T 0097/04 () of 13.12.2005

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2005:T009704.20051213
Datum der Entscheidung: 13 Dezember 2005
Aktenzeichen: T 0097/04
Anmeldenummer: 97922799.8
IPC-Klasse: G01N 21/89
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Beurteilung der Auswirkungen von Garnfehlern auf textile Flächengebilde
Name des Anmelders: Uster Technologies AG
Name des Einsprechenden: Saurer GmbH & Co. KG
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 52(1)
European Patent Convention 1973 Art 52(2)(c)
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 100(a)
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(2)
Schlagwörter: Neuer Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren - nicht zugelassen
Geänderte Ansprüche - zugelassen
Verspätet vorgebrachte Entgegehaltung - zugelassen
Zurückverweisung an die erste Instanz (ja) - neue Sachlage
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
G 0010/91
G 0001/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) richtet ihre Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchs abteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 0 904 532 (Anmeldenummer 97 922 799.8, internationale Veröffentlichungsnummer WO 97/47959) zurückzuweisen.

Mit dem Einspruch der Beschwerdeführerin war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung angegriffen worden, dass sein Gegenstand weder neu sei noch auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 52 (1), 54 und 56 EPÜ). Zur Stützung der Einwände wurden die folgenden Druckschriften herangezogen:

D1 : EP-A-0715165 und

D2 : EP-A-0578975.

II. In der angefochtenen Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass der Gegenstand des Streitpatents gegenüber den Druckschriften D1 und D2 sowohl neu (Artikel 52 (1) und 54 EPÜ) als auch erfinderisch (Artikel 52 (1) und 56 EPÜ) sei.

III. Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin ihre Einwände mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit aufrechterhalten und gegenüber dem Streitpatent noch Einwände unter den Artikeln 52 (2) c) und (3) EPÜ erhoben.

IV. Am 13. Dezember 2005 wurde gemäß den entsprechenden Anträgen der Parteien mündlich verhandelt.

Während der mündlichen Verhandlung legte die Beschwerdeführerin folgende neue Druckschrift vor:

D3: WO-A-9513519

und beantragte, die Druckschrift D3 in das Verfahren einzuführen, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent im vollen Umfang zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) stimmte der Einführung der auf Artikel 52 (2) c) EPÜ gestützten Einwände der Beschwerdeführerin in das Beschwerdeverfahren nicht zu und beantragte, die von der Beschwerdeführerin verspätet eingereichte Druckschrift D3 nicht zu berücksichtigen. Weiterhin beantragte sie, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent mit den in der mündlichen Verhandlung als Hauptantrag eingereichten Patentansprüchen 1 bis 8 aufrechtzuerhalten bzw. die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

V. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:

"Verfahren zur Beurteilung der Auswirkung von Garnfehlern auf textile Flächengebilde, durch Simulation eines Bildes des Flächengebildes ausgehend von einem vorgegebenen Garn, wobei ein erstes Bild (51) des Flächengebildes durch eine Simulation ausgehend von Parametern des vorgegebenen Garnes erzeugt wird, dadurch gekennzeichnet dass ein zweites Bild (52) des Flächengebildes durch eine Simulation ausgehend von Parametern eines Referenzgarnes erzeugt wird, dass die Parameter des Referenzgarnes durch Berechnung aus statistisch ermittelten Werten ermittelt werden und dass ein Vergleich des ersten Bildes mit dem zweiten Bild durchgeführt wird."

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 8 richten sich auf bevorzugte Ausführungsformen des Verfahrens nach dem Anspruch 1.

VI. Die Beschwerdeführerin stützte ihre Anträge auf folgende Argumente:

Die Lösung der Aufgabe des Streitpatents ist in überwiegendem Masse von der menschlichen Geistesleistung abhängig und es handelt sich bei dem Gegenstand des Patents um Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten im Sinne von Artikel 52 (2) c) EPÜ. Daher geht es bei der Erfindung nicht um eine technische Erfindung und alleine aus diesem Grund ist das Patent zu widerrufen.

