T 0101/03 () of 1.12.2004

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2004:T010103.20041201
Datum der Entscheidung: 01 Dezember 2004
Aktenzeichen: T 0101/03
Anmeldenummer: 94109358.5
IPC-Klasse: D01G 19/28
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Steuerungseinrichtung zum gesteuerten Ausblasen eines Nadelstreifens
Name des Anmelders: Maschinenfabrik Rieter AG
Name des Einsprechenden: Staedtler & Uhl Nadelsysteme
Fratelli Marzoli & C. S.p.A.
Kammer: 3.2.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 110
European Patent Convention 1973 Art 111
Schlagwörter: Offenkundige Vorbeschreibung - nein
Neuheit - ja
Zurückverweisung an 1. Instanz - ja
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die am 17. Juni 1994 unter Inanspruchnahme einer schweizerischen Priorität vom 6. Juli 1993 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 94 109 358.5 wurde das europäische Patent Nr. 633 333 mit 9 Ansprüchen erteilt. Der unabhängige Anspruch 1 lautet:

"Steuerungseinrichtung zum gesteuerten Ausblasen eines Nadelstreifens, insbesondere eines Fixkammes (6) einer Kämmaschine, mittels einer Ausblasvorrichtung (8, 10, 11, 12, 13), über welche Druckluft zwischen die freien Durchgänge des Nadelstreifens (9) in zeitlichen Abständen geblasen wird und die Ausblasvorrichtung (8, 10, 11, 12, 13) durch die Bewegung der Zange (1) während eines Kammspiels oder einem anderen mit der Zangenbewegung koordiniert angetriebenen Maschinenelement (19) der Kämmaschine ausgelöst wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Bewegung der Zange (1) oder einem anderen mit der Zangenbewegung koordiniert angetriebenen Maschinenelement (19) durch Sensoren (23) abgegriffen wird und die von den Sensoren (23) abgegebenen Signale einem Mikroprozessor (15) zur Ansteuerung der Ausblasvorrichtung (8, 10, 11, 12, 13) übermittelt werden, welcher anhand eines vorgegebenen Programmes und anhand vorgesehener Mittel eine exakte Einstellung des Blasintervalls ermöglicht."

II. Gegen dieses Patent wurden zwei Einsprüche eingelegt, gestützt auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) EPÜ, (Einsprechende 01 und 02) sowie der Artikel 100 b) und c) EPÜ (Einsprechende 02) und der Widerruf des Patents beantragt.

III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent mit ihrer in der mündlichen Verhandlung am 27. September 2002 verkündeten und am 29. November 2002 zur Post gegebenen Entscheidung.

Sie kam zu dem Ergebnis, die Steuerungseinrichtung nach Anspruch 1 sei gegenüber dem Gegenstand einer offenkundigen Vorbeschreibung nicht neu. Der Inhalt eines Informationsaustausches zwischen der freien Mitarbeiterin der Patentinhaberin, Frau Menzi, und dem Mitarbeiter der Einsprechenden 01, Herrn Herbst, am 8./9. März 1993 habe keiner Geheimhaltung unterlegen und sei deshalb Stand der Technik geworden, der das Patent neuheitsschädlich vorwegnehme.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Patentinhaberin am 23. Januar 2003 Beschwerde eingelegt, gleichzeitig die Beschwerdegebühr bezahlt und mit der am 28. März 2003 eingereichten Beschwerdebegründung ihren Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents näher begründet.

