European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2005:T118803.20050928 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 28 September 2005 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1188/03 | ||||||||
Anmeldenummer: | 00941991.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | C22C 38/38 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Nickelarmer austenitischer Stahl | ||||||||
Name des Anmelders: | BASF AKTIENGESELLSCHAFT | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.2.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Rechtliches Gehör (nein) Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja) Zurückverweisung an die 1. Instanz |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Patentanmelderin) hat gegen die am 14. Juli 2003 zur Post gegebenen Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der Anmeldung Nr. 00 941 991.2 am 23. September 2003 Beschwerde eingelegt und am selben Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 24. November 2003 eingegangen.
II. Die Prüfungsabteilung begründete ihre Entscheidung damit, daß der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1, 3, 5, und 8 bis 12 gegenüber der Lehre von Druckschrift
D1: JP-A-61227154 (Zusammenfassung und Original)
in Verbindung mit der Lehre von Druckschrift
D2: US-A-4 116 683
nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhten.
Einerseits löse die in Anspruch 1 beanspruchte Stahllegierung keine erkennbare einheitliche Aufgabe. Andererseits stelle das einzige gegenüber D1 unterscheidende Merkmal, der höhere Stickstoffgehalt, ein unwesentliches Merkmal dar, das, ausgehend von der Lehre von Druckschrift D1, unter Zuhilfenahme der Lehre von D2 nahe gelegt werde. Es sei nämlich bekannt, daß durch erhöhte Stickstoffgehalte bei den zur Diskussion stehenden Stählen die Festigkeit und Korrosionsbeständigkeit verbessert würden.
Der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 3, 5, 8 bis 12 ergebe sich aus dem allgemeinen Fachwissen, belegt durch die Druckschriften
D3: R. M. German: Powder Injection Molding, Metal Powder Industries Federation, 1990, ISBN: 0-918404-95-9, Seiten 3, 86 bis 89 und
D4: Stahlschlüssel, Verlag Stahlschlüssel Wegst GmbH, ISBN: 3-922599-04-4, 1986, Seiten 358, 359
in naheliegender Weise.
III. In ihrer Beschwerde beantragte die Patentanmelderin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents mit den der Zurückweisungsentscheidung zugrunde liegenden Ansprüchen 1 bis 12.
Hilfsweise wurde die Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens beantragt. Sollte die Kammer keinem dieser Anträge stattgeben können, so wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
Weiterhin wurde die Rückzahlung der Beschwerdegebühr beantragt.
IV. In ihrer Beschwerdebegründung trug die Anmelderin die folgenden Argumente vor:
Entgegen der Ansicht der Prüfungsabteilung sei die Aufgabe der Erfindung in der Beschreibung, Seiten 4, 5 und 8, deutlich beschrieben. Diese bestehe in der Bereitstellung einer austenitischen Stahllegierung, die aufgrund ihres niedrigen Anteils an Legierungselementen wie Mo, Mn, Cu und auch Ni besonders kostengünstig herstellbar sei und trotzdem ausgezeichnete Werkstoffeigenschaften wie eine hohe Korrosionsbeständigkeit aufwiese.
Die beanspruchte Stahllegierung lasse sich weder aus der Lehre von Druckschrift D1 noch aus der von Druckschrift D2 herleiten. Im Falle von Druckschrift D1 als nächstliegendem Stand müsse der Fachmann, ausgehend von der dort genannten Legierung Nr. 4, den Stickstoffgehalt erhöhen, um zur beanspruchten Stahllegierung zu gelangen. Aus Druckschrift D1 erhalte er jedoch keinerlei Hinweise für eine solche Maßnahme. Der in Druckschrift D2 genannte Bereich für Stickstoff überlappe zwar den beanspruchten Stickstoffbereich, jedoch seien die Kohlenstoffgehalte des in D2 genannten Stahls auf maximal 0.085%C begrenzt und lägen damit deutlich unterhalb des C-Bereichs der anmeldungsgemäßen Stahllegierung. Unter Anwendung des "could-would- approach" könne somit weder die Lehre von Druckschrift D1 oder D2 allein noch die Kombination der Lehren beider Druckschriften zum Gegenstand von Anspruch 1 führen.
Im Übrigen seien die Druckschriften D3 und D4 und die darauf aufbauenden und unzutreffenden Schlussfolgerungen der Prüfungsabteilung hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes der Ansprüche 3, 5 und 8 bis 12 erstmals in der Zurückweisungsentscheidung vorgebracht worden. Der Patentanmelderin sei eine Gelegenheit verwehrt geblieben, sich dazu zu äußeren. Dies bedeute eine Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör und rechtfertigte allein bereits die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und auch die beantragte Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
V. Die unabhängigen Ansprüche 1, 3, 5, 8 bis 12 lauten wie folgt:
"1. Nickelarmer austenitischer Stahl, der aus Eisen, unvermeidbaren Verunreinigungen und folgenden Bestandteilen besteht:
Mangan: weniger als 17,0 Gew.-%;
Chrom: mehr als 21,0 und höchstens 26,0 Gew.-%;
Molybdän: weniger als 1,50 Gew.-%;
Nickel: weniger als 2 Gew.-%;
Stickstoff: mehr als 0,70 und höchstens 1,70 Gew.-%;
Kohlenstoff: mehr als 0,11 und höchstens 0,70 Gew.-%;
Kupfer: weniger als 4 Gew.-%;
Wolfram: weniger als 2 Gew.-%;
Silicium: weniger als 2 Gew.-%."
