R 0007/22 (Antrag auf Überprüfung) of 18.2.2025

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2025:R000722.20250218
Datum der Entscheidung: 18 Februar 2025
Aktenzeichen: R 0007/22
Antrag auf Überprüfung von: T 0779/18
Anmeldenummer: 13727040.1
IPC-Klasse: A61K9/00
A61K31/00
A61K31/164
A61K31/4174
A61K31/505
A61K31/728
A61P11/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: KOMBINATIONSTHERAPEUTIKUM FÜR DIE BEHANDLUNG VON RHINITIS
Name des Anmelders: Maria Clementine Martin Klosterfrau Vertriebsgesellschaft mbH
Name des Einsprechenden: Teva GmbH
Wittkopp, Alexander
ZAKLADY FARMACEUTYCZNE POLPHARMA S.A.
Bülle Dr., Jan
Kammer: EBA
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
EPC Art. 112a(2)(c)
EPC Art. 112a(2)(d)
EPC Art. 113(1)
EPC R. 102(g)
EPC R. 106
Schlagwörter: Videokonferenz grundsätzlich mit Recht auf rechtliches Gehör vereinbar (ja, wie in G 1/21 und R 12/22)
Verletzung des rechtlichen Gehörs durch geltend gemachte Begründungsmängel (nein)
Orientierungssatz:

Der Orientierungssatz von R 10/20 wird bestätigt und wie folgt ergänzt:

[Teilweise Wiederholung dieses Orientierungssatzes:]

Es wird vermutet, dass eine Kammer das Vorbringen eines Beteiligten in der Sache berücksichtigt hat, welches sie in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hat. Denn dann ist anzunehmen, dass es aus ihrer Sicht nicht relevant war. Diese Vermutung kann widerlegt sein, wenn Anzeichen für eine Nicht- Berücksichtigung vorliegen, z.B. wenn eine Kammer in den Entscheidungsgründen das Vorbringen eines Beteiligten nicht behandelt, welches objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles ist, oder derartiges Vorbringen von der Hand weist, ohne es zuvor auf seine Richtigkeit zu überprüfen.

Der Charakter eines Vorbringens als objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles muss sich aufdrängen. Das folgt daraus, dass das Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ grundsätzlich nicht der Überprüfung des materiellen Rechts dient, weswegen Ausnahmen von diesem Grundsatz nur unter strengen Voraussetzungen zuzulassen sind.]

[Ergänzung:]

Daraus folgt auch, dass die Person, der sich das Vorbringen als objektiv entscheidend aufdrängen muss, der Durchschnittsleser und nicht der Fachmann ist (Entscheidungsgründe, Nr. II.2.2.2e).

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/21
R 0008/15
R 0010/20
R 0012/22
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

Vorbemerkung

Die folgenden Ausführungen sind - abgesehen von wenigen redaktionellen Änderungen (Änderungen oder Ergänzungen nicht-redaktioneller Art wurden in eckige Klammern gesetzt) - wörtlich der Mitteilung der Großen Beschwerdekammer (GBK) gemäß Artikel 13 und 14 (2) VOGBK vom 6. November 2024 (im Folgenden: "die Mitteilung") entnommen. Die - von den genannten Änderungen abgesehen - insgesamt vollständigen Auszüge aus der Mitteilung werden durch Ergänzungen unterbrochen; die Unterbrechungen sind gekennzeichnet.

Sachverhalt und Verfahren

1. Gegenstand des Überprüfungsantrags

Der Überprüfungsantrag der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.07 in der Beschwerdesache T 779/18. In dieser Sache hatte die Patentinhaberin Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, mit welcher letztere das europäische Patent Nr. 2 822 537 widerrufen hatte. Mit der zur Überprüfung stehenden Entscheidung wies die Beschwerdekammer die Beschwerde zurück. Die Entscheidung wurde in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2021 verkündet, und die mit Entscheidungsgründen versehene schriftliche Entscheidung wurde für die Beteiligten am 3. Februar 2022 dem Postdienstleister übergeben.

Die Bezeichnung der Erfindung lautet: Kombinationstherapeutikum für die Behandlung von Rhinitis.

Der Überprüfungsantrag der Patentinhaberin und Beschwerdeführerin im Verfahren vor der Beschwerdekammer wird darauf gestützt (siehe Nr. III, Seite 6), dass

- die zu überprüfende Entscheidung "in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet [sei] (vgl. Artikel 112a (2) d) EPÜ, insbesondere auch in Verbindung mit Regel 104 EPÜ)".

