Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer schließe diese Anspruchsform für Geräte und Vorrichtungen nicht aus, insbesondere wenn Artikel 52(4) EPÜ (1973) zugrunde gelegt werde. In der Tat schließe Artikel 52(4) EPÜ (1973) den chirurgischen Schritt der Implantation von der Patentierung aus, Produkte zur Verwendung in einem derartigen Verfahren jedoch nicht. Folglich sei im vorliegenden Fall das Implantat als ein derartiges Produkt anzusehen, weshalb die Schweizer Anspruchsfassung zulässig sei. Auch schließe die Tatsache, dass in den Anmeldeunterlagen die Mikroelektroden-Anordnung selber bereits das Retina-Implantat bilde, es nicht aus, dass ein Anspruch auf die Verwendung einer derartigen Mikroelektroden-Anordnung zur Herstellung eines Implantates, analog der Schweizer Anspruchsfassung bei einer zweiten medizinischen Verwendung einer Substanz, zugelassen werde. Darüber hinaus stehe auch Artikel 54(5) EPÜ einer Schweizer Anspruchsfassung für Vorrichtungen nicht entgegen, da er nur Substanzen und Zusammensetzungen betreffe.

Zur Neuheit des mit den Hilfsanträgen 1 und 2 beanspruchten Retina-Implantats vertrat die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass bei dem Retina-Implantat des Dokuments D1 das beanspruchte Durchschalten von als Schalter dienenden lichtempfindlichen Elementen, um damit mittels einer Stimulationselektronik eine gezielte Stimulation der kontaktierten Nervenzellen zu bewirken, nicht stattfinde. Die als PiN-Photodioden ausgebildeten lichtempfindlichen Elemente des Dokuments D1 seien nämlich keine Schalter, sondern vielmehr Erzeuger der die Nervenzellen anregenden Energie. Bei der in D1 am Rande erwähnten Batterie zum Erzeugen eines "supplemental bias activation current" handle es sich nicht um eine Stimulationselektronik, die im Sinne der vorliegenden Anmeldung das Implantat mit Fremdenergie versorge, sondern lediglich um eine Schaltung zur Verschiebung des Arbeitspunktes der Photodioden.

In Verbindung mit ihrem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr machte die Beschwerdeführerin geltend, die Interpretation des Dokuments D1, auf die sich die Prüfungsabteilung bei der Ablehnung der ihr vorgelegten Hilfsanträge wegen fehlender Neuheit stützte, sei in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung nicht diskutiert worden.

Entscheidungsgründe

1. Im Folgenden wird auf die Erfordernisse des am 13. Dezember 2007 in Kraft getretenen EPÜ 2000 Bezug genommen, es sei denn die früheren Vorschriften des EPÜ 1973 gelten weiter für anhängige Anmeldungen.

2. Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse der Artikel 106 bis 108 sowie der Regel 64 EPÜ 1973 und ist damit zulässig.

3. Hauptantrag

3.1 Schweizer Anspruchsfassung

Die sogenannte "Schweizer Anspruchsfassung" wurde mit der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 060) als eine im Rahmen des EPÜ zulässige Schutzrechtskonstruktion etabliert, bei der sich die Neuheit der Herstellung eines an sich bekannten Stoffes oder Stoffgemisches aus einem bestimmten neuen therapeutischen Gebrauch ableitet. Diese Konstruktion löst das Problem, dass eine Patenterteilung mit einem unmittelbar auf die neue therapeutische Verwendung gerichteten Patentanspruch aufgrund des Patentierungsverbots des Artikels 52(4) EPÜ 1973 nicht möglich wäre, während ein Patentschutz im Sinne einer ersten medizinischen Indikation (Artikel 54(5) EPÜ 1973) nicht in Frage käme, da eine solche Verwendung des Stoffes bereits bekannt wäre.

Mit der Revision des EPÜ 2000 wurde diesem für Stoffe oder Stoffgemische geltenden Ausnahmetatbestand mit Artikel 54(5) EPÜ für die sogenannte zweite und weitere medizinische Indikationen Rechnung getragen, in Analogie zu Artikel 54(4) EPÜ, der sich auf die erste medizinische Indikation bezieht.