Das in der Druckschrift D2 beschriebene Verfahren zur Simulation eines Bildes eines Flächengebildes ausgehend von den Garnwerten eines zu prüfenden Garnes ermöglicht die Beurteilung der Auswirkung von Garnfehlern auf textile Flächengebilde durch Vergleich des simulierten Bildes mit bekannten Bildern, insbesondere mit simulierten Bildern von Flächengebilden, die bei vorangegangenen Beurteilungen von Garnen zwangsläufig entstanden sind und die während des Vergleichs als Referenz-Flächengebilde zu betrachten sind. Außerdem ist die elektronische Darstellung von Garnschautafeln ausgehend von einem zu prüfenden Garn sowie die Verwendung von Parametern eines Standard-Garnes zur Beurteilung der Qualität des zu prüfenden Garnes aus der Druckschrift D3 bekannt (Seite 1, Zeilen 8 bis 11, Seite 4, Zeilen 17 bis 25, Seite 6, Zeilen 15 bis 21 und Seite 12, Zeilen 8 bis 13). Damit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nahe gelegt. Die Druckschrift D3 ist daher hoch relevant und bei der Beurteilung der Patentierbarkeit des Hauptantrags zu berücksichtigen.

VII. Die Beschwerdegegnerin hat im wesentlichen folgendes vorgetragen:

Die gezielte Simulation eines Referenz-Flächengebildes ausgehend von Parametern eines ausgewählten Referenzgarnes zwecks Vergleich mit dem simulierten Flächengebilde ausgehend von Parametern eines zu prüfenden Garnes sowie die Ermittlung der Parameter des Referenzgarnes durch Berechnung aus statistisch ermittelten Werten werden in keiner der Druckschriften beschrieben oder angedeutet. Insbesondere offenbart die Druckschrift D2 weder den Vergleich von simulierten Flächengebilden noch die Verwendung von Referenz-Flächengebilden bzw. von Referenzgarnen.

Die Druckschrift D3 offenbart keinen Vergleich von simulierten Flächengebilden im Sinne des Patents und auch keine Berechnung von Parametern eines Referenz garnes mit Hilfe von statistisch ermittelten Werten. Außerdem wurde die Druckschrift erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegt, sodass eine vollständige Stellungnahme zu ihrem Inhalt nicht möglich war. Die Druckschrift sollte daher nicht berücksichtigt werden.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Neuer Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) EPÜ

Mit der Beschwerdebegründung würde von der Beschwerde führerin erstmals vorgebracht, dass es sich bei dem Gegenstand des Streitpatents um Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten im Sinne von Artikel 52 (2) c) EPÜ handele, so dass es bei der Erfindung nicht um eine technische Erfindung gehe und alleine aus diesem Grund das Patent zu widerrufen sei.

Der erhobene Einwand ist seinem Wesen nach ein Einwand nach Artikel 52 (2) c) und (3) EPÜ. Da Artikeln 52 bis 57 EPÜ unterschiedliche Rechtsgrundlagen innerhalb des Artikels 100 a) EPÜ bilden und damit verschiedene Einspruchsgründe darstellen (G 1/95 ABl. EPA 1996, 615, Nr. 4.4 und 4.6 der Entscheidungsgründe), begründet der erhobene Einwand einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikeln 52 (2) c) und (3) EPÜ, der vorher weder in der Einspruchsschrift geltend gemacht noch von der Einspruchsabteilung in das Verfahren eingeführt worden ist. Daher ist dieser begründete Einspruchsgrund ein neuer Einspruchsgrund (G 1/95 supra, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe), welcher nach Maßgabe der Entscheidung G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) und der Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) nur mit Zustimmung der Patentinhaberin in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden kann.

