European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2004:T033502.20041125 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 25 November 2004 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0335/02 | ||||||||
Anmeldenummer: | 96100140.1 | ||||||||
IPC-Klasse: | G08B 25/01 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Informations-Notrufanlage | ||||||||
Name des Anmelders: | ms Neumann Elektronik GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Siemens AG | ||||||||
Kammer: | 3.5.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit (bejaht) | ||||||||
Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit welcher der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 723 254 zurückgewiesen wurde.
II. Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung hat folgenden Wortlaut:
"Informations-Notrufanlage mit einer zentralen Abfrage- stelle (Z), an die eine oder mehrere Informations- Notrufsäulen (INS 1 bis INS 16) über Kabelverbindungen zur Übertragung von Versorgungsspannungen, Sprach- signalen und Steuersignalen angeschlossen sind, wobei in der zentralen Abfragestelle ein Hauptrechner zur Steuerung und Überwachung der Anlage, Versorgungs-, Steuer-, Überwachungs- und Verbindungsschaltungen sowie mindestens ein Bedienungsgerät (2) zur Entgegennahme von Notrufen und/oder Informationsanforderungsrufen angeordnet sind und in bzw. an jeder Informations- Notrufsäule (INS 1) eine Freisprecheinrichtung mit einem Lautsprecher (15) und einem Mikrofon (17) angeordnet und an der Frontplatte der Informations-Notrufsäule Bedienungs- und Anzeigeelemente (7,8; 7.1, 8.1; 10) vorgesehen sind, dadurch gekennzeichnet, daß in jeder Informations-Notrufsäule (INS 1) ein Mikrocomputer (11) zur Steuerung und Überwachung der Funktionen der Informations-Notrufsäule und zur Abgabe, Annahme und Verarbeitung von Steuersignalen angeordnet ist und der Lautsprecher (15) an einen Empfangsverstärker (14) und das Mikrofon (17) an einen Sendeverstärker (16) angeschlossen ist und an der Frontplatte der Informations-Notrufsäule mindestens zwei Betätigungs- elemente (7,8) vorgesehen sind, von denen durch entsprechende, vom Mikrocomputer (11) erzeugte Steuersignale mindestens eines die Abgabe eines Notrufs und ein anderes die Abgabe eines Informations- anforderungsrufes auslöst."
Die Patentansprüche 2 bis 13 sind von Anspruch 1 abhängig.
III. Die Einspruchsabteilung vertrat in der angefochtenen Entscheidung die Auffassung, daß die Einspruchsgründe mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit, insbesondere im Hinblick auf die folgenden Dokumente, der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstünden:
D2: DE-4 318 441 A1 und
D4: "Autobahn-Notrufeinrichtung ANE 90 - Die Notruftechnik der 90er Jahre", Prospekt der Fa. Siemens AG, März 1992.
IV. Die Beschwerdeführerin stützte sich in ihrer Beschwerde- begründung zusätzlich auf das folgende, im Prüfungs- verfahren und in der Patentschrift zitierte Dokument:
D1: COMMUTATION & TRANSMISSION, Bd. 12, 1990, Nr. 2, Paris; S. 69-80; J. C. Spiteri et al.: "RAU 42 - Nouveau réseau d'appel d'urgence".
V. Am 25. November 2004 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
VI. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
VII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 12, eingereicht (als "Hilfsantrag") mit Schreiben vom 2. November 2001.
VIII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) argumentierte im wesentlichen wie folgt:
Der Gegenstand des Streitpatents sei nicht erfinderisch. D1 offenbare die Merkmale des Oberbegriffs des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung. Jede Notrufsäule in D1 weise ebenfalls einen an einen Empfangsverstärker angeschlossenen Lautsprecher und ein an einen Sendeverstärker angeschlossenes Mikrofon auf. Als Unterschied verbleibe eine bloße Aggregation von zwei Merkmalen, nämlich ein Mikrocomputer zur Steuerung und Überwachung sowie ein zweites Betätigungselement für die Abgabe eines Informationsanforderungsrufes. Nur das zweite Betätigungselement trage zur Lösung der in der Patentschrift genannten Aufgabe bei, die bekannte Notrufanlage benutzerfreundlicher und flexibler auszugestalten. Der Mikrocomputer diene lediglich dem bekannten Zweck, eine kompaktere und leistungsfähigere Ausgestaltung zu ermöglichen. Da Mikrocomputer auch in der zentralen Abfragestelle der D1 verwendet würden, sei dieses Merkmal für den Fachmann naheliegend.