Gemäß Artikel 1, Punkt 3 des Beschlusses des Verwaltungsrates vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 ist Artikel 54(5) EPÜ auf die bei seinem Inkrafttreten anhängigen europäischen Patentanmeldungen anzuwenden, soweit eine Entscheidung über die Erteilung des Patents noch nicht ergangen ist.

Da diese Voraussetzung auf den vorliegenden Fall zutrifft, stellt sich die Frage, ob die Hilfskonstruktion der Schweizer Anspruchsfassung überhaupt noch als zulässig anzusehen ist, oder ob unbeschadet der Regelung des Artikels 54(5) EPÜ dem Anmelder grundsätzlich ein uneingeschränktes Recht der Wahl der Kategorie und Formulierung des Anspruchs zugestanden wird, so dass die Schweizer Anspruchsfassung eine dem Anmelder weiterhin offenstehende Option der Anspruchsformulierung darstellt.

Eine Entscheidung dieser Frage kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, da, wie nachstehend ausgeführt, die gewählte Anspruchsformulierung beide mit der Schweizer Anspruchsfassung verbundenen Ziele, nämlich die Anerkennung der Neuheit für eine besondere Verwendung eines an sich bereits bekannten Stoffes einerseits und die Vermeidung des Patentierungshindernisses des Artikels 53c) EPÜ andererseits, nicht erreicht.

3.2 Neuheit (Artikel 54(1) und (2) EPÜ 1973)

3.2.1 Die Entscheidung G 1/83 (aaO; vgl. Entscheidungsgründe Punkt 21) lässt keinen Zweifel daran, dass der darin festgelegte Grundsatz der Beurteilung der Neuheit der Herstellung nur für Erfindungen bzw. Patentansprüche gerechtfertigt ist, die sich auf die Anwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches in einem in Artikel 52(4) EPÜ (1973) genannten Heilverfahren beziehen, sofern dieses Heilverfahren noch nicht zum Stand der Technik gehört.

Bei der mit dem vorliegenden Anspruch 1 beanspruchten "Verwendung einer Mikroelektroden-Anordnung zur Herstellung eines Implantats zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen" geht es jedoch nicht um die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels, da die Mikroelektrodenanordnung kein Stoff zur Herstellung eines Arzneimittels ist, sondern ein Gerät mit bestimmten elektrischen Funktionen. Auch fehlt es bei der unspezifischen Angabe "Implantat zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen" an einer bestimmten neuen und erfinderischen therapeutischen Anwendung.

Damit erfüllt aber die vorgelegte Anspruchsformulierung nicht die gemäß G 1/83 (aaO) geforderten Voraussetzungen, um der beanspruchten Verwendung der Mikroelektroden-Anordnung unbeschadet einer etwaigen Übereinstimmung der im Anspruch definierten Struktur der Anordnung mit dem Stand der Technik die Neuheit zuerkennen zu können (vgl. T 227/91 (ABl. 1994, 491)).

Eine Übertragung der mit der Schweizer Anspruchsfassung für Stoffe oder Stoffgemische verbundenen Ausnahmeregelung für die Beurteilung der Neuheit auf die Verwendung eines Gerätes für die Herstellung einer für medizinische Zwecke einsetzbaren Vorrichtung ist somit, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin, durch die Entscheidung G 1/83 (aaO) gerade nicht gedeckt. Vielmehr steht einer Ausdehnung der genannten Ausnahmeregelung auf die Herstellung medizinisch verwendbarer Vorrichtungen das allgemeine Rechtsprinzip entgegen, dass gesetzliche Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind. Eine Bestätigung hierfür sieht die Kammer in dem Umstand, dass der Gesetzgeber mit dem EPÜ 2000 den Ausnahmetatbestand der zweiten medizinischen Indikation mit Artikel 54(5) EPÜ ausdrücklich auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt hat.

3.2.2 Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass eine Mikroelektroden-Anordnung des Standes der Technik, deren Aufbau mit der im vorliegenden Anspruch 1 definierten Struktur übereinstimmt und die für die Herstellung eines Implantates auch nur im Prinzip verwendbar ist, als neuheitsschädlich für den vorliegenden Anspruchsgegenstand anzusehen ist.