V. Die Beschwerdekammer hat in ihrem Bescheid vom 11. Oktober 2004 auch zur behaupteten Vorbeschreibung Stellung genommen. Sie wies darauf hin, daß eine implizite Geheimhaltungsverpflichtung in Betracht komme, sollte das seinerzeitige Gespräch zwischen Frau Menzi und Herrn Herbst nicht unter die zwischen der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin I (Einsprechende 01) schriftlich getroffene Geheimhaltungsvereinbarung vom 2./23. Juli 1992 fallen. Sollte diese Vereinbarung darauf Anwendung finden, dann gelte das auch für deren Ziffer 2, wonach mündliche Informationen darunter fielen, "soweit die Parteien einander auf die Vertraulichkeit hingewiesen haben". Von einem solchen Hinweis sei bisher jedoch nicht die Rede gewesen. Wegen ihrer Bedeutung für die Frage, ob durch den Informationsaustausch Menzi/Herbst relevanter Stand der Technik entstanden sei, werde die Auslegung dieser Bestimmung, welche im gegebenen sachlichen Kontext und unter Heranziehung der dafür anzuwendenden Rechtsgrundsätze zu erfolgen habe, in der Verhandlung mit den Parteien zu erörtern sein.

Falls die Würdigung der gesamten Umstände der behaupteten Vorbeschreibung ergebe, daß die weitergegebene Information Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ geworden sei, würden die Neuheit sowie die erfinderische Tätigkeit zu diskutieren und gegebenenfalls auch die Zurückverweisung an die erste Instanz zu erwägen sein.

VI. Am 1. Dezember 2004 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der nur die Beschwerdeführerin und die Beschwerdegegnerin I (Einsprechende 01) vertreten waren. Die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende 02) war trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Sie hatte ihre Anträge schriftlich eingereicht.

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents im erteilten Umfang, hilfsweise Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Hilfsanträge 1 bis 5, eingereicht am 2. November 2004.

Die Beschwerdegegnerinnen I und II beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.

Beide in der mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien beantragten schließlich die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur Erörterung der Frage der erfinderischen Tätigkeit.

Wegen des Wortlauts der Patentansprüche gemäß den Hilfsanträgen wird auf die Akte verwiesen.

VII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beschwerdeführerin läßt sich wie folgt zusammenfassen:

Die schriftliche Geheimhaltungsvereinbarung vom 2./23. Juli 1992 sei mit der nunmehrigen Beschwerdegegnerin I für eine gemeinsame Versuchsreihe getroffen worden, welche - so auch die Präambel der Vereinbarung - per Dezember 1992 hätte abgeschlossen sein sollen. Infolge der unbefriedigenden Resultate dieser Versuche sei nach deren Abschluß eine neue Entwicklungsphase durch die Parteien gestartet worden, in deren Rahmen in der Spinnerei Uznaberg Versuche mit modifizierten Fixkämmen durchgeführt wurden. Lediglich für die 1992 beabsichtigten Versuche an den pneumatischen Fixkämmen der Beschwerdegegnerin I habe die Beschwerdeführerin die Geheimhaltungsverpflichtung unterschrieben, welche zum Zeitpunkt der Gespräche zwischen Frau Menzi und Herrn Herbst im März 1993 daher nicht mehr anwendbar und somit auch kein Hindernis für eine implizite Geheimhaltungsverpflichtung hinsichtlich der zweiten Versuchsphase gewesen sei.

Der ursprünglich geplante Abschluß einer Geheimhaltungsverpflichtung auch für die neue Entwicklungsphase sei dann unterblieben. Gleichwohl sei die Beschwerdeführerin davon ausgegangen und habe darauf vertrauen können, daß diese weiteren Tests der Vertraulichkeit unterlagen, seien sie doch ebenso wie die Versuche der ersten Phase gemeinsam und im Interesse beider Beteiligten geplant und durchgeführt worden.

Das Gespräch Menzi/Herbst habe keineswegs "im luftleeren Raum" stattgefunden. Beide hätten während der Durchführung der Tests im Namen und für Rechnung der Beschwerdeführerin bzw. der Beschwerdegegnerin I gehandelt. Frau Menzi sei seitens der Beschwerdeführerin für die Durchführung der Versuche in der Spinnerei Uznaberg beauftragt worden, während Herr Herbst der seitens der Beschwerdegegnerin I gestellte Techniker war, dessen Anwesenheit für Einbau und Einstellung ihrer ausblasbaren Fixkämme erforderlich war. Bei dieser Tätigkeit seien sie nicht als Mitglieder der Öffentlichkeit, sondern als Beteiligte an einem gemeinsamen Entwicklungsprojekt zu betrachten, für welche eine allgemeine, auf deren Arbeits- und Auftragsverhältnis sowie dem Vertrauensgrundsatz basierende Geheimhaltungspflicht selbstverständlich gewesen sei. Diese habe für Frau Menzi und Herrn Herbst unabhängig davon gegolten, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht. Somit habe Herr Herbst die von Frau Menzi erhaltenen Informationen nicht an beliebige Dritte weitergeben dürfen.

