European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2004:T032101.20040805 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 05 August 2004 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0321/01 | ||||||||
Anmeldenummer: | 91914752.0 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61K 31/19 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Arzneimittel sowie deren Herstellung und deren Verwendung bei der Bekämpfung von Schmerzen und/oder Entzündungen an Tieren und Menschen | ||||||||
Name des Anmelders: | PAZ Arzneimittel-Entwicklungsgesellschaft mbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | The Boots Company PLC KNOLL AG |
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Kammer: | 3.3.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Neuheit (ja): quantitative Zusammensetzung des für die Schmerztherapie verwendeten Arzneimittels aus dem Stand der Technik nicht herleitbar. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung | ||||||||
Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Das europäischen Patent Nr. 0 607 128 (das "Patent") wurde der Beschwerdeführerin am 17. September 1997 mit 7. Patentansprüchen auf die am 19. August 1991 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 91 914 752.0 erteilt, die eine Priorität einer älteren deutschen Anmeldung vom 12. September 1990 in Anspruch nahm. Das Patent betrifft Arzneimittel sowie deren Herstellung und deren Verwendung bei der Bekämpfung von Schmerzen und/oder Entzündungen an Tieren und Menschen. Die beiden unabhängigen Ansprüche des Patents in der erteilten Fassung hatten folgenden Wortlaut:
"1. Verwendung von Flurbiprofen zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von schmerzhaften Erkrankungen, dadurch gekennzeichnet, daß bei Schmerzen oder bei chronischen Krankheitsbildern mit dominierenden Schmerzzuständen 60 bis 99,5 %, vorzugsweise 60 bis 95 %, R(-)-Flurbiprofen, Rest S(+)-Flurbiprofen verwendet wird.
2. Verwendung von Flurbiprofen zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von entzündlichen Erkrankungen, dadurch gekennzeichnet, daß bei Entzündungen und bei chronischen Krankheitsbildern mit dominierenden Entzündungen 60 bis 99,5 %, vorzugsweise 60 bis 95 %, S(+)-Flurbiprofen, Rest R(-)-Flurbiprofen, verwendet wird."
II. Gegen das erteilte europäische Patent legten The Boots Company PLC und die Knoll AG unabhängig voneinander Einsprüche ein (nachfolgend als Einsprechende 01 und Einsprechende 02 bzw. Beschwerdegegnerin 01 und Beschwerdegegnerin 02 bezeichnet) und beantragten den Widerruf des Patents im gesamten Umfang gemäß Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit, gemäß Artikel 100 b) EPÜ in Verbindung mit Artikel 83 EPÜ wegen fehlender Ausführbarkeit und gemäß Artikel 100 c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 123 (2) EPÜ wegen unzulässiger Änderungen.
III. Von den zahlreichen Entgegenhaltungen, die während des Einspruchsverfahrens eingeführt wurden, wird auf die nachfolgend angeführten in der vorliegenden Entscheidung Bezug genommen:
(4) K. Brune et al., "Aspirin-like drugs may block pain idependently of prostaglandin synthesis inhibition", erschienen in Experientia 47 (1991), Seiten 257-261,
(5) EP-A-0 223 369,
(13) US-A-4 786 495,
(19) W.S. Beck et al., "Pharmacodynamic and toxicological differences between flurbiprofen enantiomers in rats", erschienen in Naunyn-Schmiedbergs Archives of Pharmacology, Supplement to Volume 343 (1991), Abstract 336.
IV. Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung beantragte die Patentinhaberin die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf Grundlage der mit Schreiben vom 26. November 1998 eingereichten Ansprüche 1 bis 5 als Hauptantrag oder auf Grundlage der mit Schreiben gleichen Datums eingereichten Ansprüche 1 bis 4 als Hilfsantrag.
Der einzige unabhängige Anspruch des Hauptantrags war identisch mit dem erteilten Anspruch 1 (siehe I oben).