Eine solche Mikroelektroden-Anordnung ist nun in der Tat aus dem Dokument D1 bekannt. D1 zeigt eine Mikroelektroden-Anordnung zur Verwendung als Retinaimplantat bestehend aus einer matrixförmige Anordnung lichtempfindlicher Elemente in Form von Mikrophotodioden 28 (vgl. insbesondere die Figuren 2A bis 2C und 4 mit der zugehörigen Beschreibung). Jede Photodiode weist eine PiN-Struktur mit einer photoaktiven P-dotierten Schicht 18 auf, die mit einer als aktive Elektrode 13a, 13b bezeichneten Elektrode versehen ist. Diese steht im implantierten Zustand mit der Schicht der Photorezeptoren bzw. der Schicht der Bipolar- und Horizontalzellen in Kontakt und bildet damit im Sinne der vorliegenden Anspruchsdefinition eine Kontaktierelektrode, die mit dem Netzwerk biologischer Zellen in elektrischen Kontakt bringbar ist (D1: Spalte 5, Zeilen 24-30). Die N-dotierte Schicht 6 der Photodioden ist mit einer Elektrode 22 versehen, die dem Anschluss an Erde dient und somit eine Anschlusselektrode entsprechend dem Wortlaut des vorliegenden Anspruchs 1 darstellt. Im unbeleuchteten Zustand isoliert die Photodiode mit ihrer intrinsischen Schicht 20 die Kontaktierelektrode von der Anschlusselektrode, während sie unter Beleuchtung die Kontaktierelektrode mit der Anschlusselektrode elektrisch leitend verbindet, so dass jeder Mikrophotodiode die Funktion eines Schalters zukommt, der für sich durch Licht ansteuerbar ist.

Damit weist aber die bekannte Anordnung von Mikrophotodioden alle im Anspruch 1 geforderten strukturellen und funktionalen Merkmale einer Mikroelektroden-Anordnung auf, deren Verwendung für ein Implantat im Übrigen aus D1 explizit bekannt ist.

Schließlich sieht die Lehre des Dokuments D1 vor, die bekannte Mikrophotodioden-Anordnung über ihre Elektroden ggf. mit einem von einer externen oder internen Batterie erzeugten Aktivierungsstrom zu versorgen (D1 : Spalte 5, Zeilen 5-9). In diesem Fall ist die jeweilige Anschlusselektrode elektrisch leitend mit einer "Stimulationselektronik" im weitesten Sinn dieses Begriffes verbunden, wie dies im vorliegenden Anspruch 1 noch gefordert wird.

3.2.3 Interessanterweise sieht die Beschwerdeführerin die Neuheit der im Anspruch 1 definierten Mikroelektroden-Anordnung gar nicht in einer neuartigen Verwendung, wie dies die Wahl der Schweizer Anspruchsfassung erwarten ließe, sondern in der Ausbildung und Funktion des lichtempfindlichen Elementes als Schalter und damit verbunden in der Rolle der Stimulationselektronik für die elektrische Stimulierung der kontaktierten Zellen.

Was die beanspruchte Schalter-Funktion anbetrifft, so erläutert die Anmeldungsbeschreibung (vgl. den die Seiten 4 und 5 überbrückenden Absatz; bzw. Paragraph [0010] der veröffentlichten Anmeldung), dass das lichtempfindliche Element bei Dunkelheit einen sehr hohen elektrischen Widerstand hat, der sich bei Auftreffen von Licht verringert und damit als Schalter dient, der die Kontaktierelektrode von der Anschlusselektrode isoliert oder als ohmscher Widerstand mit der Anschlusselektrode verbindet. Betätigt wird dieser Schalter, indem Licht auf ihn, d.h. auf das lichtempfindliche Element, gerichtet wird. Dabei kann das lichtempfindliche Element als Photodiode mit PiN-Übergang ausgebildet sein (vgl. Seite 9, dritter Absatz; bzw. Paragraph [0026] der veröffentlichten Anmeldung). Exakt dieselbe Struktur und Funktion des lichtempfindlichen Elements zeigt jedoch Dokument D1.