Während der mündlichen Verhandlung verweigerte die Patentinhaberin ausdrücklich die notwendige Zustimmung zur Geltendmachung des neuen Einspruchsgrundes. Der neue Einspruchsgrund unter Artikel100 a) EPÜ kann daher nicht zugelassen werden und die Kammer darf die von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwände unter Artikel 52 (2) c) und (3) EPÜ nicht weiter berücksichtigen.

3. Geänderte Ansprüche - Hauptantrag der Beschwerdegegnerin

Der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unterscheidet sich von dem Anspruch 1 in der erteilten Fassung dadurch, dass die Definition des Referenzgarnes durch Aufnahme des Merkmals des erteilten abhängigen Anspruchs 3 präzisiert wurde. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 8 entsprechen inhaltlich jeweils den abhängigen Ansprüchen 2 und 5 bis 10 des erteilten Patents bzw. der Patentanmeldung in der veröffentlichten Fassung. Die Änderungen erfüllen damit die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ.

Der geänderte Anspruchssatz gemäß Hauptantrag wurde von der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung eingereicht, nachdem die Frage der Patentierbarkeit nach Artikeln 52 (1), 54 und 56 EPÜ des Gegenstandes des erteilten Patentanspruchs 1 gegenüber dem genannten Stand der Technik - insbesondere Dokument D2 - erörtert worden war. Insbesondere wurde die eingeschränkte Fassung des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag auf die Frage hin vorgelegt, ob und inwieweit dem Merkmal "Referenzgarn" an sich eine klare und einschränkende Bedeutung zugeschrieben werden könnte.

Bei dieser Sachlage sind die Änderungen gemäß Hauptantrag nicht nur nach Regel 57a EPÜ zulässig, sondern können auch als sachdienlich und sogar notwendig betrachtet werden, da sie Argumenten Rechnung tragen, die von der Beschwerdeführerin vorher schriftlich vorgebracht und während der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten und weiter vertieft worden sind. Daher wurde der während der mündlichen Verhandlung eingerichtete geänderte Anspruchssatz gemäß Hauptantrag von der Kammer - in Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens und ohne Beanstandungen seitens der Beschwerdeführerin - in das Verfahren zugelassen.

4. Druckschrift D3

Die Druckschrift D3 wurde erst am Anfang der mündlichen Verhandlung von der Beschwerdeführerin vorgelegt. Die Druckschrift offenbart die Beurteilung der Qualität eines Garnes durch die elektronische Darstellung von nebeneinander angeordneten Merkmalen von Garnabschnitten des zu prüfenden Garnes (Seite 1, Zeilen 8 bis 11, Seite 4, Zeilen 17 bis 25 und Seite 6, Zeilen 15 bis 21).

Nach der Erörterung der möglichen Relevanz des Inhalts der verspätet eingereichten Druckschrift zur Patentierbarkeit des Gegenstands des erteilten Patentanspruchs 1, konnte die Kammer die Einführung der Druckschrift in das Verfahren wegen ihrer verspäteten Vorlage und im Rahmen des der Kammer zukommenden Ermessensspielraumes (Artikel 114 (2) EPÜ) nicht zulassen, da ihr Inhalt - so weit es um die Patentierbarkeit des Gegenstandes des erteilten Anspruchs 1 ging - nicht aufschlussreicher als der des bereits angeführten Standes der Technik erschien. Insbesondere erscheint die Druckschrift D3 - was der erteilte Anspruch 1 anbelangt - der Kammer nicht relevanter als die Druckschrift D2 zu sein. Denn dieses Dokument offenbart bereits ein Verfahren zur Beurteilung der Auswirkung von Garnfehlern auf textile Flächengebilde durch Simulation eines Bildes des Flächengebildes ausgehend von einem vorgegebenen Garn (Seite 2, Zeilen 1 bis 26), bei dem es - wie von der Beschwerdeführerin bereits während des schriftlichen Verfahren vorgetragen und während der mündlichen Verhandlung weiter argumentiert - bei der Beurteilung von verbesserten bzw. weiterentwickelten Garnen auf der Hand liegt, das erneut simulierte Bild des Flächen gebildes mit simulierten, bei vorangegangenen Beurteilungen entstandenen Bildern zu vergleichen. Diese Bilder sind als Referenz-Bilder zu betrachten und damit als simulierte Flächengebilde, die ausgehend von Parametern eines früher beurteilten, als Referenzgarn zu betrachtenden Garnes erzeugt wurden.