Insoweit macht die Antragstellerin unter Nr. 3 a) - d) des Antrags einzelne schwerwiegende Verfahrensmängel nach Artikel 112a(2) d) EPÜ in folgender Hinsicht geltend:

a) ... bezüglich der Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung durch die zuständige Beschwerdekammer

b) ... infolge der Durchführung der mündlichen Beschwerdeverhandlung als Videokonferenz

c) ... infolge der überraschend vorzeitigen Beendigung der mündlichen Beschwerdeverhandlung ohne Gelegenheit der Rüge seitens der Patentinhaberin

d) ... betreffend die Beurteilung der Neuheit.

(Bei engzeiligen Passagen wie denjenigen unter a) bis d) oben sowie im Folgenden handelt es sich jeweils um Zitate; Hervorhebungen in Fettdruck, auch in Zitaten, in dieser Mitteilung, sind solche der GBK.)

- "- ebenfalls in mehrfacher Hinsicht - ein schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ vor[liege], da die Beschwerdekammer mit der angefochtenen Entscheidung das Recht der Patentinhaberin auf rechtliches Gehör verletzt hat (vgl. Artikel 112a (2) c) EPÜ)."

Insoweit macht die Antragstellerin unter Nr. 4 a) - d) des Antrags geltend, die zu Artikel 112a (2) d) EPÜ vorgetragenen Sachverhalte begründeten auch Gehörsverstöße.

Bezüglich der obigen Verfahrensmängel a), b) und d) von Nr. 3 und Nr. 4 des Antrags decken sich die Ausführungen insbesondere zu den rechtlichen Grundlagen zu einem bedeutenden Teil mit denjenigen derselben Antragstellerin und Vertreter im Fall R 12/22. Die GBK hat den Überprüfungsantrag in diesem Fall unter Beantwortung der Ausführungen der Antragstellerin zu den rechtlichen Grundlagen, welche die GBK im Ladungsbescheid vorläufig zum Ausdruck gebracht hatte, mit Entscheidung vom 18. Dezember 2023 (dem Postdienstleister übergeben am 14. Mai 2024) zurückgewiesen. Die GBK hält auch in der vorliegenden Besetzung an ihren in dieser Entscheidung vorgenommenen ausführlichen rechtlichen Schlussfolgerungen fest, soweit sich diese auf den vorliegenden Fall übertragen lassen, und nimmt daher nachstehend ggf. hierauf Bezug, ohne diese Schlussfolgerungen in vollem Umfang wiederzugeben.

2. Die einzelnen geltend gemachten schwerwiegenden Verfahrensmängel

Vorbemerkung

Die wesentlichen Ausführungen im Überprüfungsantrag macht die Antragstellerin zu Buchstabe d) von Artikel 112a EPÜ. Die jeweils verhältnismäßig kurzen Ausführungen zu dessen Buchstabe c) (betreffend Artikel 113 EPÜ) nehmen inhaltlich im Wesentlichen hierauf Bezug. Letztere werden daher nachstehend nicht referiert.

2.1 Verfahrensmängel nach Artikel 112a (2) d) EPÜ "bezüglich der Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung durch die zuständige Beschwerdekammer" (Nr. 3a des Überprüfungsantrags)

2.1.1 Verfahrensmangel: Änderung des Formats der mündlichen Verhandlung ohne Begründung

Die ursprüngliche Ladung sei zu einer Präsenzverhandlung zunächst für den 21. Juli 2021 erfolgt und dieser Termin, erneut für eine Präsenzverhandlung, auf den 23. November 2021 verlegt worden. Auf diesen Umladungsbescheid hätten die Vertreter der Patentinhaberin mitgeteilt, dass sie an der Verhandlung teilnehmen würden, und zwar in Begleitung von mindestens einem technischen Experten mit Angabe dessen Identität und Qualifikation. Daraufhin sei am 11. November 2021 (Anmerkung der GBK: Dies ist das amtliche Absendedatum, die Bekanntgabe an die Adressaten erfolgte früher) eine Mitteilung der Beschwerdekammer ergangen, wonach aufgrund der aktuellen Entwicklung im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie die Teilnahme an mündlichen Verhandlungen in der Regel auf maximal zwei Personen pro Beteiligtem beschränkt sein solle und die Verwendung von Gesichtsmasken im Verhandlungsraum während der gesamten Dauer der Verhandlung, d. h. auch während der mündlichen Vorträge, verlangt werde.