Insoweit die Beschwerdeführerin Unterschiede in der Funktion der Stimulationselektronik sieht, ist festzustellen, dass diese entweder gar nicht Gegenstand des vorliegenden Anspruchs sind oder keine Offenbarungsbasis in den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen besitzen.

So verlangt Anspruch 1 des Hauptantrags gar nicht, dass die Stimulationselektronik das Implantat mit Fremdenergie versorgt, sondern lediglich, dass die Anschlusselektrode elektrisch leitend mit einer Stimulationselektronik verbunden ist.

Zu Art und Aufbau der Stimulationselektronik zeigen die Anmeldungsunterlagen lediglich das Beispiel einer Spannungsquelle U und einer in einen physiologischen Elektrolyten E getauchten Referenzelektrode Re zum elektrischen Stimulieren von Netzwerken biologischer Zellen Ze (vgl. die Figuren 2a und 2b; Seite 10, zweiter und dritter Absatz der ursprünglich eingereichten Beschreibung; bzw. die Paragraphen [0029] und [0030] der veröffentlichten Anmeldung). Die Referenzelektrode dient dabei erkennbar dem Zweck, die Spannungsquelle an die sich in dem genannten Elektrolyten befindenden Zellen zu koppeln. Wie jedoch eine Stimulationselektronik im Falle eines Implantates über das Vorsehen einer Spannungsquelle hinaus auszubilden wäre, ist in den Anmeldungsunterlagen nicht offenbart. Eine Spannungsquelle mit den Elektroden der Mikroelektroden-Anordnung zu verbinden ist, wie vorstehend dargelegt, jedoch bereits aus Dokument D1 bekannt.

3.2.4 Aus den angeführten Gründen erfüllt der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht das Erfordernis der Neuheit im Sinne der Artikel 54(1) und (2) EPÜ 1973.

3.3 Chirurgisches Verfahren (Artikel 53 c) EPÜ; Artikel 52(4) EPÜ 1973)

Schließlich möchte die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin, die beanspruchte Verwendung einer Mikroelektroden-Anordnung zur Herstellung eines Implantats falle nicht unter den Ausschlusstatbestand des Artikels 52(4) EPÜ 1973 nicht unkommentiert lassen.

Wie sich aus der Beschreibung der Anmeldung ergibt (vgl. z.B. den die Seiten 6 und 7 überbrückenden Absatz der ursprünglich eingereichten Beschreibung; bzw. Paragraph [0018] der veröffentlichten Anmeldung), bildet die im Anspruch 1 des Hauptantrags definierte Mikroelektroden-Anordnung selbst bereits das Implantat. Dies bedeutet aber, dass das herzustellende Implantat aus der Mikroelektroden-Anordnung gerade erst durch den Vorgang der Implantation entsteht. Mit anderen Worten : ohne den Verfahrensschritt der Implantation wird aus der Mikroelektroden-Anordnung kein Implantat. Nun wird aber mit dem vorliegenden Anspruch 1 nicht etwa Schutz begehrt für die Herstellung einer (nicht-implantierten) Mikroelektroden-Anordnung, sondern ausdrücklich für die Herstellung eines Implantats unter Verwendung der Mikroelektroden-Anordnung. Dieser Umstand rechtfertigt damit die Schlussfolgerung, dass unter den Anspruchswortlaut ein Verfahren fällt, welches den Schritt der Implantation der Mikroelektroden-Anordnung in den Körper eines Patienten umfasst. Damit betrifft der Anspruch 1 aber ein vom Ausschlusstatbestand des Artikels 53c) EPÜ (Artikel 52(4) EPÜ 1973) umfasstes Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers.

Indem sie die Verwendung einer Vorrichtung (hier : Mikroelektroden-Anordnung) zur Herstellung eines für medizinische Zwecke eingesetzten Gerätes (hier : Implantat) beansprucht, wobei die Herstellung notwendig chirurgische Handlungen umfasst, leidet die gewählte Anspruchsfassung gerade an dem Mangel, dessen Vermeidung der Zweck der Schweizer Anspruchsfassung für Stoffe oder Stoffgemische ist (vgl. hierzu auch T 775/97).