D4 lege dem Fachmann nahe, ein zweites Betätigungs- element für die Abgabe eines Informationsanforderungs- rufes vorzusehen. Denn D4 offenbare getrennte Betätigungselemente für Unfall- und Pannenhilfe und eine Gesprächsführung mit Gegensprechen ohne manuelle Steuerung (D4, Seite 2). Die Anforderung einer Pannen- hilfe unterscheide sich technisch nicht von einer Informationsanforderung. Allenfalls seien Länge und Inhalt des Gesprächs unterschiedlich. Die Art der Informationsanforderungen sei im Streitpatent aber gar nicht näher spezifiziert.
Auch D2 offenbare eine Notrufanlage mit vier Betätigungselementen für die Abgabe verschiedener Rufarten in unterschiedlichen Hilfssituationen. D2 offenbare auch einen Mikrocomputer, da über eine Chipkarte Informationen eingelesen und Notrufe abgesetzt würden. Obwohl in D2 die Betonung auf nonverbaler Kommunikation mit einer zentralen Abfragestelle liege, offenbare D2 auch Kombinationen mit Mobilfunkgeräten, über welche eine Sprachkommunikation möglich sei. D2 habe dem Fachmann daher ebenfalls eine Informations- Notrufanlage gemäß Patentanspruch 1 nahegelegt.
IX. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) argumentierte im wesentlichen wie folgt:
D1 sei in der Patentschrift als Ausgangspunkt der Erfindung gewürdigt. Die implizite Offenbarung eines Verstärkers in D1 (Seite 77) werde nicht bestritten. Wie bei bekannten Notrufsäulen dieser Art, die ausschließlich als Notrufanlage dienten, wiesen die Notrufsäulen in D1 nur ein Betätigungselement auf.
Für eine objektive Beurteilung, wie der Fachmann solche Anlagen benutzerfreundlicher und flexibler unter Beibehaltung eines Höchstmaßes an Sicherheit bei der Übermittlung von Notrufen ausgestaltet hätte, sei diese Ausgangssituation besonders wichtig.
Der Erfinder habe erkannt, daß der Benutzerkreis bekannter Notrufsäulen erweitert werden könne, wenn sie als Informations-Notrufsäulen mit mindestens zwei eindeutig unterscheidbaren, getrennten Betätigungs- elementen für Notruf und Informationsanforderung jeglicher Art ausgeführt würden. Dadurch könne ein Benutzer, z. B. auf einem Bahnhofsgelände, auf einfache Art die benötigte Verbindung mit einer zentralen Abfragestelle herstellen. Der Mikrocomputer sorge für die Steuerung und Überwachung der Funktionen und löse über Steuersignale entweder einen Notruf oder eine Informationsanforderung aus. Der Mikrocomputer stelle die gewünschte Gesprächsverbindung über die Kabel- verbindungen her. Weitere Steuerungsaufgaben würden durch den Mikrocomputer gelöst, wenn wie in Patentanspruch 2 noch ein zusätzliches Betätigungs- element (in einer für Rollstuhlfahrer erreichbaren Höhe) vorgesehen werde.
D4 (Seite 2) offenbare zwar zwei unterschiedliche Symboltasten an einer Notrufsäule, lege aber dem Fachmann kein separates Absetzen eines Notrufs und einer Informationsanforderung nahe. In D4 gehe es darum, aufgrund der Art des Notrufs Prioritäten zu setzen (D4, Seite 2, mittlere Spalte: "wer wann sprechen darf") und sprachunkundige Autofahrer zu unterstützen.