Gegen diese Anordnung habe sich die Patentinhaberin mit Eingabe vom 10. November 2021 gewandt und dargelegt, warum die Beschränkung auf zwei Teilnehmer pro Beteiligtem eine Beschränkung der Grundrechte, insbesondere im Hinblick auf Artikel 113 EPÜ, darstelle. Auch habe sie begründet, dass die Anordnung, während der gesamten mündlichen Verhandlung, insbesondere auch während der mündlichen Vorträge, eine Gesichtsmaske zu tragen, jeglicher Rechtsgrundlage entbehre und auch in der EPA-Praxis nicht bzw. zumindest nicht einheitlich in dieser Weise gehandhabt worden sei. Dementsprechend habe die Patentinhaberin beantragt, alle angekündigten Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu lassen und zudem während des Vortrags keine Gesichtsmaske tragen zu müssen.

Daraufhin sei - ohne Begründung und ohne Möglichkeit zur Gegenstellungnahme - am 16. November 2021 die Beschwerdekammermitteilung mit der Anordnung ergangen, wonach die für den 23. November 2021 angesetzte mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchgeführt werden solle, sondern die Beteiligten zu einer Verhandlung per Videokonferenz geladen würden. Mangels Begründung hätten die Vertreter der Patentinhaberin keinerlei Möglichkeit gehabt, sich mit dieser Entscheidung bzw. Anordnung auseinanderzusetzen. Dies allein stelle bereits einen ersten schwerwiegenden Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ dar.

2.1.2 Verfahrensmangel: Anordnungen für die Teilnahme an der ursprünglich anberaumten Präsenzverhandlung

Ein weiterer schwerwiegender Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ sei in den rechtlich nicht begründeten Anordnungen der zuständigen Beschwerdekammer zu sehen, zum einen die Teilnehmerzahl pro Beteiligtem auf zwei Teilnehmer zu beschränken und zum anderen auch während des mündlichen Vortrags eine Gesichtsmaske tragen zu lassen. Ohne eine derartige, jegliche Rechtsgrundlage entbehrende und vor allem nicht vom EPA in ständiger Rechtsausübung praktizierte Übung hätte keinerlei Veranlassung bestanden, von einer Präsenzverhandlung abzugehen. Mit anderen Worten hätte ohne diese Anordnungen der zuständigen Beschwerdekammer nicht das Erfordernis bestanden, die mündliche Verhandlung zu verschieben bzw. als Videokonferenz durchzuführen. Folglich müsse in diesen Anordnungen gleichermaßen ein schwerwiegender Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ gesehen werden.

2.2 Verfahrensmangel nach Artikel 112a (2) d) EPÜ "infolge der Durchführung der mündlichen Beschwerdeverhandlung als Videokonferenz" (Nr. 3b des Überprüfungsantrags)

Im vorliegenden Fall hätten die hierfür durch die Entscheidung der GBK im Fall G 1/21 gesetzten, sehr engen Voraussetzungen nicht vorgelegen. Hierauf hätten die Vertreter der Patentinhaberin im Rahmen der als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung auch hingewiesen und dies im Detail begründet. In der besagten Entscheidung G 1/21 würden die engen Voraussetzungen bestimmt, wonach es zulässig sei - auch ohne die Zustimmung aller Verfahrensbeteiligter - eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz anstelle einer Präsenzverhandlung durchzuführen. Die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Präsenzverhandlung werde in dieser Beschwerdekammerentscheidung aber als "Goldstandard" bezeichnet, da nur eine Präsenzverhandlung optimale Verfahrenstransparenz und einen optimalen Austausch zwischen Gericht und Beteiligten ermögliche (vgl. insbesondere Nr. 38 bis 51 von G 1/21). G 1/21 habe ein Sachverhalt zugrunde gelegen, bei welchem die mündliche Verhandlung bereits um ein Jahr verschoben worden sei und nochmals auf unbestimmte Zeit hätte verschoben werden müssen, da aufgrund einer objektiven Unmöglichkeit zum Ladungszeitpunkt keine Anreiseoption der Beteiligten und somit keine Möglichkeit einer Präsenzveranstaltung bestanden hätte. Im vorliegenden Fall sei die Beschwerdekammer aber noch unmittelbar bis kurz vor dem mündlichen Verhandlungstermin selbst davon ausgegangen, die mündliche Verhandlung als Präsenzverhandlung durchzuführen. Dies allein zeige, dass aufgrund der pandemischen Lage eine Präsenzverhandlung im vorliegenden Fall überhaupt nicht ausgeschlossen gewesen sei. Anders als im entschiedenen Fall G 1/21 hätten im vorliegenden Fall alle Beteiligten innerhalb Deutschlands ohne Weiteres anreisen können und hätte aufgrund der bestehenden Impfmöglichkeit auch kein übermäßig hohes Infektionsrisiko der Teilnehmer bestanden.

