T 0710/00 (Pipettiersystem/EPPENDORF) of 24.7.2003

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2003:T071000.20030724
Datum der Entscheidung: 24 Juli 2003
Aktenzeichen: T 0710/00
Anmeldenummer: 93103815.2
IPC-Klasse: B01L 3/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Korrektur des Volumenfehlers bei der Auslegung eines Pipettiersystems
Name des Anmelders: EPPENDORF-NETHERLER-HINZ GmbH
Name des Einsprechenden: Brand GmbH & Co.
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(2)
Schlagwörter: Allgemeines Fachwissen - eine Einsprechende darf sich diesbezüglich nicht auf die Darstellung im Streitpatent verlassen (Punkt 5)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 93 103 815.2 wurde das europäische Patent Nr. 0 562 358 mit 14 Ansprüchen erteilt.

II. Gegen die Patenterteilung legte die Beschwerdeführerin Einspruch ein. Als Einspruchsgründe wurden mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) in Verbindung mit den Artikeln 54 (1) und 56 EPÜ) genannt.

Die Einwände wurden durch fünf Entgegenhaltungen gestützt, wovon folgende für diese Entscheidung relevant sind:

D3: Prospekt "Comfortpette® 4700, Varipette® 4710 und Comfortip® cristal" von Eppendorf (1986),

D4: US-A-5 024 109.

III. Die Einspruchsabteilung hat das Patent in geändertem Umfang mit 13 Ansprüchen aufrechterhalten.

Anspruch 1 lautet wie folgt:

"Verfahren zur Korrektur des Volumenfehlers ?V bei der Auslegung eines Pipettiersystems mit einer Kolbenhubpipette und einer darauf steckbaren Pipettenspitze, wobei die Kolbenhubpipette Einstelleinrichtungen zur Veränderung des Kolbenhubs sowie Anzeigeeinrichtungen für das jeweils pipettierte Flüssigkeitsvolumen hat und das Verhältnis vom Kolbenhub zum angezeigten Flüssigkeitsvolumen durch einen Pipettenkorrekturfaktor a bestimmt ist, die Pipettenspitze eine Spitzenöffnung, einen damit verbundenen Volumenbereich für die Aufnahme einstellbarer Flüssigkeitsvolumina und eine damit verbundene Aufstecköffnung für die Kolbenhubpipette aufweist und zwischen Spitzenöffnung und Kolben ein Totvolumen Vt ausgebildet ist, wobei der zu korrigierende Volumenfehler DeltaV daraus resultiert, daß das Totvolumen Vt zwischen dem Flüssigkeitsspiegel und dem Kolben der Pipette durch das Gewicht der Flüssigkeitssäule in der Pipettenspitze vergrößert wird, wobei die Korrektur des Volumenfehlers DeltaV durch bauliche Abstimmung des Totvolumens Vt, des Pipettenkorrekturfaktors a und des Verlaufs des Querschnitts Q der Pipettenspitze, die einen zylindrischen Arbeitsbereich aufweist, in den der Flüssigkeitsspiegel im gesamten Einstellbereich aufnehmbarer Flüssigkeitsvolumina emporsteigt, derart erfolgt, daß das von den Anzeigeeinrichtungen angezeigte Flüssigkeitsvolumen VAnz dem aufgenommenen Flüssigkeitsvolumen VFlüss oder einer vorgegebenen Abweichung entspricht."

In der angefochtenen Entscheidung wurde ausgeführt, daß der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 sich von der in D3 veröffentlichten Varipette 4710 mit Comfortip cristal nur durch eine andere Ausgestaltung der Pipettenspitze unterscheide. Nach Auffassung der Einspruchsabteilung hatte die Verwendung einer Pipettenspitze, die einen zylindrischen Arbeitsbereich aufweist, wie jetzt beansprucht, für einen Fachmann nicht nahe gelegen.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) Beschwerde eingelegt. Mit der Beschwerdebegründung wurden eine neue Entgegenhaltung

D6: US-A-3 810 391

und Dokumente, die eine offenkundige Vorbenutzung belegen sollen (D7), eingereicht.

In der Beschwerdebegründung wurde den in der angefochtenen Entscheidung dargelegten Gründen für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit widersprochen und ausgeführt, daß die Verwendung von Pipettenspitzen mit einem zylindrischen Arbeitsbereich aus D6 und D7 bekannt sei. Auch die Neuheit wurde weiter bestritten, sowohl gegenüber D3 als auch gegenüber D6 und D7. In Bezug auf die offenkundige Vorbenutzung wurde eine Zeugenvernehmung angeboten, falls die eidesstattlichen Erklärungen, die dem Anlagenkonvolut D7 beigefügt waren bzw. mit Schreiben vom 16. März 2001 nachgereicht worden sind, nicht ausreichen würden, um die offenkundige Vorbenutzung zu belegen.

