T 0842/02 () of 4.8.2003

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2003:T084202.20030804
Datum der Entscheidung: 04 August 2003
Aktenzeichen: T 0842/02
Anmeldenummer: 97905122.4
IPC-Klasse: G08G 05/06
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Flughafen-Leitsystem, insbesondere Flughafen- Bodenverkehrsleitsystem
Name des Anmelders: SIEMENS AKTIENGESELLSCHAFT, et al.
Name des Einsprechenden: 1) ABB Patent GmbH
2) THALES ATM NAVIGATION GmbH
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 123(3)
European Patent Convention 1973 R 67
European Patent Convention 1973 R 68(2)
Schlagwörter: -
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/97
G 0001/99
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen den Widerruf des europäischen Patents Nr. EP 883 873 durch die Einspruchsabteilung.

II. Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende I und II) hatten ihre Einsprüche in der Einspruchsschrift auf die Einspruchsgründe mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit gestützt und sich dabei auf mehrere Dokumente berufen. Nach Vorlage eines neuen Patentanspruchs 1 durch die Patentinhaberin mit Schreiben vom 1. März 2001, machten beide Einsprechenden geltend, daß mit diesen Änderungen der Schutzbereich des Streitpatents erweitert werde und somit ein Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ vorliege. Die Schriftsätze der Einsprechenden I und II waren der Patentinhaberin mit Kurzmitteilungen ("Mit der Bitte um Kenntnisnahme") vom 2. Juli 2001 bzw. vom 23. Juli 2001 zugestellt worden.

III. Die Einspruchsabteilung hat den Widerruf des Streitpatents in der angefochtenen Entscheidung, die am 16. Mai 2002 zur Post gegeben wurde, damit begründet, daß die Änderungen des Patentanspruchs 1 gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstießen. Unter Punkt II.10 der Entscheidungsgründe führte die Einspruchsabteilung aus: "Der erteilte Anspruch 1 ist, aus den von den Einsprechenden angeführten Gründe[n] ebenfalls nicht aufrecht zu erhalten. Der Patentinhaber hat dies übrigens auch nicht beantragt."

IV. Mit Einreichung der Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und "den Einspruch zurückzuweisen". Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sowie die Zurückverweisung des Verfahrens an die Einspruchsabteilung wurden "angeregt" und hilfsweise eine mündliche Verhandlung beantragt.

V. Der Beschwerdeführerin sei rechtliches Gehör vor der Einspruchsabteilung versagt worden, da sie als Patentinhaberin nicht aufgefordert worden sei, sich zu dem "neuen Widerrufsgrund zu äußern". Die Einspruchsabteilung hätte auch den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Inhalt des Schreibens vom 1. März 2001 und dem mit diesem Schreiben eingereichten Patentanspruch 1 erkennen können. Denn der geänderte Patentanspruch 1 habe nicht dem Willen der Patentinhaberin entsprochen. Da die Einspruchsabteilung noch nicht zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit Stellung genommen habe, sei der Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung berechtigt, damit die Patentinhaberin nicht eine Tatsacheninstanz verliere. Der "erteilte Hauptanspruch" sei (aus den Gründen, die hier nicht wiedergegeben werden brauchen) erfinderisch.

VI. Die Kammer hat den Parteien in einer Anlage zur Ladung für die mündliche Verhandlung ihre vorläufige Ansicht mitgeteilt, daß sie den Antrag der Beschwerdeführerin so auslege, daß das Patent in der erteilten Fassung aufrechterhalten werden solle (Art. 102 (2) EPÜ). Die Gründe, die nach Auffassung der Einspruchsabteilung zum Widerruf des Streitpatents geführt hätten, dürften daher gegenstandslos geworden sein. Die Kammer sehe die Bemerkung unter Punkt II.10 der angefochtenen Entscheidung nicht als eine abschließende Stellungnahme zu den Einspruchsgründen mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit an. Denn eine Anfechtung durch die unterlegene Partei und eine Überprüfung durch die Kammer seien mangels Begründung nicht möglich. Im übrigen scheine die angefochtene Entscheidung nur auf Gründe gestützt, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (Art. 113 (1) EPÜ), da der Patentinhaberin Gelegenheit und genügend Zeit gegeben worden sei, um in der von ihr gewünschten Form auf die ihr zugestellten Einwände der Einsprechenden zu reagieren. Die angefochtene Entscheidung scheine daher nicht mit einem wesentlichen Mangel behaftet und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nicht der Billigkeit zu entsprechen. Die Kammer beabsichtige, bei rechtzeitiger Stellungnahme der Parteien in diesem Sinne, den anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben und die Angelegenheit ohne weitere Verzögerungen an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

VII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat mit Schreiben vom 26. Mai 2003 den Antrag auf mündliche Verhandlung im Falle einer Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zurückgenommen und erklärt, daß sie bezüglich der Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit den Ausführungen der Kammer einverstanden sei.

VIII. Die Beschwerdegegnerin I (Einsprechende I) hat mit Schreiben vom 15. Juli 2003 mitgeteilt, daß sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde. Die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende II) hat mit Schreiben vom 12. März 2003 den Antrag auf eine mündliche Verhandlung im Falle einer Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückgenommen. Beide Beschwerdegegnerinnen beantragten, die Beschwerde zurückzuweisen und den Widerruf des Patents zu bestätigen.