Die Ansprüche 1 bis 4 des Hilfsantrags hatten folgenden Wortlaut:
"1. Verwendung von Flurbiprofen zur Herstellung eines Arzneimittels zu Behandlung von schmerzhaften Erkrankungen, dadurch gekennzeichnet, daß bei Schmerzen oder bei chronischen Krankheitsbildern mit dominierenden Schmerzzuständen 60 bis 99,5%, vorzugweise 60 bis 95%, R(-)-Flurbiprofen, Rest S(+)-Flurbiprofen verwendet wird, wobei die zuvor separierten Enantiomere des Flurbiprofens im gewünschten Verhältnis rekombiniert und mit üblichen festen pharmazeutischen Trägern und Hilfsstoffen zu Arzneimitteln verarbeitet werden.
2. Verwendung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß das Arzneimittel oral als Tabletten, Dragees, Kaumasse, Suspensionen, anal als Suppositorien oder parenteral intramuskulär als Suspensionen verwendet wird.
3. Verwendung nach den Ansprüchen 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, daß das Flurbiprofen als Alkali, Erdalkali, Ammonium, Aminosäuresalz - vorzugsweise als Lysinat -oder Aluminiumverbindung, gegebenenfalls als Mischung, insbesondere der verschiedenen Enantiomeren, verwendet wird.
4. Verwendung nach den Ansprüchen 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, daß die Mischung retardierend wirkende Zusätze oder Überzüge enthält."
V. Mit der am Ende der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2001 verkündeten und am 2. Februar 2001 zur Post gegeben Entscheidung hat die Einspruchsabteilung das Patent nach Artikel 102 (1) und (3) EPÜ widerrufen.
Hinsichtlich des Hauptantrags ist die Einspruchsabteilung zur Ansicht gelangt, daß dieser Artikel 123 (2) EPÜ verletze. Dazu hat sie in der Entscheidungsbegründung ausgeführt, die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (WO 92/04018) offenbarte die Herstellung von flurbiprofenhaltigen Arzneimitteln, bestehend aus einer Mischung von zuvor separierten und anschließend wieder zusammengefügten Enantiomeren des Flurbiprofens als Wirkstoff, und deren Verwendung als rasch und kontrolliert anflutende und beschleunigt wirkende Analgetika und Antiphlogistika und/oder Antipyretika zur Behandlung von Schmerzzuständen und/oder Entzündungen und/oder Fieber bei Mensch und Tier.
In den Erstunterlagen werde ausdrücklich auf Methoden zur Herstellung von reinen Enantiomeren des Flurbiprofens und deren Verarbeitung zu den erfindungsgemäßen Arzneimitteln verwiesen, wobei die zuvor separierten Enantiomeren im gewünschten Mengenverhältnis wieder zusammengefügt werden. Die Offenbarung in den Erstunterlagen, wonach der Wirkstoff in jedem Fall zwingend aus den zuvor separierten und dann im gewünschten Mischungsverhältnis im Fertigarzneimittel wieder zusammengefügten Enantiomeren bestehe, werde im Streitpatent dahingehend unzulässig verallgemeinert, daß der Wirkstoff aus den zuvor separierten Flurbiprofen-Enantiomeren im gewünschten Verhältnis bestehen kann (sie Beschreibung in der erteilten Fassung, Seite 2, Zeilen 5 bis 6). Ebenso seien die erteilten Ansprüche auf Enantiomerenmischungen des Flurbiprofens im allgemeinen gerichtet. Die Zulässigkeit dieser Änderung sei von der Patentinhaberin/Beschwerdeführerin damit begründet worden, daß der Kern der Erfindung in der Anwendung des zuvor nicht erkannten Wirksamkeit von R(-)-Flurbiprofen als Schmerzmittel zu sehen sei und ihrer Ansicht nach der Wirkstoff, bestehend aus zuvor separierten und anschließend wieder zusammengefügten Enantiomeren in seiner Wirksamkeit einer herkömmlichen Enantiomerenmischung beliebiger Herstellungsart gleichzusetzen sei. Der einzige Unterschied liege allein, wie in der Beschreibung des Streitpatents auf Seite 3 und in Figur 5 abgehandelt, in einer schnelleren Freisetzung und einer entsprechend schnelleren Anflutung des Wirkstoffs im Körper.