Insofern liege in der Durchführung der mündlichen Beschwerdeverhandlung als Videokonferenz - ohne Zustimmung aller Verfahrensbeteiligter - ein schwerwiegender Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ vor.

2.3 Verfahrensmängel nach Artikel 112a (2) d) EPÜ "infolge der überraschend vorzeitigen Beendigung der mündlichen Beschwerdeverhandlung ohne Gelegenheit der Rüge seitens der Patentinhaberin" (Nr. 3c des Überprüfungsantrags)

2.3.1 Keine Entgegennahme einer Rüge zu Protokoll

Insoweit macht die Antragstellerin geltend, die Vertreter der Patentinhaberin hätten in der mündlichen Verhandlung bezüglich zwei Aspekten eine Rüge nach Artikel 113 EPÜ zu Protokoll geben wollen, insbesondere auch mit der Absicht, der Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ zu genügen, nämlich einerseits im Hinblick auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz und zum anderen im Hinblick auf Hilfsantrag IIB für den Fall der Nichtzulassung. Es stelle bereits einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, nicht zuzulassen, die

Rüge zu Protokoll zu geben (d.h. diese selbst schriftlich einreichen zu müssen), da die Zulassung der üblichen EPA-Praxis entspreche.

2.3.2 Keine Gelegenheit, eine Rüge vor Schluss der Debatte schriftlich einzureichen

Im Anschluss an die Diskussion der letztrangigen Hilfsanträge sei die sachliche Debatte für beendet erklärt worden. Nach der schriftlichen Abfassung von Rügen sei aber nicht gefragt worden. Vor allem aber sei nicht darauf hingewiesen worden, dass nach dieser Zwischenberatung und der sich anschließenden Entscheidung über die letztrangigen Hilfsanträge auch unmittelbar die Endentscheidung verkündet werden würde.

Dies hätten die Vertreter der Patentinhaberin ausdrücklich bemängelt und infolgedessen insistiert, noch eine Rüge schriftlich einzureichen. Jedoch habe der Vorsitzende der Kammer erklärt, dass die Debatte geschlossen sei und nicht wieder eröffnet werde (vgl. Protokoll, Seite 6).

Mit Eingabe vom 17. Dezember 2021 hätten die Vertreter der Patentinhaberin die Korrektur des Protokolls beantragt. Denn - entgegen den Ausführungen auf Seite 6 des schriftlichen Protokolls zur mündlichen Verhandlung - hätte es eine Aufforderung allgemeiner Art des Vorsitzenden niemals gegeben, ob seitens der Beteiligten weitere Anmerkungen bestanden hätten.

[Die GBK ergänzt, dass die Beschwerdekammer in ihrer Mitteilung vom 3. Februar 2022 den Antrag auf Berichtigung bzw. Ergänzung des Protokolls der mündlichen Verhandlung abgelehnt hat.]

2.3.3 Zusammenfassung

Durch einen fehlenden Hinweis des Vorsitzenden und die vorherige Weigerung der Beschwerdekammer, Rügen nach Artikel 113 EPÜ zu Protokoll zu nehmen, sowie die vorherige Anordnung der Beschwerdekammer, Rügen gemäß Artikel 113 EPÜ i.V.m. Regel 106 EPÜ nur schriftlich zuzulassen, sei der Patentinhaberin die Gelegenheit genommen wurde, ihre betreffenden Rügen vorzutragen und zur Akte bzw. zu Protokoll zu bringen.

2.4 Verfahrensmängel nach Artikel 112a (2) d) und c) EPÜ betreffend die Beurteilung der Neuheit (Nr. 3d und 4d des Überprüfungsantrags)

Ein schwerwiegender Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ sowie ein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ liege in der fehlerhaften und widersprüchlichen Beurteilung der Neuheit des streitpatentgemäßen Gegenstands durch die Beschwerdekammer. Hierzu macht die Antragstellerin auf über sechs Seiten Darlegungen.