"3. Pulverspritzgussmasse, enthaltend den in Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahl, einen stickstofffreien oder stickstoffärmeren Vorläufer dieses Stahls oder eine Mischung der Bestandteile des Stahls oder seines Vorläufers, in Pulverform, und einen thermoplastischen Binder."
"5. Verfahren zur Herstellung von Formkörpern aus dem in den Ansprüchen 1 und 2 bestehenden Stahl, umfassend die Verfahrensschritte Spritzguss der in den Ansprüchen 4 oder 5 definierten Spritzgussmasse, Entbinderung und Sinterung."
"8. Verwendung des in den Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahls als Werkstoff für Gegenstände, die zumindest gelegentlich mit dem menschlichen oder tierischen Körper in Kontakt stehen."
"9. Verwendung des in den Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahls im Hoch- und Tiefbau."
"10. Verwendung des in den Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahls zur Herstellung von technischen Apparaten."
"11. Verwendung des in den Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahls als Werkstoff in der Verkehrstechnik."
"12. Verwendung des in den Ansprüchen 1 oder 2 definierten Stahls als Werkstoff im Maschinen- und Anlagenbau."
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes von Anspruch 1
Die Prüfungsabteilung geht in ihrer Entscheidung, Punkt 5, von der in Druckschrift D1, Tabelle 1 genannten Zusammensetzung "Stahl 4" als nächstliegendem Stand der Technik aus (siehe Entscheidung insbesondere Punkt 5.2). Gegenüber dieser Stahllegierung wäre nur noch der Stickstoffgehalt zu erhöhen, dessen unterer Grenzwert von mehr als 0.70% N jedoch im Hinblick auf den Gegenstand von Anspruch 3 als unwesentliches Merkmal gewertet wurde.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob Druckschrift D1 tatsächlich den nächstkommenden Stand der Technik bildet. Dazu ist die in der Anmeldung genannte Aufgabe zu beachten: Dort werden als Ziele genannt, eine hoch korrosionsbeständige Stahllegierung zu erzeugen, die möglichst wenig Mn, Mo und Cu enthält. Durch seinen niedrigen Anteil an solchen, relativ teueren Legierungselementen soll dieser Stahl einerseits sehr preiswert und andererseits dennoch den Anforderungen an Festigkeit und Korrosionswiderstand entsprechen und somit vielseitig einsetzbar und sich u.a. im Pulverspritzgussverfahren verarbeiten lassen (siehe Anmeldung Seite 4, Zeile 43 bis Seite 5, Zeile 2, Seite 16, Zeile 41 bis 45).
Die in Druckschrift D1 vorgeschlagene Stahllegierung enthält neben 8 bis 25% Mn, 12 bis 30% Cr und 0.005 bis 0.7% N zusätzlich noch 0.3 bis 2.5% Nb als Zwangskomponente. Mit dieser Zusammensetzung wird nach der Lehre von Druckschrift D1 eine hochfeste und hochkorrosionsbeständige Stahllegierung für den Einsatz bei Temperaturen von 700°C erreicht. Das Legierungselement Niob ist bei der beanspruchten Legierung jedoch ausgeschlossen. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Überlegungen heraus der Fachmann zur Lösung der oben genannten Aufgabe von dieser in D1 genannten Stahllegierung ausgehen sollte, um dann ein wesentliches Legierungselement, d.h. die Anteile an Nb, vollständig einzusparen. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum er sich der außerhalb der Lehre von D1 liegenden Vergleichslegierung 4 zuzuwenden würde, die zwar kein Nb, dafür aber relativ niedrige Stickstoffgehalte enthält, und den Stickstoffgehalt dieser Vergleichslegierung über den in D1 genannten Höchstwert von 0.70% N anzuheben würde. Ohne entscheidenden Hinweis würde der Fachmann eine erprobte Stahlzusammensetzung nicht ändern, denn es ist dem Metallurgen im Allgemeinen klar, daß durch solch signifikante Änderungen der Zusammensetzung die ausbalancierte Gesamtheit der Eigenschaften des Werkstoffs völlig verändert wird. Nach Ansicht der Kammer kann somit die Lehre von Druckschrift D1 weder den nächstkommenden Stand der Technik bilden noch irgendwelche verwertbaren Ansätze bieten, die zielgerichtet zur Lösung der gestellten Aufgabe führen könnten.