Dieser Ansicht konnte die Einspruchsabteilung nicht folgen. Sie hielt dieser Ansicht entgegen, die schnellere Freisetzung des Wirkstoffs und Anflutung im Körper des Patienten bedinge bei gleichbleibender Pharmakodynamik eine unterschiedliche Pharmakokinetik des Wirkstoffs. Die sei eine neue technische Lehre. Die im Hauptantrag verwendeten Flurbiprofenmischungen bedeuteten daher eine unzulässige Verallgemeinerung der in den Erstunterlagen durch ihr Herstellungsverfahren charakterisierten, spezifischen Flurbiprofenmischungen.
Den Hilfsantrag hat die Einspruchsabteilung wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen. Sie war der Ansicht, daß aus der Entgegenhaltung (5) und aus der aus derselben Patentfamilie stammendenden Entgegenhaltung (13) die Verwendung von R(-)-Flurbiprofen zur Behandlung von Schmerzzuständen zumindest in impliziter Form bereits klar eindeutig offenbart sei. Es bestehe kein Zweifel, daß mit der Angabe eines Gehalts von 99,5 % im Arzneimittel in Anspruch 1 die Reinform von R(-)-Flurbiprofen gemeint sei, was auch von der Patentinhaberin nicht bestritten worden sei.
VI. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung hat die unterlegene Patentinhaberin mit Schriftsatz vom 13. März 2001, eingegangen am 15. März 2001 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr Beschwerde eingelegt und hierzu innerhalb der in Artikel 108 EPÜ vorgesehenen Frist die Beschwerde begründet. Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin die Anträge vor der ersten Instanz (siehe IV oben) erneut als Hauptantrag und Hilfsantrag 1 vorgelegt und zusätzlich einen Hilfsantrag 2 eingereicht, dessen unabhängiger Anspruch folgenden Wortlaut hatte:
"1. Verwendung von Flurbiprofen zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von schmerzhaften Erkrankungen, dadurch gekennzeichnet, daß reines R(-)-Flurbiprofen verwendet wird."
VII. Die Beschwerdegegnerin 01 hat sich im Beschwerdeverfahren nicht mehr zur Sache geäußert. Die Beschwerdegegnerin 02 hat mit Schreiben vom 21. Dezember 2001 eine Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht. Darin hat sie hinsichtlich des damals anhängigen Hauptantrags erneut einen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ geltend gemacht und die Neuheit der Ansprüche gemäß allen damals geltenden Anträgen (Hauptantrag, Hilfsanträge 1 und 2) erneut in substantiierter Form bestritten.
VIII. Nachdem die Beschwerdegegnerin 01 die Kammer mit Fax vom 22. Juni 2004 und die Beschwerdegegnerin 02 mit Fax vom 20. Juli 2004 über ihre Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung, zu der ordnungsgemäß geladen worden war, informiert hatten, war die Beschwerdeführerin in der Anhörung vor der Kammer am 5. August 2004 als einzige Partei vertreten.
IX. Gegen Ende der mündlichen Verhandlung zog die Beschwerdeführerin alle bis dahin im schriftlichen Beschwerdeverfahren und während der Anhörung vor der Kammer eingereichten Anträge mit Ausnahme des als "Hilfsantrag 3" bezeichneten, in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags zurück. Die Ansprüche 1 bis 4 diese einzigen aufrechterhaltenen Antrags sind jene, welche die Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung mit ihrer Eingabe vom 26. November 1998, beim Amt eingegangen am 30. November 1998, als Hilfsantrag eingereicht hat (siehe IV oben).
X. Hinsichtlich des einzigen aufrechterhaltenen Antrags hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen folgendes vorgebracht:
Arzneimittel, welche die erfindungsgemäßen zuvor separierten und dann im gewünschten Mischungsverhältnis im Fertigarzneimittel wieder zusammengefügten Enantiomeren des Flurbiprofens als Wirkstoff enthielten, seien durch den entgegengehaltenen Stand der Technik nicht neuheitsschädlich vorweggenommen. Das Patent vermittle darüber hinaus die bisher unbekannte Lehre, daß Gemische von Enantiomeren aus R(-)-Flurbiprofen und S(+)-Flurbiprofen, die durch vorheriges Separieren und Wiederzusammengeben der gereinigten Enantiomeren erzeugt werden, eine besonders rasche Wirkstoff-Freisetzung aufwiesen und somit die Verwendung solcher Mischungen gegenüber herkömmlichen Enantiomerenmischungen zusätzliche Vorteile biete.