Die Antragstellerin habe im gesamten Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren wiederholt dargelegt, dass das in Rede stehende funktionell-technische Merkmal, wonach das streitpatentgemäße Kombinationstherapeutikum in zweckgerichteter Weise zur Verwendung bei der topischen nasalen Behandlung von Rhinitiden zu Zwecken der Verringerung der systemischen Resorption imidazolinbasierter alpha-Sympathomimetika eingesetzt wird, neuheitsbegründend sei (siehe Seite 18, letzter Absatz, des Antrags). Aufgrund des Vorliegens einer neuen Verwendung bzw. einer neuen medizinischen Indikation sei die Neuheit des erfindungsgemäßen Gegenstands und die Patentfähigkeit insgesamt zu bejahen (Seite 20, letzter Absatz).

Nach dem Verständnis der GBK beanstandet die Antragstellerin im Kern einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, der im Wesentlichen in den folgenden Absätzen zusammengefasst ist (Seite 23, vierter bis sechster Absatz des Überprüfungsantrags, Unterstreichung im Original, Fettdruck durch die GBK):

Obwohl seitens der zuständigen Beschwerdekammer durch die erstmals streitpatentgemäß erkannte Wirkung der verringerten bzw. ausbleibenden systemischen Resorption eine [sic] Nichtauftreten oder geringes Auftreten für Nebenwirkungen unter Verwendung der streitpatentgemäßen Wirkstoffkombination anerkannt zu werden scheint, wird dennoch die unmittelbar hieraus resultierende Verschiebung der Nutzen/Risiko-Abwägung in Abrede gestellt, und zwar mit der pauschalen und nicht weiter substantiierten Behauptung, dass dies nicht überzeugend sein soll (vgl. Seiten 25/26 unter Ziff. 4.3 c) ...).

Da die gesamte Argumentationslinie der Beschwerdekammer ..., welche zur Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin geführt hat, auf einander widersprechenden bzw. zumindest inkonsistenten Annahmen beruht, steht der Verstoß gegen die Begründungspflicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Entscheidung, weshalb der Verstoß gegen die Begründungspflicht in dem vorliegenden Fall einen schwerwiegenden Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ darstellt.

Zudem hat sich die zuständige Beschwerdekammer mit ihrer Begründung bezüglich der mangelnden Neuheit in eklatanten Widerspruch zur einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer G 2/08 gesetzt ...

Der Verstoß gegen die Begründungspflicht verletze auch das Recht auf rechtliches Gehör (siehe den ersten vollen Absatz auf Seite 24):

Darüber hinaus ist hierin zudem gleichermaßen auch ein Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ zu sehen: Da die Beschwerdekammer ihre Entscheidung betreffend den Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit bezüglich der vorgenannten Aspekte in der mündlichen Verhandlung weder mitgeteilt noch begründet hat, erlangte die Patentinhaberin erst mit der schriftlichen Zustellung der Entscheidung von der Argumentation der Beschwerdekammer und davon, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht vorliegt, Kenntnis. Da der Patentinhaberin diese widersprüchliche Argumentation zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht bekannt sein konnte und sie folglich hierzu während des Verfahrens auch nicht Stellung nehmen konnte, konnte die Patentinhaberin auch nicht davon ausgehen, dass die Beschwerdekammer aufgrund dieser in sich widersprüchlichen Argumentation die Beschwerde der Patentinhaberin zurückweisen würde, und wurde infolgedessen von der Argumentation in der schriftlichen Entscheidung überrascht und ist somit auch in ihrem Recht auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 EPÜ verletzt.

3. Die gestellten Anträge

Die Antragstellerin beantragt gemäß Artikel 112a (2) c) und d) EPÜ

- die Überprüfung der Entscheidung,

- deren Aufhebung und die Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Technischen Beschwerdekammer,

- die Rückzahlung der Antragsgebühr sowie

- im Fall der Wiedereröffnung des Verfahrens die Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer, welche an der zu überprüfenden Entscheidung mitgewirkt haben.

[Ende des Auszugs aus der Mitteilung]

4. Die Mitteilung der GBK

Teil A der Mitteilung: "Sachverhalt und Verfahren" ist vorstehend (abgesehen von wenigen redaktionellen Änderungen) wörtlich wiedergegeben.

In ihrer vorläufigen Meinung in Teil B der Mitteilung unterstellte die GBK die Zulässigkeit des Antrags auf Überprüfung bezüglich aller geltend gemachter Verfahrensmängel außer dem unter Buchst. c) von Nr. 3 und 4 genannten, d.h der fehlenden Gelegenheit zur Erhebung einer Rüge nach Regel 106 EPÜ (oben Nr. 2.3). Im Übrigen hielt sie den Antrag für offensichtlich unbegründet.