Druckschrift D2 betrifft einen korrosionsbeständigen, nickelfreien Stahl mit erhöhten Anteilen an Stickstoff, der keine Anteile an Nb enthält. Jedoch ist dabei der Kohlenstoffgehalt auf höchstens 0.08% C beschränkt, um nach der Wärmebehandlung die in Spalte 1, Zeilen 56 bis 68 genannten mechanischen und antikorrosiven Eigenschaften zu erreichen. Um zur beanspruchten Stahllegierung zu gelangen müsste der Fachmann - entgegen der Lehre von Druckschrift D2 - den Kohlenstoffanteil auf Werte über den maximal zulässigen Wert von 0.08% bis auf 0.11% C erhöhen. Die als Beispiele genannten Stähle I bis III weisen jedoch eher in die entgegen gesetzte Richtung: die C-Gehalte liegen bei 0.04%, 0.08% und 0.06%. Es gilt auch zu beachten, daß die Chromgehalte bei 20.3% (D2, Stähle I, III), 18.06% (D2, Stahl II) liegen. Dagegen muss die beanspruchte Legierung mehr als 21.0% Cr enthalten. Weiterhin liegen die Stickstoffgehalte des bekannten Stahls bei 0.604% N und 0.59% N (D2, Stahl I und II), d.h. außerhalb des beanspruchten Bereichs von 0.70 bis 1.70% N. Der Fachmann hätte sich bei der Nacharbeitung der Lehre von Druckschrift D2 somit eher solchen Stählen mit Kohlenstoffgehalten unterhalb von 0.08%, mit Chromgehalten von weniger als 21% und auch mit Stickstoffgehalten von weniger als 0.9% N zugewandt. Klare Hinweise, die ihn zu der beanspruchten Legierungszusammensetzung hätten führen können, sind jedoch nicht erkennbar.
Somit kann auch die Zusammenschau der Lehren der Druckschriften D1 und D2 nicht zur beanspruchten Stahllegierung führen.
3. Entsprechend den Ausführungen der Prüfungsabteilung unter Punkt 6 der Entscheidung spiegelt der Gegenstand der Ansprüche 3 und 5 allein das fachmännische Handeln des Metallurgen wider. So sei es üblich, z. B. austenitische rostfreie Stähle wie AISI 316L in Pulverform mit einem thermoplastischen Binder im Pulverspritzgussverfahren zu verarbeiten. Dazu wird auf Druckschrift D3 verwiesen. Der anmeldungsgemäß verwendete Stahl entspreche im Übrigen der bekannten Normlegierung AISI 446, deren Zusammensetzung Druckschrift D4 zeige. Die Ansprüche 3 und 5 enthielten somit nichts Erfinderisches.
Auch die unabhängigen Verwendungsansprüche 8 bis 12 ließen nichts Spezifisches erkennen.
4. Die Druckschriften D3 und D4, die erstmals in der Zurückweisungsentscheidung genannten wurden und die der internationale Recherchenbericht nicht enthält, sind nach Ansicht der Prüfungsabteilung als Beleg des allgemeinen fachmännischen Wissens herangezogen worden.
Die Kammer stellt nicht in Abrede, daß die pulvermetallurgische Verarbeitung rostfreier Stähle dem Fachmann geläufig und bekannt ist. Die Kammer bestreitet auch nicht die Möglichkeit, zur Bestätigung einer solchen Aussage oder Behauptung, die das allgemeine fachmännische Wissen betrifft, auf ein Lehrbuch (wie D3) oder ein Standard-Tabellenwerk (wie D4) hinweisen zu können. Im vorliegenden Fall ist jedoch, ausgehend von der Lehre von Druckschrift D3, die in ihrer Aussage sehr speziell ist und erstmals in der Zurückweisungsentscheidung genannt ist, zusammen mit der Lehre von D4 (die ebenfalls erstmals in der Entscheidung genannt wurde), eine neue Argumentationsline zur Begründung der mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands der Ansprüche 3 und 5 vorgebracht worden, die der Anmelderin nicht bekannt war. Die Prüfungsabteilung läßt in ihrer Zurückweisungsentscheidung erkennen, daß sie sich wesentlich auch auf die in diesen Druckschriften enthaltenen Tatsachen und die rechtlichen Gründe tragenden Überlegungen, welche - neben den bereits zu Anspruch 1 vorgebrachten Gründen - zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung eines Patents geführt haben, stützt. Zu diesem, neu vorgebrachten Sachverhalt wurde der Anmelderin von der Prüfungsabteilung allerdings keine Gelegenheit eingeräumt, sich zu äußern und auf die vorgebrachten Beanstandungen, z.B. durch die Vorlage geänderter Ansprüche, zu reagieren. Dies muss als Verstoß gegen die allgemeinen Vorschriften für das Verfahren nach Artikel 113 (1) EPÜ gewertet werden. Da der Beschwerde der Anmelderin stattgegeben wird, ist die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 67 EPÜ gerechtfertigt.
5. Die obigen Feststellungen zur Frage der erfinderischen Tätigkeit führen zu dem Schluss, daß die vorliegende Anmeldung noch eine weitere grundlegende Prüfung im Hinblick auf Artikel 52 in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ erfordert. Dies sollte durch die Prüfungsabteilung geschehen. Unter diesen Umständen macht die Kammer von der Befugnis gemäß Artikel 111 (1) Gebrauch, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
Die Kammer entspricht dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Antrag.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.