Im übrigen sei die in der Vereinbarung aus 1992 unter Punkt 2, zweiter Absatz, festgelegte Bedingung eines Vertraulichkeitshinweises bei mündlich erteilten Informationen bei mit der Durchführung des Entwicklungsprojekts eingesetztem Fachpersonal ohnehin konkludent erfüllt gewesen. Für den Erfolg eines solchen Projektes sei es nämlich unabdingbar, daß diese Personen untereinander ein offenes Gespräch pflegen können. Deren Tätigkeit habe auch keine Verhandlungen über die jeweiligen Interessen der Projektpartner zum Gegenstand gehabt, sondern im gleichgerichteten Interesse aller Projektpartner auf einen technischen Erfolg abgezielt. Diesen durch unnötige Formalismen zu gefährden, könne den Projektpartnern/ Vertragsparteien vernünftigerweise nicht unterstellt werden.

Folglich sei die von Frau Menzi an Herrn Herbst erteilte Information über die mögliche Ansteuerung der Ausblasvorrichtung durch die maschineninterne Mikroprozessorsteuerung nicht Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ geworden. Damit erfülle Anspruch 1 (wie erteilt) das Erfordernis der Neuheit und auch das der erfinderischen Tätigkeit.

VIII. Die Beschwerdegegnerin I trug vor, die zwischen ihr und der Beschwerdeführerin im Juli 1992 getroffene Geheimhaltungsvereinbarung sei keineswegs mit Ende dieses Jahres ausgelaufen, sondern, da keine Kündigung erfolgt sei, bis zu dem darin ausdrücklich angegebenen Datum 31. Dezember 1994 in Kraft geblieben. Sinn einer solchen Vereinbarung sei es, klare Verhältnisse zu schaffen, insbesondere klar zu definieren, was geheimhaltungspflichtig sei; sie würde ad absurdum geführt, wenn man gleichwohl von einer lediglich konkludenten Geheimhaltungspflicht ausgehen würde. Dafür lasse eine ausdrücklich und schriftlich getroffene Regelung der Geheimhaltungspflicht keinen Raum. Deshalb müsse sich die Vertraulichkeit von zwischen den Vertragsparteien ausgetauschten Informationen entweder aus der zwischen ihnen schriftlich geschlossenen Vereinbarung ergeben, oder sie bestehe eben nicht.

Das Gespräch am 8./9. März 1993 zwischen Frau Menzi und dem damals nicht mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben betrauten, sondern ausschließlich als Monteur tätigen Herrn Herbst habe außerhalb des Projektes stattgefunden. Die getroffene Geheimhaltungsvereinbarung sei daher nicht anwendbar gewesen. Vielmehr habe es sich um ein freies Gespräch ohne irgendeinen Vertraulichkeitshinweis seitens Frau Menzi gehandelt, das von der schriftlichen Geheimhaltungsvereinbarung nicht umfaßt gewesen sei. Herr Herbst sei während des Gesprächs somit Teil der Öffentlichkeit gewesen.

Wenn die Geheimhaltungsvereinbarung auf dieses Gespräch anwendbar wäre, gelte das auch für das Erfordernis eines Vertraulichkeitshinweises bei mündlich erteilten Informationen. Ein implizit geltendes Vertrauensverhältnis bestehe, wenn schon, dann nur für am Projekt Beteiligte und damit nicht für den ausschließlich als Monteur tätigen Herrn Herbst.