IX. Die Beschwerdegegnerinnen argumentierten, daß der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 nicht neu oder zumindest nicht erfinderisch sei. Die diesbezügliche Begründung braucht hier nicht im einzelnen ausgeführt zu werden.

Das Verfahren vor der Einspruchsabteilung sei mit keinem Verfahrensmangel behaftet. Denn die Patentinhaberin habe innerhalb von nahezu zehn Monaten nach Übermittlung der Schriftsätze mit den Einwänden (unzulässige Erweiterung des Anspruchs 1) der Einsprechenden 1 und 2 nicht die Gelegenheit genutzt, sich zu den Gründen zu äußern, auf welche die angefochtene Entscheidung gestützt sei. Die Einspruchsabteilung habe nach der langen Zeit davon ausgehen müssen, daß die Patentinhaberin nicht an einer Äußerung zu den Schriftsätzen der Einsprechenden interessiert sei. Sie habe auf Grundlage eines klaren Antrags der Patentinhaberin und zu Recht im schriftlichen Verfahren entschieden, da kein Antrag auf mündliche Verhandlung vorgelegen habe. Eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung sei nicht angebracht, weil die Einspruchsabteilung unter Punkt II.10 zu der Frage der Patentfähigkeit des erteilten Patentanspruchs 1 Stellung genommen und sich die Argumentation der Einsprechenden zu eigen gemacht habe. Dies sei sogar ausschlaggebend für den Widerruf des Streitpatents gewesen, da der erteilte Patentanspruch 1 wegen fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit seines Gegenstands nicht aufrechtzuerhalten gewesen sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Gemäß Artikel 111 (1) EPÜ ist es den Beschwerdekammern anheimgestellt, eine Sache nach Maßgabe des Einzelfalls zurückzuverweisen (vgl. G 1/97, ABl. EPA, 2000, 322, Punkt 2a)). Das zweiseitige Beschwerdeverfahren hat primär die Aufgabe, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung anzufechten (vgl. G 1/99, ABl. EPA 2001, 381, Punkt 6.1). Wenn die angefochtene Entscheidung gegenstandslos geworden ist und im Beschwerdeverfahren durch wesentliche Änderungen des Streitpatents eine weitere Sachprüfung erforderlich wird, kann eine Zurückverweisung zweckdienlich sein, um den Parteien das Recht auf eine Beschwerde vor der zweiten Instanz zu erhalten (vgl. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 4. Aufl. 2001, S. 602 - 604).

3. Der Widerruf des vorliegenden Patents ist in der angefochtenen Entscheidung ausschließlich damit begründet, daß der im Einspruchsverfahren geänderte Patentanspruch 1 den Schutzbereich des Streitpatents erweitere (Art. 123 (3) EPÜ). Die pauschale Bemerkung zum erteilten Anspruch 1 unter Punkt II.10 der angefochtenen Entscheidung zu den anderen "von den Einsprechenden angeführten Gründen" erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine mit der Beschwerde anfechtbare Entscheidung des Europäischen Patentamts zu stellen sind (vgl. Regel 68 (2) EPÜ). Hierfür würden im vorliegenden Fall zumindest Hinweise darauf fehlen, welche der vorgebrachten rechtlichen Grundlagen, Tatsachen und Argumente sich die Einspruchsabteilung zu eigen gemacht hat (Neuheit, erfinderische Tätigkeit, welcher Stand der Technik). Die Einspruchsabteilung hatte auch keine Veranlassung, über einen solchen Anspruch zu entscheiden, da ein diesbezüglicher Antrag nicht gestellt wurde (Art. 113 (2) EPÜ), wie an dieser Stelle der angefochtenen Entscheidung zu Recht bemerkt ist.

4. Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Antrag, "den Einspruch zurückzuweisen" und der Erklärung, daß diese Änderungen von der Patentinhaberin so nicht gewollt gewesen seien, eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß sie dem Beschwerdeverfahren das Patent in der erteilten Fassung zugrunde zu legen wünscht. Sie hat überdies auch die als unzulässig angesehenen Änderungen nicht verteidigt, sondern Argumente für die erfinderische Tätigkeit des erteilten Patentanspruchs 1 vorgebracht. Damit sind die Änderungen im Einspruchsverfahren rückgängig gemacht und die angefochtene Entscheidung ist gegenstandslos geworden, da ein Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ unter diesen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen kann. Unter den gegebenen Umständen, da wesentliche Punkte nicht entschieden und anscheinend auch weitere Ermittlungen anzustellen sind (siehe z. B. Beschwerdebegründung, Seite 3, Absätze 3 und 4), hält es die Kammer für geboten, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Art. 111 (2) EPÜ), um eine Prüfung der bisher noch nicht behandelten Punkte durch zwei Instanzen zu ermöglichen.

5. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr entspricht im vorliegenden Fall nicht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels (R. 67 EPÜ). Die Beschwerdeführerin hat sich mit den diesbezüglichen Ausführungen der Kammer einverstanden erklärt, so daß sich eine weitere Begründung hierzu erübrigt.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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