Die Einspruchsabteilung habe die Neuheit der erfindungsgemäßen Verwendung von überwiegend R(-)-Flurbiprofen enthaltenden Arzneimitteln zur Behandlung von schmerzhaften Erkrankungen aufgrund der Lehre einer der Entgegenhaltungen (5) oder (13) bestritten, da sich daraus zumindest implizit auch Verwendung des R(-)-Enantiomeren des Flurbiprofens in Reinform (99,5 %) als Schmerzmittel entnehmen ließe. Dies sei nicht zutreffend. Die genannten Entgegenhaltungen zielten auf eine Beschleunigung der Freisetzung von Flurbiprofen aus pharmazeutischen Zusammensetzungen durch Zumischung bestimmter Ester von natürlichen Pflanzenöl-Säuren. Bezüglich der Wirkung solcher Darreichungsformen werde auf die damals bekannte Wirkung des Flurbiprofens als analgetische und anti- inflammatorische Arzneimittel hingewiesen, wobei der Fachmann die damalige Erkenntnis implizit mitberücksichtigt habe, daß nur S(+)-Flurbiprofen als Cyclooxygenasehemmer wirksam sei, d. h. nur dieses und Mischungen, die S(+)-Flurbiprofen in größerer Menge enthielten, d. h. insbesondere das Racemat, als Wirkstoffe brauchbar seien, nicht aber reines "unwirksames" R(-)-Flurbiprofen oder Mischungen, die dieses überwiegend enthielten.
Im ersten Absatz auf Seite 8 von (5) werde darauf hingewiesen, daß Flurbiprofen in zwei enantiomeren Formen vorliege und ausgeführt, daß - in Übereinstimmung mit der damals bekannten Erkenntnis, wonach nur das (S)-Enantiomere eine pharmakologische Wirkung habe - das Racemat bzw. das S(+)-Flurbiprofen insbesondere zu verwenden seien. Dementsprechend befaßten sich die Beispiele in (5) ausschließlich mit dem Racemat bzw. S(+)-Flurbiprofen. Der von der Einspruchsabteilung als klare, unzweideutige Offenbarung in (5) für die Verwendung von R(-)-Flurbiprofen für die Schmerztherapie herangezogene Halbsatz auf Seite 8, Zeilen 3 bis 4 "the present invention includes both enantiomers and mixtures thereof" gehe nicht auf den von der Einspruchsabteilung behaupteten Sachverhalt ein, da gerade nicht auf eine Schmerzwirksamkeit des R(-)-Flurbiprofens hingewiesen werde, sondern lediglich darauf, daß gemäß der Erfindung in (5) oder (13) Flurbiprofen allgemein und somit auch das (R)-Enantiomere sich in Mischung mit Ölsäure-Estern rascher und besser löse, unabhängig ob diese Darreichungsform eine pharmakologische Wirkung aufweise oder nicht.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf Grundlage des als "Hilfsantrag 3" bezeichneten, in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags aufrechtzuerhalten.
Die Beschwerdegegnerinnen beantragten schriftlich die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Zulässigkeit des Antrags der Beschwerdeführerin
2. Die geltenden Ansprüche 1 bis 4 wurden zwar in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer als "Hilfsantrag 3" neu eingereicht, entsprechen jedoch jenen Ansprüchen, über welche die Einspruchsabteilung im Rahmen des ihr vorliegenden Hilfsantrags bereits entschieden hat (siehe IV und V oben) und welche die Beschwerdeführerin im schriftlichen Beschwerdeverfahren als ersten Hilfsantrag weiterverfolgt hat. Die Zulässigkeit des Antrags der Beschwerdeführerin ist daher auch in Anbetracht der Nichtteilnahme beider Beschwerdegegnerinnen an der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht in Frage zu stellen, da deren in Artikel 113 (1) EPÜ eingeräumtes Recht auf rechtliches Gehör unter den gegebenen Umständen nicht verletzt wurde.