V. Die Beschwerdegegnerin hat die Argumente der Beschwerdeführerin zurückgewiesen und geltend gemacht, die verspätet vorgebrachten Dokumente D6 und D7 seien nicht relevant und daher nicht zu berücksichtigen. Außerdem unterscheide sich der Gegenstand des aufrechterhaltenen Anspruchs 1 nicht nur durch die Ausgestaltung der Pipettenspitze von der aus D3 bekannten Pipette, sondern auch durch die beanspruchte bauliche Abstimmung des Totvolumens, des Pipettenkorrekturfaktors und des Verlaufs des Querschnitts der Pipettenspitze, so dass das angezeigte Flüssigkeitsvolumen genau dem aufgenommenen Flüssigkeitsvolumen, oder einer vorgegebenen Abweichung, entspreche. Eine derartige bauliche Abstimmung sei von keiner der Entgegenhaltungen nahe gelegt worden. Korrigierte Unterlagen gemäß Anlage P1 und geänderte Unterlagen gemäß Anlage P2 wurden mit der Erwiderung eingereicht. Es wurde auch bestritten, dass D6 und D7 eine Pipettenspitze offenbaren, die über den gesamten Einstellbereich einen zylindrischen Arbeitsbereich aufweist.

VI. Während der mündlichen Verhandlung, die am 24. Juli 2003 durchgeführt wurde, haben die Parteien ihre Argumente weiter vertieft. Die Beschwerdegegnerin hat während der mündlichen Verhandlung mehrere geänderte Anspruchssätze, bezeichnet als Hilfsanträge 2-21, vorgelegt. Die Beschwerdegegnerin machte außerdem geltend, die Lehre, den Pipettenkorrekturfaktor zum Ausgleich des durch den hydrostatischen Druck der zu pipettierenden Flüssigkeit verursachten Volumenfehlers durch die Wahl der Spindelsteigung zu realisieren, sei nicht Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ. Die Ausführungen hierzu im Streitpatent beträfen einen internen Stand der Technik.

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin gehöre diese Verfahrensweise jedoch zum allgemeinen Fachwissen, wie dies auch in der Beschreibung des Standes der Technik im Streitpatent dargestellt wurde. Die Beschwerdeführerin machte weiter geltend, dass die Beschwerdegegnerin dieses allgemeine Fachwissen bisher nicht bestritten habe, weshalb sie nicht vorbereitet sei, Dokumente vorlegen zu müssen, die dieses allgemeine Fachwissen belegen. Im Übrigen müsse die Beschwerdegegnerin ihre eigenen Aussagen im Streitpatent gegen sich gelten lassen und dürfe hiervon nicht mehr abweichen.

VII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 562 358. Hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz zur Fortsetzung des Verfahrens.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragte sie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patentes auf der Basis eines der Hilfsanträge 1 eingereicht als Anlage P2, mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2001, 2 bis 5, 7, 9 bis 21, eingereicht in der mündlichen Verhandlung, höchst hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur Fortsetzung des Verfahrens.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Gemäß Streitpatent geht die Erfindung von D4 aus (Seite 2, Zeilen 29-42). Diese Druckschrift offenbart ein Verfahren zur Korrektur des Volumenfehlers einer Kolbenhubpipette. Dabei werden die Höhe der Flüssigkeit in der Pipettenspitze für das gewünschte Flüssigkeitsvolumen, die Änderungen des Totvolumens aufgrund der Flüssigkeitssäule in der Spitze, die erforderliche Kolbenverschiebung für das gewünschte Flüssigkeitsvolumen und die Änderung des Totvolumens ermittelt. Die Höhe der Flüssigkeitssäule für ein gewünschtes Volumen wird anhand der Spitzengeometrie ermittelt, speziell für eine konische Spitze. Die Änderung des Totvolumens wird aufgrund hydrostatischer Überlegungen bestimmt, die an die Höhe der Flüssigkeitssäule anknüpfen. Die Kolbenverschiebung wird aus der Summe des gewünschten Volumens und der Änderung des Totvolumens ermittelt. Diese Technik bedient sich einer elektromechanischen Pipette, die mit einem Steuerrechner verbunden ist.

Die Korrektur des Volumenfehlers wird also für jedes aufgenommene Volumen neu berechnet. Es gibt keinen eindeutigen Pipettenkorrekturfaktor, der baulich vom Totvolumen und dem Verlauf des Querschnitts der Pipettenspitze bestimmt wird.

3. Die Parteien sind während des Verfahrens jedoch von D3 als nächstem Stand der Technik ausgegangen (Punkt 5.1 der angefochtenen Entscheidung; Punkt V. der Beschwerdebegründung, Punkt 5. der Beschwerdeerwiderung).