Für den Mangel einer Vertraulichkeit spreche weiterhin, daß die Versuche in Uznaberg nicht hinter verschlossenen Türen durchgeführt worden seien und Mikroprozessorsteuerungen für die Kämmaschinen der Beschwerdeführerin bereits seit 1989 in ihren öffentlich zugänglichen Schulungsunterlagen behandelt worden seien.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Vorbeschreibung

2.1 Ob der Inhalt der seinerzeitigen Gespräche zwischen Frau (damals) Menzi und Herrn Herbst unmittelbar Stand der Technik i. S. des Artikels 54 (2) EPÜ geworden ist, richtet sich danach, ob Herr Herbst die ihm zugegangenen technischen Informationen ohne Bruch einer gegenüber der späteren Beschwerdeführerin bestehenden Geheimhaltungsverpflichtung frei verwenden oder unbeschränkt weitergeben konnte. Da zwischen seiner Arbeitgeberin (Beschwerdegegnerin I) und der Beschwerdeführerin eine ausdrückliche und spezifische Regelung der Geheimhaltung getroffen worden war, nämlich die schriftliche Geheimhaltungsvereinbarung vom 2./23. Juli 1992, ist zunächst zu prüfen, ob diese auf die betreffende Informationsweitergabe nach ihrem behaupteten Zeitpunkt (8./9. März 1993) und Inhalt anwendbar war.

2.2 Beide Parteien verneinten dies, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: die Beschwerdeführerin im wesentlichen deshalb, weil die Vereinbarung nur für die noch im Jahr 1992, allerdings ohne den erwünschten Erfolg, beendete erste Versuchsphase gültig gewesen sei; die Beschwerdegegnerin I mit der Begründung, der Informationsaustausch sei völlig außerhalb des Projekts erfolgt, für welches die im März 1993 als solche noch gültige Geheimhaltungsvereinbarung abgeschlossen war.

2.3 Der Frage, ob eine und ggf. welche der beiden unterschiedlichen Begründungen - die eine auf den Zeitpunkt, die andere auf die Begleitumstände abstellend - nun zutreffend ist, kann und braucht nicht weiter nachgegangen zu werden: Es gibt keinen rechtlichen oder sachlichen Grund für die Kammer, sich über den von beiden Beteiligten im Beschwerdeverfahren übereinstimmend vertretenen Standpunkt hinwegzusetzen. Sie waren die Vertragspartner der Geheimhaltungsvereinbarung und sind sich im Ergebnis darüber einig, daß hinsichtlich der Herrn Herbst als Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin I damals von der für die Beschwerdeführerin tätigen Frau Menzi erteilten Information jedenfalls durch diese Vereinbarung keine Geheimhaltungsverpflichtung begründet wurde.

2.4 Der von der Beschwerdegegnerin I und in der angefochtenen Entscheidung (vgl. Punkt 2.2.12) vertretenen Auffassung, bei einer spezifischen, ausdrücklichen Geheimhaltungsregelung, wie sie hier vorlag, bleibe kein Raum mehr für stillschweigende Vereinbarungen oder Verpflichtungen, die sich nach Treu und Glauben aus den Umständen des Falles ergeben können, vermag die Kammer in dieser Allgemeinheit jedoch nicht zu folgen. Zwar unterliegt die hier in Rede stehende Geheimhaltung im Rahmen von Geschäftsbeziehungen dispositivem Recht, womit Geschäftspartnern die Möglichkeit gegeben ist, im Wege von Vereinbarungen einschlägige Geheimhaltungspflichten auszugestalten, insbesondere auch zu konkretisieren. In dem Umfang als von diesem Gestaltungsrecht durch eine spezifische, ausdrückliche Regelung Gebrauch gemacht wurde, kommen konkludentes Handeln oder allgemeine Grundsätze als Rechtsgrundlage für Geheimhaltungspflichten tatsächlich nicht mehr in Betracht - aber nur in diesem Umfang. Außerhalb des Anwendungsbereichs einer zulässigen vertraglichen Regelung ist die Entstehung einer Geheimhaltungsverpflichtung auf anderer Rechtsgrundlage keineswegs ausgeschlossen.