2.1. Da die im geltenden Antrag vorgenommenen Änderungen des Patents in der erteilten Fassung durch Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und Artikel 100 c) EPÜ veranlaßt sind, ist der "Hilfsantrag 3" auch in Hinblick auf die Bestimmungen von Regel 57a EPÜ zulässig.
Gewährbarkeit der Änderungen
3. Nach Ansicht der Kammer bestehen gegen die geltenden Ansprüche 1 bis 4 keine Einwände aus formalen Gründen nach Artikel 123 (2) oder (3) EPÜ, da alle Ansprüche durch die ursprüngliche Offenbarung (Internationale Anmeldung mit der Internationalen Veröffentlichungsnummer WO 92/04018) ausreichend gestützt sind und den Schutzbereich gegenüber den Ansprüchen in der erteilten Fassung nicht erweitern.
3.1. Der Wechsel der Anspruchskategorie von den ursprünglichen Arzneimittelansprüchen zu den geltenden Verwendungsansprüchen in der in der G 1/83 (ABl. EPA 185, 60) für die zweite oder weitere medizinische Indikation vorgesehenen Form ist durch die Gesamtoffenbarung und insbesondere die Ansprüche 1 bis 6 in den Erstunterlagen gestützt.
3.2. Die technischen Merkmale des Anspruchs 1 entspringen einer Kombination der Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 1 und 3. Das Merkmal in Anspruch 1, wonach ein Arzneimittel mit einem Gehalt von 60 bis 99,5 % (R)(-)-Flurbiprofen, Rest S(+)-Flurbiprofen eingesetzt wird, findet seine Stütze in der Angabe "50 bis 99,5 %, vorzugsweise 60-95 % (R)(-)-Flurbiprofen, in Anspruch 3 der Erstunterlagen.
Die Kammer schließt sich in diesem Punkt der Entscheidung T 925/98 (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 4. Aufl. 2001, III.A.3, Seite 251) an. Danach ist im Fall einer Offenbarung eines allgemeinen als auch eines bevorzugten Bereichs eine Kombination des bevorzugten offenbarten engeren Bereichs und eines der Teilbereiche, die vor oder nach dem engeren Bereich innerhalb der offenbarten Grenzen liegen, aus der ursprünglichen Offenbarung eindeutig herleitbar ist. Die Beanspruchung eines Bereichs von 60 bis 99,5 % in Anspruch 1 stellt daher entgegen dem Vorbringen der Beschwerdegegnerin 02 (siehe Seite Einspruchsbegründung, Seite 10, letzter Absatz) keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ dar.
3.3. 2.3 Die abhängigen Ansprüche 2 bis 4 finden ihre Stütze in den Ansprüchen 4 bis 6 in dieser Reihenfolge in den Erstunterlagen.
3.4. Da die geltenden Ansprüche auf die Verwendung von Mischungen der zuvor separierten Enantiomere des Flurbiprofens gerichtet sind, liegt eine Beschränkung des Schutzbereichs gegenüber dem erteilten Patent vor, so daß auch Artikel 123 (3) EPÜ nicht verletzt wird.
3.5. Für die Kammer ist auch kein Verstoß gegen die Bestimmungen von Artikel 83 EPÜ oder Artikel 84 EPÜ erkennbar.
Priorität
4. Der Gegenstand des "Hilfsantrags 3" genießt in vollem Umfang die in Anspruch genommene Priorität der älteren deutschen Patentanmeldung vom 12. September 1990 mit dem Aktenzeichen P 40 28 906.0. Dies ist im vorliegenden Verfahren insofern von Bedeutung, als damit die dem Hauptantrag im Verfahren vor der Einspruchsabteilung als neuheitsschädlich entgegengehaltenen Veröffentlichungen (4) und (19) nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehören.