D2 führe den Fachmann von der vorliegenden Erfindung weg, da es den Benutzerkreis auf Personen einschränke, die mit einer entsprechenden Chipkarte ausgestattet seien. Außerdem lehre D2, von dem problematischen mündlichen Absetzen eines Notrufs abzugehen und gezielte Hilfe nach einer von vier festgelegten Alarmkategorien anzufordern.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Neuheit des Gegenstands des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) ist im Beschwerde- verfahren nicht bestritten worden. Die Parteien sind sich darin einig, daß D1 eine Notrufanlage mit den Merkmalen des Oberbegriffs des Patentanspruchs 1 offenbart. Unstreitig offenbart D1 implizit auch einen an einen Empfangsverstärker angeschlossenen Lautsprecher und ein an einen Sendeverstärker angeschlossenes Mikrofon in den Notrufsäulen. Die Notrufsäulen sind ferner für Gegensprechen ausgerüstet (D1, Figur 1; Seite 72, Spalte 3, letzter Absatz; Seite 76, Spalte 2, Absatz 2; Seite 77, Spalte 3, Zeilen 22 bis 24).
3. Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag unterscheidet sich vom Stand der Technik in D1 dadurch, daß in jeder Informations-Notrufsäule ein Mikrocomputer zur Steuerung und Überwachung der Funktionen der Informations- Notrufsäule und zur Abgabe, Annahme und Verarbeitung von Steuersignalen angeordnet ist und daß an der Frontplatte der Informations-Notrufsäule mindestens zwei Betätigungselemente vorgesehen sind, von denen durch entsprechende, vom Mikrocomputer erzeugte Steuersignale mindestens eines die Abgabe eines Notrufs und ein anderes die Abgabe eines Informationsanforderungsrufes auslöst.
4. Es ist nicht bestritten worden, daß die in der Patentschrift, Absatz [0003], genannte Aufgabe tatsächlich gelöst wird, eine Notrufanlage gemäß Oberbegriff benutzerfreundlich und flexibel auszubilden und sicher einsetzbar zu machen. Die Merkmale Mikrocomputer und mindestens zwei Betätigungselemente tragen gemeinsam dazu bei, die bei bekannten Notruf- säulen grundsätzlich vorhandene technische Eignung (aber nur eingeschränkt mögliche Nutzung) für die Anforderung von Informationen auszubauen und die Notrufanlage so zu einer "Informations-Notrufanlage" zu erweitern, die vom Mikrocomputer gesteuert und überwacht wird (siehe z. B. die Herstellung der gewünschten Verbindung, Spalte 5, Zeilen 15 bis 23, der Patentschrift).
5. D1 selbst gibt dem Fachmann keine Hinweise, Notrufsäulen mit weiteren Betätigungselementen und entsprechenden Steuerungsfunktionen zu Informations-Notrufsäulen auszubauen. Die Erwägungen hinsichtlich der möglichen Anwendungen in D1 gehen zwar über die übliche Taste an einer Notrufsäule hinaus. So kann z. B. statt dieser Taste an der Säule in besonderen Fällen zur Abgabe eines Alarms ein Pedal oder eine unauffällige Taste vorgesehen werden. Es handelt sich aber stets um typische Notfälle, wie Unfälle, Pannen, Feuer, Überfall und ähnliches (D1, Seite 72, Spalte 1, Absätze 1 und 2; Spalte 2, Absatz 2). Wie bei anderen bekannten Notrufsäulen, ist hier für die sichere Auslösung und die Lokalisierung des Notrufs sowie die Herstellung einer direkten Gegensprech- verbindung zur Klärung der Umstände kein zweites Betätigungselement und keine Steuerung über Mikrocomputer erforderlich. Vorrangig ist die einfache und sichere Bedienung im Notfall. Ein Hilfesuchender soll im Notfall nicht Gefahr laufen, eine falsche Taste zu betätigen.