D3 offenbart die Eppendorf Varipette® 4710. Durch Drehen des Bedienungsknopfs wird der volumenbestimmende Arbeitshub verändert. Entsprechend dieser Einstellung wird auch der in die Pipettenspitze hineinragende Kolben vor- oder zurückgeschraubt, um das Totvolumen dem Arbeitsvolumen anzupassen. D3 erwähnt nicht, dass das Verhältnis vom Kolbenhub zum angezeigten Flüssigkeitsvolumen durch einen Pipettenkorrekturfaktor bestimmt wird, der den Volumenfehler, der durch das Eigengewicht der Flüssigkeitssäule in der Pipettenspitze entsteht, korrigiert. Nach Auffassung der Kammer offenbart D3 auch keine Pipettenspitze mit einem zylindrischen Arbeitsbereich, in dem der Flüssigkeitsspiegel im gesamten Einstellbereich emporsteigt.

4. Die Entgegenhaltung D6 betrifft dem gegenüber offenbar eine Pipette mit einer Spitze mit einem zylindrischen Arbeitsbereich, in dem der Flüssigkeitsspiegel im gesamten Einstellbereich emporsteigt (siehe Figur 1), oder legt eine solche Pipette zumindest nahe. Diese Entgegenhaltung wurde zwar erstmals in der Beschwerdebegründung genannt; dies erfolgte jedoch in Reaktion auf die Aufnahme des Merkmals in Anspruch 1, wonach der Arbeitsbereich sich auf den zylindrischen Teil der Pipettenspitze beschränkt, und die Aussage der Einspruchsabteilung, dass die Neuheit und erfinderische Tätigkeit gerade in diesem Merkmal zu sehen ist (Angefochtene Entscheidung, Punkt 4.2 des Sachverhalts und Punkte 5.4 und 5.7 der Entscheidungsgründe). Die Kammer berücksichtigt diese Druckschrift als nächsten Stand der Technik (Artikel 114 (2) EPÜ).

5. Die Beurteilung zumindest der erfinderischen Tätigkeit des Verfahrens gemäß Hauptantrag ist nach Auffassung der Kammer erst sinnvoll möglich, wenn geklärt ist, ob die Korrektur des Volumenfehlers über eine Anpassung der Spindelsteigung, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, zum allgemeinen Fachwissen gehört oder, wie in der mündlichen Verhandlung von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, der Fachwelt nicht bekannt war. Zwar gibt die Beschreibung des Streitpatents einige Anhaltspunkte dafür, dass eine Korrektur des Volumenfehlers durch eine Anpassung der Spindelsteigung an sich bekannt war (siehe Seite 2, Zeilen 19-23 und 49-52), aber nachdem die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung bestritten hat, dass diese Angaben sich auf das allgemeine Fachwissen beziehen, und erklärt hat, es handele sich dabei um eine firmeninterne Verfahrensweise, kann sich die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die allgemeine Bekanntheit des im Streitpatent dargestellten Zusammenhangs zwischen Volumenkorrektur und Spindelsteigung berufen. Dokumente, die die allgemeine Bekanntheit dieses Zusammenhangs belegen, standen der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung nicht zur Verfügung. Ohne weitere Beweismittel kann die Kammer jedoch nicht davon ausgehen, dass eine Korrektur des Volumenfehlers über eine Anpassung der Spindelsteigung zum allgemeinen Fachwissen gehört. Weil die unterschiedlichen Auffassungen hierüber erst während der mündlichen Verhandlung manifest wurden und die Beschwerdegegnerin im schriftlichen Verfahren nie angedeutet hatte, dass die Darstellung des Zusammenhangs zwischen Volumenkorrektur und Spindelsteigung in Kontext mit der Würdigung des Standes der Technik im Streitpatent nicht das tatsächliche Fachwissen am Prioritätstag der Anmeldung wiedergibt, geht die Kammer davon aus, dass die Beschwerdeführerin überrascht wurde und auf diese Änderung des Sachverhalts nicht vorbereitet sein konnte. Der Beschwerdeführerin muss daher die Gelegenheit gegeben werden, Beweismittel zum nunmehr bestrittenen allgemeinen Fachwissen vorzubringen.

6. Für die Beurteilung der Ansprüche gemäß den noch aufrechterhaltenen Hilfsanträgen (1-5, 7 und 9-21) ist die Feststellung des tatsächlichen Fachwissens am Prioritätstag gleichermaßen von Bedeutung. Daher hält die Kammer es für geboten, dass die Einspruchsabteilung die Neuheit und erfinderische Tätigkeit der Gegenstände der Ansprüche gemäß Hauptantrag, bzw. gemäß den Hilfsanträgen, in Hinblick auf die vorliegenden Dokumente und die gegebenenfalls nachzureichenden Beweismittel, soweit sie für die Klärung der Frage, ob die Korrektur des Volumenfehlers einer Kolbenhubpipette durch Anpassung der Spindelsteigung zum allgemeinen Fachwissen gehört, relevant sind, weiter untersucht. Die Kammer macht daher von ihrer Befugnis gemäß Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch, die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die erste Instanz zurück zu verweisen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben und die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die erste Instanz zurückverwiesen.

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