Neuheit
5. Die Entgegenhaltung (5) beschreibt pharmazeutische Zusammensetzungen, welche 2-(2-Fluor-4-bipenylyl)propionsäure (chemische Bezeichnung für Flurbiprofen) oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz davon in Verbindung mit einem Fettsäureester-Träger, bestehend aus einem oder mehreren Polyolestern oder Glyceriden von Fettsäuren natürlicher pflanzlicher Öle, enthalten, wobei der Träger einen Schmelzpunkt im Bereich von 30 C bis 50 °C und einen HLB-Wert von wenigstens 10 aufweist (siehe insbesondere Ansprüche 1 und 4).
Im ersten Absatz auf Seite 8 der Entgegenhaltung (5) und mit gleichen Worten in Spalte 4, Zeilen 32 bis 38 der aus derselben Patentfamilie stammenden Entgegenhaltung (13) ist ausgeführt, daß die Verbindung 2-(2-Fluor-4- bipenylyl)propionsäure ein Chiralitätszentrum aufweist und als solche in zwei enantiomeren Formen existiert. Es folgt der Hinweis, daß die vorliegende [d. h. die in (5) oder (13) offenbarte Erfindung] beide Enantiomere und deren Mischungen einschließt und daß sich die Erfindung insbesondere auf das Racemat, i.e. Flurbiprofen, und das (+) Enantiomere, i.e. (S)-Flurbiprofen, und deren pharmazeutisch annehmbaren Salze bezieht.
5.1. Geht man davon aus, daß die Entgegenhaltungen (5) und (13) einen Hinweis enthalten, wonach die dort jeweils offenbarte Erfindung racemisches Flurbiprofen sowie beide Enantiomere und deren Mischungen einschließt, müssen im Sinne der Entscheidung T 296/87, "Enantiomere/HOECHST" (ABl. EPA 1990, 195) sowohl das Racemat als auch die beiden enantiomeren Formen R(-)-Flurbiprofen und S(+)-Flurbiprofen und deren Mischungen als im Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ offenbart gelten.
5.2. Die Kammer kann sich dem Vortrag der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung anschließen, wonach die Neuheit der beanspruchten Verwendung im Sinne von Artikel 54 (1) EPÜ bereits dadurch gegeben ist, daß das Arzneimittel gemäß Anspruch 1 in jeder der im Anspruch angegebenen Zusammensetzungen (Mischungsverhältnisse) zwingend eine Mischung der zuvor separierten und dann im gewünschten Mischungsverhältnis wieder zusammengefügten Enantiomeren des Flurbiprofens enthält.
Dies gilt selbstverständlich auch für ein Arzneimittel, welches gemäß dem oberem Grenzwert in Anspruch 1 99.5 % R(-)-Flurbiprofen, Rest S(+)-Flurbiprofen als Wirkstoff enthält. Denn auch in diesfalls besteht der Wirkstoff gemäß Anspruch 1 entgegen dem Vorbringen der Beschwerdegegnerinnen und den Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung nicht aus 99.5 % R(-)-Flurbiprofen, welches mangels der Zugänglichkeit einer technisch effektiveren oder wirtschaftlich vertretbaren Methode zur Enantiomerentrennung in der angefochtenen Entscheidung gemeinhin als Reinform bezeichnet wird und noch 0.5 % S(+)-Flurbiprofen als Verunreinigung enthält, sondern aus einer Mischung, die gezielt durch Kombination von 99.5 % des beispielsweise in der zuvor genannten Reinform separierten R(-)-Flurbiprofens und 0.5 % des z. B. in der zuvor genannten Reinform separierten S(+)-Flurbiprofens hergestellt wurde. Eine solche Mischung unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung sehr wohl von dem oben als Reinform bezeichneten Enantiomerengemisch. Dies gilt unabhängig davon, welche Reinheit die sog. Reinform des R(-)-Flurbiprofens oder S(+)-Flurbiprofens auch immer tatsächlich aufweist.