2.5 Im vorliegenden Fall hätte ein solcher Ausschluß daher erfordert, daß die beiden Projekt- und zugleich Vertragspartner über das gemeinsame Entwicklungsprojekt hinaus für alle Kontakte zwischen ihnen, einschließlich ihrem Fachpersonal, die Vertraulichkeitsfrage allgemein regeln wollten, und zwar dergestalt, daß jede außerhalb des Projekts ausgetauschte oder zugänglich gemachte Information entgegen den sonst greifenden Grundsätzen überhaupt keiner Geheimhaltungspflicht unterliegen sollte. Es hätte ihre übereinstimmende Absicht sein müssen, daß - als gewollte Regel - jeder Vertrags- und Projektpartner alle ihm vom jeweils anderen zugegangenen Informationen ohne Rücksicht auf dessen Interessen verbreiten und/oder verwerten hätte dürfen, sofern sie nicht - als Ausnahme - unter die in der Vereinbarung definierten speziellen Kriterien fielen.

2.6 Daß die beiden vertragschließenden Parteien, die Beschwerdeführerin und die Beschwerdegegnerin I, ihrer Geheimhaltungsvereinbarung eine solche Wirkung beigemessen hätten, wurde weder von ihnen behauptet, noch findet sich in oder außerhalb der Vereinbarung auch nur der geringste Anhaltspunkt dafür. Das ist auch durchaus plausibel, erschwert doch ein Verzicht auf wechselseitige Rücksichtnahme als Folge eines weitgehenden Ausschlusses der Vertraulichkeit nicht nur die Zusammenarbeit in einem definierten Projekt, sondern Geschäftskontakte ganz allgemein. Solches grundlos herbeizuführen, kann man Wirtschaftsteilnehmern, auch und insbesondere wenn sie sich, wie hier, zu gemeinsamer Entwicklungstätigkeit zusammengetan haben, nicht unterstellen. Geheimhaltungsvereinbarungen der vorliegenden Art sind daher (einschränkend) in dem Sinne auszulegen, daß sie die Vertraulichkeit konkretisieren und sicherstellen sollen, ohne daß davon Kontakte berührt werden, die außerhalb des definierten Projektrahmens stattfinden. Somit entfaltet die vorliegende Geheimhaltungsvereinbarung, welche nach Auffassung der beiden vertragschließenden Beteiligten keine Geheimhaltungsverpflichtung in Bezug auf das fragliche Gespräch im März 1993 begründen konnte, schlichtweg keine, auch keine ausschließende Rechtswirkung hinsichtlich der Vertraulichkeit Herrn Herbst damals erteilter Informationen.

2.7 Es ist dann zu prüfen, ob die Informationserteilung an Herrn Herbst einer impliziten, sich - nicht aus Vereinbarung, sondern - nach Treu und Glauben aus den konkreten Umständen des Falles herleitenden Geheimhaltungsverpflichtung seitens der Beschwerdegegnerin I unterlag.