5. Die mündliche Verhandlung vor der GBK

Die mündliche Verhandlung vor der GBK fand am 18. Februar 2025 als Videokonferenz statt. In deren Verlauf bekräftigte die Antragstellerin ihr Vorbringen im Überprüfungsantrag und erläuterte es dabei unter Bezugnahme auf die negative vorläufige Meinung der GBK.

Ihre Schussanträge waren identisch mit den im Überprüfungsantrag gestellten Anträgen (siehe oben, Nr. 3).

Entscheidungsgründe

Vorbemerkung

Die Kammer hält an ihrer vorläufigen Beurteilung - wie in Teil B der Mitteilung wiedergegeben - in vollem Umfang fest. Nachfolgend ist dieser Teil daher wörtlich (abgesehen von wenigen redaktionellen Änderungen) wiedergegeben. Diese vorläufige Beurteilung wird daher nunmehr endgültig. Sie wird insbesondere durch eine Beurteilung relevanter Ausführungen der Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor der GBK ergänzt.

[Fortsetzung mit Teil B der Mitteilung]

I. Zulässigkeit

1. Allgemein

Gemäß Regel 126 (2) EPÜ (in der bis 31. Oktober 2023 gültigen Fassung) gilt die am 3. Februar 2022 dem Postdienstleister übergebene, mit Gründen versehene Entscheidung als am 13. Februar 2022 zugestellt. Der Antrag auf Überprüfung gemäß Artikel 112a EPÜ ging, zusammen mit der entsprechenden Gebühr, am 31. März 2022 und damit fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Beschwerdekammerentscheidung (Artikel 112a (4) EPÜ) ein.

2. Verfahrensmangel nach Artikel 112a (2) d) und c) EPÜ "infolge der überraschend vorzeitigen Beendigung der mündlichen Beschwerdeverhandlung ohne Gelegenheit der Rüge seitens der Patentinhaberin" (Nr. 3c und 4c des Überprüfungsantrags)

Insoweit ist der Überprüfungsantrag im Hinblick auf beide Bestimmungen Artikel 112a (2) d) und c) EPÜ unzulässig. Denn die Geltendmachung dieses Verfahrensmangels verkennt die rechtliche Bedeutung von Regel 106 EPÜ als bloße Zulässigkeitsvoraussetzung für die Geltendmachung eines Verfahrensmangels und nicht als eigener Verfahrensmangel im Sinne von Artikel 112a EPÜ. Diese Regel lautet:

Rügepflicht

Ein Antrag nach Artikel 112a Absatz 2 a) bis d) ist nur zulässig, wenn der Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens beanstandet wurde und die Beschwerdekammer den Einwand zurückgewiesen hat, es sei denn, der Einwand konnte im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden.

Der letzte Halbsatz beginnend mit "es sei denn" enthält die Rechtsfolge bei Fehlen eines Einwands, der nicht geltend gemacht werden konnte: Die Rügepflicht als Zulässigkeitserfordernis entfällt. Dabei bestimmt Regel 106 EPÜ nicht, aus welchem Grund der betreffende Einwand nicht erhoben konnte. Vielfach wird das der Fall sein, wenn der geltend gemachte Verfahrensmangel sich erst aus den schriftlichen Entscheidungsgründen der zur Überprüfung gestellten Entscheidung ergibt. Die Regel umfasst nach ihrem Wortlaut aber auch Fälle wie den vorliegenden, bei denen sich die Beschwerdekammer geweigert haben soll, eine Rüge entgegenzunehmen, nämlich entweder, sie zu protokollieren oder bzw. und eine schriftliche Fassung der Rüge zur Akte zu nehmen.

Dabei können die die Rüge betreffenden einzelnen Sachverhaltsfragen offenbleiben. Das gilt insbesondere für die Frage, ob die Kammer sich tatsächlich geweigert hat, eine Rüge entgegenzunehmen.

Zum Vorbringen, die Vertreter der Patentinhaberin hätten in der mündlichen Verhandlung eine Rüge zu Protokoll geben wollen, insbesondere im Hinblick auf Hilfsantrag IIB für den Fall der Nichtzulassung (A.2.3.1), sei darauf hingewiesen, dass dieser Hilfsantrag zum Verfahren zugelassen wurde (Entscheidungsgründe, Nr. 7.1).