3.4 Aus den vorstehend dargelegten Gründen ist der Hauptantrag nicht gewährbar.

4. Hilfsanträge 1 und 2

Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 bezieht sich auf ein Retina-Implantat mit einer Mikroelektroden-Anordnung, deren Definition identisch zu derjenigen im Anspruch 1 des Hauptantrags ist.

Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 beansprucht darüber hinaus das Retina-Implantat in Kombination mit einer Stimulationselektronik, jedoch ohne über die Definition der Mikroelektroden-Anordnung in den Ansprüchen 1 des Hauptantrags und Hilfsantrags 1 hinausgehende, zusätzliche Merkmale zu definieren.

Da Dokument D1 bereits ein Retina-Implantat mit einer baugleichen Mikroelektroden-Anordnung und in Verbindung mit einer Stimulationselektronik zeigt, fehlt den Gegenständen der Ansprüche 1 der Hilfsanträge 1 und 2 aus den vorstehend zum Hauptantrag gegebenen Gründen die Neuheit (Artikel 54(1) und (2) EPÜ 1973).

Die Hilfsanträge 1 und 2 sind daher ebenfalls nicht gewährbar.

5. Rückerstattung der Beschwerdegebühr

5.1 Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird in Regel 67 EPÜ 1973 bzw. Regel 103 des revidierten EPÜ geregelt. Welche dieser Bestimmungen auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, ergibt sich aus den Übergangsbestimmungen gemäß Artikel 2 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 zur Änderung der Ausführungsordnung zum EPÜ (EPA ABl., Sonderausgabe Nr. 1/2007, S. 89). Danach ist die Ausführungsordnung zum EPÜ 2000 auf alle dem EPÜ 2000 unterliegenden europäischen Patentanmeldungen, europäischen Patente, Entscheidungen von Organen des Europäischen Patentamts und internationalen Anmeldungen anzuwenden. Damit kann nur gemeint sein, dass eine Regel der Ausführungsordnung zum EPÜ 2000 dann anzuwenden ist, wenn, bzw. soweit der der Regel zugeordnete Artikel des EPÜ 2000, den diese Regel näher bestimmt, auf die zu behandelnde Anmeldung anwendbar ist (J 10/07, Ziff. 1.3). In der genannten Entscheidung wird in Ziff. 7 die Ansicht vertreten, Regel 67 EPÜ 1973 und Regel 103 des revidierten EPÜ seien beide den Artikeln 109 und 111 EPÜ zugeordnet, die bis auf redaktionelle Änderungen unverändert geblieben sind. Aus Artikel 1 Nr. 1 Satz 1 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (EPA ABl., Sonderausgabe Nr. 1/2007, S. 197) folge, dass die Artikel 109 und 111 EPÜ auf die bei ihrem Inkrafttreten anhängigen europäischen Patentanmeldungen nicht anzuwenden seien, was entsprechend auch für die Regel 103 EPÜ gelte. Die Kammer schließt sich dieser Meinung der juristischen Beschwerdekammer an. Demzufolge wird die Frage der Rückerstattung der Beschwerdegebühr auf der Grundlage der Regel 67 EPÜ 1973 entschieden.

5.2 Nach Regel 67 EPÜ 1973 wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn "der Beschwerde abgeholfen oder ihr durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht".

Keine dieser Voraussetzungen liegt im vorliegenden Fall vor.

So kann der Beschwerde nicht stattgegeben werden, da keiner der Sachanträge der Beschwerdeführerin als gewährbar befunden wurde.

Darüber hinaus sieht die Kammer keinen Anhaltspunkt für den von der Beschwerdeführerin angedeuteten Vorwurf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung stützt sich ausweislich des Protokolls der vor ihr geführten mündlichen Verhandlung auf Gründe (Artikel 84 und 54 EPÜ), zu denen die Beschwerdeführerin in der Verhandlung gehört wurde und zu denen sie Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. Dass dabei die Prüfungsabteilung insbesondere die photosensitiven Elemente des Dokuments D1 als "Schalter" im Sinne der vorliegenden Anmeldung ansah, konnte die Beschwerdeführerin aufgrund des explizit erhobenen Einwandes der fehlenden Neuheit nicht überraschen.

5.3 Dem Antrag auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr kann daher nicht stattgegeben werden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden :

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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