2.7.1 Nach dem insoweit übereinstimmenden Vortrag der beiden Beteiligten und der Aussage des Zeugen Herbst im Einspruchsverfahren waren beide Seiten am Ergebnis der damals in der Spinnerei Uznaberg fortgeführten Versuchsreihe interessiert, bei der es um das Funktionieren der Kämme der Beschwerdegegnerin I in den Maschinen der Beschwerdeführerin ging. Somit verband die beiden beteiligten Firmen zum Zeitpunkt der kritischen Informationserteilung im März 1993 wesentlich mehr als etwa ein bloßes Käufer-/Verkäufer-Verhältnis. Vielmehr führten sie zur Weiterentwicklung ihrer jeweiligen, technisch komplementären Produkte abgestimmte Versuche durch, bei denen beide Produkte im Zusammenwirken getestet wurden. Zwangsläufig teilten sie daher auch Wissen um wirtschaftlich verwertbare Ergebnisse. Beide waren sich dessen bewußt, daß die jeweiligen Interessen an der Verwertung dieses gemeinsam erworbenen Wissens gegeneinander abgegrenzt und durch Geheimhaltung geschützt werden müssen, denn die Tatsache, daß sie eine detaillierte, schriftliche Geheimhaltungsregelung getroffen hatten, ist ein untrügliches Anzeichen dafür. Selbst wenn, so der Vortrag der Beschwerdegegnerin I, der damals nicht mit Entwicklungsaufgaben befaßte Herr Herbst im Rahmen einer bloßen "Montagetätigkeit" mit Frau Menzi zusammentraf, so erfolgte diese Tätigkeit doch nicht, wie sich die Beschwerdeführerin ausdrückte, im "luftleeren Raum". Das Zusammentreffen von Frau Menzi und Herrn Herbst in der Spinnerei Uznaberg, wo mit den Kämmen der Beschwerdegegnerin I ausgerüstete Maschinen der Beschwerdeführerin im Versuchseinsatz standen, war keineswegs ein isoliertes, zufälliges Ereignis, mit dem die beiden beteiligten Firmen nicht zu rechnen hatten. Vielmehr war es eingebettet, ja ganz offensichtlich sogar veranlaßt durch die 1993 weitergeführten Versuchsreihen. Aus alldem ergibt sich als Tatsache, daß die beiden beteiligten Firmen - unabhängig von der rechtlichen Frage der Weitergeltung oder Anwendbarkeit der Geheimhaltungsvereinbarung auf diesen Sachverhalt - auch noch im März 1993 in einem als technisch- wirtschaftliche Kooperation zu bezeichnenden Naheverhältnis standen.

2.7.2 Nach ständiger und durchaus praxisorientierter Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist bei einer nachhaltigen technisch-wirtschaftlichen Kooperation, wie sie zwischen der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin I bestand, von einem Vertraulichkeitsverhältnis auszugehen. Aus diesem Verhältnis folgt die wechselseitige (und nicht auf technisches Wissen beschränkte) Verpflichtung des Partners, relevante und durch die Zusammenarbeit ihm zugänglich gewordene Informationen nicht an Dritte weiterzugeben, die nicht an der Kooperation beteiligt sind. Dieses Weitergabeverbot hat wiederum zur Folge, daß der Austausch einschlägiger Informationen zwischen den Kooperationspartnern (und ihrem Personal) nicht als Offenbarung im patentrechtlichen Sinne gilt.

2.7.3 Das trifft hier zu, wobei es weder darauf ankommt, mit welcher Aufgabe Herr Herbst damals betraut war, ob er also nur mit einer Montage beauftragt oder als Entwicklungsmitarbeiter tätig war. Er war jedenfalls für die Beschwerdegegnerin I rechtlich gesehen als ihr Erfüllungsgehilfe tätig und ihr daher zuzurechnen.

2.7.4 Auch ist der Umstand nicht von Bedeutung, daß weder er noch offenbar auch Frau Menzi von ihrem jeweiligen Arbeit- bzw. Auftraggeber auf eine Geheimhaltungsverpflichtung hinsichtlich der fortgesetzten Versuche hingewiesen wurde. Die Geheimhaltungspflicht besteht unabhängig davon, wer für welchen Schaden haftet, sollte sie verletzt werden; vielmehr ist umgekehrt das Bestehen einer Geheimhaltungspflicht Voraussetzung für Schadensersatzansprüche, sollte die Vertraulichkeit nicht gewahrt und damit rechtswidrig Stand der Technik zum Nachteil eines zur Geheimhaltung Berechtigten begründet worden sein. Da weder behauptet wurde noch sonst bekannt geworden ist, daß die Herrn Herbst damals zugegangene Information durch ihn oder auf anderem Weg an Dritte außerhalb der Beschwerdegegnerin I gelangt wäre, ist dem nicht weiter nachzugehen. Entscheidend ist allein, daß es sich um einen Informationsaustausch zwischen Personen handelte, die für zwei wechselseitig zur Geheimhaltung derartiger Informationen verpflichtete Unternehmen tätig waren.