Als die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung den erteilten Patentanspruch 1 durch Aufnahme des Merkmals des abhängigen Patentanspruchs 3 geändert hat, hat die Beschwerdeführerin die Zulassung der Druckschrift in das Verfahren erneut beantragt. Zur Stützung dieses Antrags machte sie geltend, dass das in den geänderten Anspruchs 1 aufgenommene Merkmal, wonach die Parameter des Referenzgarnes durch Berechnung aus statistisch ermittelten Werten ermittelt werden, durch die Druckschrift D3 vorweggenommen sei (Seite 12, Zeilen 8 bis 13), sodass die Druckschrift D3 zur Patentierbarkeit des Gegenstandes des geänderten Anspruchs 1 relevant sei.

Bei der erstmaligen Änderung des Gegenstandes des erteilten Anspruchs 1 während der mündlichen Verhandlung lag nach Auffassung der Kammer eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts vor, durch die sich die Frage der Zulassung der verspätet vorgelegten Druckschrift D3 in einem anderen Licht darstellte. Deshalb sah sich die Kammer veranlasst, unter Berücksichtigung des in den Anspruch 1 aufgenommenen Merkmals die mögliche Relevanz des Inhalts der Druckschrift D3 noch einmal zu überprüfen.

Während die Druckschriften D1 und D2 keinerlei Hinweise auf die Ermittlung der Parameter eines Referenzgarnes durch Berechnung aus statistisch ermittelten Werten gibt, verweist der von der Beschwerdeführerin zitierte Absatz der Druckschrift D3 (Seite 12, Zeilen 8 bis 13) auf die Speicherung von Parametern von Norm-Garnen ("fault values for standard yarns") zwecks Automatisierung des Vergleichsverfahrens. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Druckschrift D3 in Kombination mit dem bereits im Verfahren befindlichen Stand der Technik die Patentierbarkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag in Frage stellen könnte. Daher hat die Druckschrift D3 eine erhebliche Relevanz für die Beurteilung des Patentierbarkeit des geänderten Anspruchs 1. Sie ist deshalb zu berücksichtigen, um die Patentierbarkeit des geänderten Anspruchs 1 vollständig beurteilen zu können.

Somit konnte dem Antrag der Beschwerdegegnerin, die Druckschrift D3 als verspätet vorgebracht nicht zu berücksichtigen, in Anbetracht des geänderten Anspruchs 1 nicht mehr entsprochen werden, mit der Folge, dass die Einführung der verspätet vorgelegten Druckschrift D3 in das Verfahren zuzulassen war (Artikel 114 (2) EPÜ).

5. Zurückverweisung an die erste Instanz

Angesichts der im Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen und der möglichen Relevanz der verspätet eingereichten Entgegenhaltung D3 zur Patentierbarkeit des Gegenstandes des geänderten Anspruchs 1 ist es vorliegendenfalls angezeigt, den Beteiligten die Möglichkeit zu gewähren, den neuen Sachverhalt vor zwei Instanzen zu erörtern. Die Kammer macht daher von dem ihr in Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumten Ermessen Gebrauch, die Angelegenheit - wie von der Beschwerdegegnerin hilfsweise beantragt - zur weiteren Prüfung und Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage des Hauptantrags, überreicht in der mündlichen Verhandlung, an die erste Instanz zurückverwiesen.

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