6. D4 (Seite 2) geht diesbezüglich einen Schritt weiter und offenbart zwei eindeutig unterscheidbare, getrennte Betätigungselemente zur gezielten Unfall- und Pannen- hilfe (Symboltasten mit Kreuz bzw. Schraubenschlüssel). Wenn mehrere Stellen gleichzeitig Hilfe anfordern, kann die Notrufzentrale je nach betätigter Tastenart Prioritäten setzen, wer wann sprechen darf. Die zwei international verständlichen Symboltasten ermöglichen auch einem sprachunkundigen Autofahrer, Unfallhilfe oder Pannenhilfe anzufordern. Die Lehre der D4 bleibt aber im Rahmen der üblichen Anwendungen bekannter Autobahn- Notrufsäulen. Außer der Weiterleitung einer Information an die Notrufzentrale, welche der beiden Symboltasten gedrückt wurde, brauchen hierfür in den Notrufsäulen keine zusätzlichen Steuerungsmaßnahmen getroffen zu werden. D4 offenbart auch keine weitergehende Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Hilferufen und keine angepaßte Steuerung, insbesondere keinen Mikrocomputer. Es gibt im verfügbaren Stand der Technik auch keinen Hinweis, daß am Prioritätstag des vorliegenden Streitpatents in anderen bekannten Notrufsäulen Mikrocomputer verwendet worden wären. Eher wurde die Koordination der Signal- und Datenströme mit den relativ einfachen, robusten und in großer Zahl vorhandenen Notrufsäulen in gesonderte Koppelrechner verlegt (D4, Seite 3, Figur in der rechten Spalte; Seite 4, mittlere Spalte, Absatz 2). In diesem Umfeld hatte der Fachmann ohne unzulässige rückschauende Betrachtung keine Veranlassung, Mikrocomputer zur Steuerung und Überwachung in den Notrufsäulen vorzusehen und die Notrufsäulen in Verbindung mit mindestens zwei Betätigungselementen zu Informations-Notrufsäulen einer Informations-Notrufanlage zu erweitern.
7. D2 offenbart ein intelligentes Notrufsystem, das nicht auf bestimmte Gebiete, wie z. B. Autobahnen, oder bestimmte Kategorien von Benutzern, wie z. B. Autofahrer, beschränkt sein soll. Jeder Nutzer dieses Systems, der mit einer entsprechenden Speicherkarte ausgestattet ist, kann ein Notruftelegramm über ein Mobilfunknetz oder über elektrische Leitungen an eine Alarmzentrale absetzen. Im Unterschied zu D4 kann die Alarmzentrale ohne verbale Kommunikation nicht nur erkennen, welche Art von Hilfe angefordert wurde. Das Notruftelegramm nach D2 kann auch personenbezogene und medizinische Daten enthalten, so daß eine Rettungsleitstelle auch dann wichtige Notrufdaten erhält, falls niemand am Notfallort in der Lage ist zu sprechen (D2, Zusammenfassung; Spalte 1, Zeilen 54 bis 66; Spalte 6, Zeilen 58 bis 60). Eine bestimmte Art der Alarmkategorie kann über Schalter oder eine Einsteckposition der Speicherkarte gewählt werden. D2 offenbart auch Ausführungen mit einem mobilen oder stationären Funk- telefon (D2, Spalte 3, Zeilen 23 bis 30) und transportable Notrufsäulen für zeitweise stationären Einsatz, z. B. für Autobahnen (D2, Spalte 7, Zeile 52 bis Spalte 8, Zeile 50; Figuren 1 bis 3). Stets steht in D2 aber die sprachlose Informationsübertragung bestimmter, vorher festgelegter Notrufdaten für Nutzer mit Speicherkarten im Mittelpunkt. Daran ändert auch die zusätzliche Möglichkeit einer Sprechverbindung mit einem Funktelefon nichts. Daher hätte D2 den Fachmann von der vorliegenden Erfindung eher weggeführt, als ihm mindestens zwei Betätigungselemente an Notrufsäulen für die Auslösung eines Notrufs bzw. einer Informations- anforderung über Kabelverbindungen zur Abfragestelle nahezulegen.
8. Die Beschwerdeführerin konnte die Kammer nicht davon überzeugen, daß sich der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben hätte (Artikel 56 EPÜ). Der Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin braucht somit nicht geprüft zu werden, da die Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung nicht begründet ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.