2.7.5 Daß die fragliche Information an Herrn Herbst ihrem behaupteten Inhalt nach als einschlägig anzusehen ist, ergibt sich schon daraus, daß die einsprechende Beschwerdegegnerin I sie dem angegriffenen Patent als relevanten Stand der Technik entgegengehalten hat.

2.8 Aus alldem folgt, daß Frau Menzi und Herr Herbst sich bei den Gesprächen am 8./9. März 1993 nicht als Mitglieder der Öffentlichkeit i. S. von Artikel 54 (2) EPÜ gegenüberstanden. Die dabei zwischen ihnen zur Sprache gekommenen technischen Sachverhalte sind daher damals, weil nicht im Sinne dieser Bestimmung offenbart, nicht Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ geworden.

3. Neuheit

3.1 Da der Inhalt der mündlichen Vorbeschreibung kein Stand der Technik geworden ist, ist die Neuheit nur mehr gegenüber dem im Verfahren befindlichen druckschriftlichen Stand der Technik nach den Entgegenhaltungen E8 bis E15 zu beurteilen.

3.2 Von der Beschwerdegegnerin I wurde nach Wegfall der offenkundigen Vorbenutzung in der mündlichen Verhandlung die Neuheit der Steuerungseinrichtung nach Anspruch 1 nicht mehr bezweifelt. Die in der Verhandlung nicht vertretene Beschwerdegegnerin II hatte im Einspruchsverfahren mangelnde Neuheit geltend gemacht gegenüber den Druckschriften:

E8: DE-C-3 722 481

E10: EP-B-0 374 723

E11: DE-A-3 815 896

E12: EP-B-0 531 740

3.3 E8 zeigt und beschreibt einen Fixkamm, der impulsartig mit Luft beaufschlagt wird, wobei die Luftimpulse in Abhängigkeit von der Bewegung der Zange oder eines anderen damit koordiniert angetriebenen Maschinenelements der Kämmaschine ausgelöst werden. Die Druckschrift offenbart weder einen Sensor zum Abgreifen der Bewegung noch einen Mikroprozessor zur Ansteuerung der Ausblasvorrichtung.

3.4 E10 befaßt sich mit der Steuerung des Abreißzylinders einer Kämmaschine, wobei keine pneumatische Ausblasung vorgesehen ist und demzufolge auch keine entsprechende Steuerung vorhanden sein kann.

3.5 In E11 wird der Antrieb einer Putzklingenanordnung in einer Kämmaschine mit einem Fixkamm behandelt, wobei weder eine pneumatische Ausblasung des Fixkammes noch eine Steuerung dafür offenbart ist.

3.6 E12 gibt ein Verfahren zum Reinigen eines Fixkammes wieder, wobei die freien Durchgänge zwischen den Nadelspitzen zeitlich koordiniert mit der Zangenbewegung mit Druckluft beaufschlagt werden. Es sind weder ein Sensor zum Abgreifen der Zangenbewegung noch eine Steuerung durch einen Mikroprozessor erwähnt.

3.7 Da keine dieser Entgegenhaltungen alle Merkmale der Steuerungseinrichtung nach Anspruch 1 enthält und der übrige druckschriftliche Stand der Technik von diesem Gegenstand noch weiter entfernt liegt, erfüllt die beanspruchte Steuerungseinrichtung das Erfordernis der Neuheit (Artikel 54 EPÜ).

4. Zurückverweisung an die erste Instanz

Beide in der mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien haben die Zurückverweisung an die erste Instanz beantragt.

Nachdem das Patent ohne Prüfung der erfinderischen Tätigkeit allein wegen mangelnder Neuheit widerrufen worden war, erachtet es die Kammer als gerechtfertigt, das ihr in Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumte Ermessen im beantragtem Sinne auszuüben, insbesondere auch, weil dadurch ein Instanzverlust vermieden wird.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

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