Die GBK unterstellt jedenfalls zugunsten der Antragstellerin, dass betreffend die übrigen geltend gemachten Verfahrensmängel die Erfordernisse von Regel 106 EPÜ erfüllt sind. Wie sich zeigen wird, kommt es hierauf nicht an, da nach derzeitigem Stand der Überprüfungsantrag offensichtlich unbegründet ist.

[Ende des Auszugs aus der Mitteilung]

Ergänzend sei lediglich bemerkt, dass die - von der Antragstellerin angenommene - Rechtsnatur der Versagung einer Rügemöglichkeit durch eine Kammer als eigenständiger Verfahrensmangel wiederum eine Rügepflicht bezüglich dieser Versagung auslösen würde. Das könnte zu einer - theoretisch unendlichen - Spirale von Rügepflichten führen, welche die Anwendung der Vorschrift der Regel 106 EPÜ unpraktikabel machen würde. Die Annahme der Antragstellerin ist auch aus diesem Grund abzulehnen.

[Fortsetzung von Teil B der Mitteilung]

3. Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß Regel 107 EPÜ scheinen bezüglich der Verfahrensmängel a), b) und d) von Nr. 3 und 4 ebenfalls erfüllt zu sein.

Der Antrag auf Überprüfung wird damit bezüglich aller geltend gemachter Verfahrensmängel außer dem unter Buchst. c) von Nr. 3 und 4 genannten als zulässig unterstellt.

II. Begründetheit

1. Ausgangspunkt

Der Antrag ist begründet, wenn zumindest einer von jeweils mehreren geltend gemachten schweren Verfahrensmängeln

- gemäß Artikel 112a (2) (d) EPÜ, "insbesondere auch in Verbindung mit Regel 104 EPÜ", oder

- gemäß Artikel 112a (2) c) EPÜ wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Artikel 113 EPÜ)

vorliegt.

2. Analyse der geltend gemachten Verfahrensmängel

2.1 Verfahrensmängel gemäß Artikel 112a (2) d) EPÜ, "insbesondere auch in Verbindung mit Regel 104 EPÜ"

Diesbezüglich macht die Antragstellerin als in zulässig unterstellter Weise die oben (unter Nr. A.2) wiedergegebenen drei Gruppen a), b) und d) von schwerwiegenden Verfahrensmängeln geltend.

Insoweit ist von Bedeutung, dass der Gesetzgeber die Gründe, auf die ein Überprüfungsantrag gestützt werden kann, erschöpfend aufgezählt hat, nämlich in Artikel 112a (2) EPÜ in Verbindung mit Regel 104 EPÜ. Nicht in dieser Regel genannte Verfahrensmängel gelten nicht als schwerwiegende Verfahrensmängel im Sinne des Artikel 112a (2) d) EPÜ.

Das hat die GBK in R 12/22 ausführlich begründet; siehe Nr. II.2.2 (verbindlich gewordene, ursprünglich vorläufige Meinung der GBK), II.2.A.2 (Einwände der Antragstellerin hiergegen) und II.2.B (Zurückweisung der Einwände). Diese Begründung macht sich die GBK in der Besetzung im vorliegenden Fall zu eigen.

Demnach wären Verfahrensmängel nach Artikel 112a (2) d) EPÜ im Überprüfungsverfahren lediglich dann von Relevanz, wenn ein Mangel nach Regel 104 a) oder 104 b) EPÜ (oder Mängel nach beiden Vorschriften) geltend gemacht würde(n). Die Antragstellerin hat sich aber weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (Regel 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (Regel 104 b) EPÜ) berufen.

Folglich sind sämtliche Ausführungen in Teil 3 (Seiten 13 - 24) des Antrags zu Artikel 112a (2) d) EPÜ in Bezug auf diese Vorschrift gegenstandslos.

Allerdings korrespondiert ein jeder der drei (unter Nr. 3 a), b) und d) des Überprüfungsantrags) betreffend Artikel 112a (2) d) EPÜ geltend gemachten Verfahrensmängel mit einem jeden der drei ebenfalls (unter Nr. 4 a), b) und d) des Überprüfungsantrags) behaupteten Verfahrensmängel nach Buchstabe c) dieser Vorschrift. Die Überschriften von Nr. 3a), b) und d) entsprechen in derselben Reihenfolge denjenigen von Nr. 4a), b) und d). Darüber hinaus beruft sich die Antragstellerin im Rahmen des Vorbringens zu Buchstabe c) auch bezüglich eines jeden Verfahrensmangels auf die entsprechenden Ausführungen im Rahmen von Buchstabe d) von Artikel 112a (2) EPÜ. Danach begründe der jeweilige zu letzterem Buchstaben geschilderte Sachverhalt auch einen Verstoß gegen Buchstabe c), also Artikel 113 EPÜ.