In diesem Zusammenhang hat die Patentinhaberin insbesondere unter Hinweis auf Seite 3, Zeilen 51 bis 55 und in Figur 5 der Patentschrift aufgezeigt, daß eine Mischung der zuvor separierten und dann im gewünschten Mischungsverhältnis im Fertigarzneimittel wieder zusammengesetzten Enantiomeren auch unterschiedliche Eigenschaften gegenüber einer Mischung mit gleichem Mischungsverhältnis aufweist, welche auf andere Art und Weise, beispielsweise durch asymmetrische Synthese oder durch Anreicherung eines der Enantiomeren im Enantiomerengemisch mittels einer üblichen Methode zur Racemattrennung erhalten wurde. Diese technische Lehre ist dem Stand der Technik nicht zu entnehmen und daher neu. Dieser Sachverhalt hat schließlich konsequenterweise auch dazu geführt, daß die Erstinstanz den Hauptantrag, der nicht auf eine Mischung der zuvor separierten und dann im gewünschten Mischungsverhältnis im Fertigarzneimittel wieder zusammengesetzten Enantiomeren beschränkt war, wegen Verstoßes gegen Artikel 123 (2) EPÜ zurückgewiesen hat (siehe die ausführliche Begründung in V oben).
5.3. Die Erstinstanz hat in der angefochtenen Entscheidung (siehe Punkt 4 der Entscheidungsgründe im Einspruchverfahren) hervorgehoben, daß die Verbindung R(-)-Flurbiprofen als solche in (5) oder (13) offenbart ist und auf Seite 1, Zeilen 5 bis 7 und Seite 10, Zeilen 25 bis 29 von (5) bzw. in Spalte 1, Zeile 7. bis 9 und Spalte 5, Zeilen 46 bis 50 von (13) der Hinweis zu finden ist, wonach 2-(2-Fluor-4-bipenylyl)propionsäure im allgemeinen ein weit verbreiteter nicht steroider analgetischer, anti-inflammatorischer und antipyretischer Wirkstoff ist und erfindungsgemäße Zusammensetzungen als analgetisch, anti-inflammatorisch und antipyretisch wirksame Mittel verwendet werden können. Daraus hat sie den Schluß gezogen, daß auch die Verwendung des (R)(-)-Enantiomeren des Flurbiprofens für die Schmerztherapie in (5) oder (13) bereits klar und unzweideutig offenbart sei. In Anbetracht der Ausführungen in Punkt 4.2 oben ist es im Rahmen der Neuheitsbetrachtung nicht mehr von ausschlaggebender Bedeutung, daß sich die Kammer dieser Ansicht nicht anschließen kann.
5.4. Die Beschwerdeführerin hat in der Würdigung des Standes der Technik in der Streitpatentschrift (siehe insbesondere Seite 2, Zeile 38 bis Seite 3, Zeile 24) bereits deutlich gemacht, daß zum Prioritätszeitpunkt des angegriffenen Patents der Fachmann davon ausgehen musste, daß R(-)-Flurbiprofen und S(+)-Flurbiprofen unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und auch unterschiedlich wirksam sind. Daß der mit dem Stand der Technik zum Prioritätszeitpunkt vertraute fachmännische Leser aus (5) oder (13) die Anwendung von R(-)-Flurbiprofen in seiner Reinform oder von Mischungen, die dieses Enantiomer überwiegend enthalten, für die Schmerztherapie bereits in der für die Neuheitsschädlichkeit erforderlichen klaren und eindeutigen Art und Weise explizit oder implizit entnehmen konnte, kann die Kammer jedenfalls nicht erkennen.
Zurückverweisung
6. Da die Einspruchsabteilung den ihr vorliegenden Hilfsantrag einzig wegen fehlender Neuheit zurückgewiesen hat, dieser Grund die angefochtene Entscheidung aus den oben angeführten Gründen aber nicht trägt, war diese aufzuheben. Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit hat die Einspruchsabteilung bisher keine beschwerdefähige Entscheidung getroffen. Die Kammer hält es daher nicht für angezeigt, an deren Statt diese Fragen zu entscheiden, um auch diesbezüglich eine Prüfung durch zwei Instanzen zu ermöglichen. Unter diesen Umständen verweist die Kammer in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß Artikel 111 (1) EPÜ die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage des als "Hilfsantrag 3" bezeichneten, in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags zurückverwiesen.