Daher behandelt die GBK die Ausführungen unter Nr. 3a), b) und d) zu Artikel 112a (2) d) EPÜ zusammen mit den entsprechenden Ausführungen unter Nr. 4a), b) und d) zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln nach Artikel 112a (2) c) EPÜ i.V.m. Artikel 113 EPÜ.

Bezüglich der geltend gemachten Verfahrensmängel gemäß Artikel 112a (2) d) EPÜ, "insbesondere auch in Verbindung mit Regel 104 EPÜ" ist der Überprüfungsantrag offensichtlich unbegründet.

2.2 Verfahrensmängel gemäß Artikel 112a (2) c) EPÜ wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Artikel 113 EPÜ)

Vorbemerkung

Artikel 113 EPÜ regelt zwei Pflichten des EPA: die Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren in Absatz 1 und die Pflicht, sich bei der Prüfung an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung der Patentanmeldung oder des Patents zu halten. Da sich das Vorbringen der Antragstellerin zu Artikel 113 EPÜ offenkundig ausschließlich auf das rechtliche Gehör bezieht ist, ist in dieser Entscheidung bei Nennung der von der Antragstellerin verwendeten Bezeichnung "Artikel 113 EPÜ" nachstehend ausschließlich dessen Absatz 1 gemeint.

2.2.1 Verstöße gegen Artikel 113 (1) EPÜ im Zusammenhang mit der angekündigten mündlichen Verhandlung in Präsenz und deren tatsächlicher Durchführung als Videokonferenz (Nr. 4a),b) und 3a),b))

Unter Buchstabe a) von Nr. 3 und 4 wendet sich die Antragstellerin gegen

- die Änderung des Formats der mündlichen Verhandlung von Präsenzverhandlung zu Videokonferenz ohne Begründung sowie

- Anordnungen im Vorfeld der ursprünglich als Präsenzverhandlung angekündigten mündlichen Verhandlung, nämlich Beschränkung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung auf maximal zwei Personen pro Beteiligtem und Verwendung von Gesichtsmasken im Verhandlungsraum während der gesamten Dauer der Verhandlung, d. h. auch während der mündlichen Vorträge.

Unter Buchstabe b) von Nr. 3 und 4 beanstandet die Antragstellerin, dass das Format der Videokonferenz gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoße. Insofern rügt die Antragstellerin ausschließlich, dass im vorliegenden Fall die durch die Entscheidung der GBK im Fall G 1/21 gesetzten, sehr engen Voraussetzungen für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht vorgelegen hätten. Konkrete Beeinträchtigungen des Rechts auf rechtliches Gehör macht sie nicht geltend.

Bewertung

Zu Buchstabe b)

In G 1/21 hat die GBK (insbesondere in Nr. 40 und 43) entschieden, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist. In R 12/22 hat die GBK das ausführlich dargestellt.

Im Leitsatz 1 dieser letzteren Entscheidung heißt es diesbezüglich u.a., eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit im Rahmen einer als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer stelle keinen Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ dar (unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe, Abschnitt II.B.3.2.1d)).

Weiter heißt es in R 12/22, ein Gehörsverstoß wegen der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz käme in erster Linie dann in Frage wenn im Einzelfall ein Beteiligter sich aufgrund bei der Durchführung der Videokonferenz aufgetretener technischer Mängel und dem Fehlen von angemessenen Abhilfemaßnahmen zu konkreten Gesichtspunkten nicht äußern könnte.

(Seite 18, 2. Absatz von R 12/22 unter Bezugnahme auf relevante Passagen von G 1/21) Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es Sache der Beteiligten ist, die Kammer, insbesondere den Vorsitzenden, auf Schwierigkeiten des Mitverfolgens der mündlichen Verhandlung hinzuweisen, langsameren Vortrag oder Wiederholungen von Vortrag, Klarstellung, wer für wen spricht etc. zu beantragen.

Mangels Stattgabe eines solchen Antrags kann der Beteiligte unter Vortrag konkreter Umstände die Vertagung der Videokonferenz zur Ermöglichung der Behebung von technischen Problemen bzw. die Umwandlung in eine Präsenzverhandlung beantragen.

(idem, Seite 21, letzter Absatz)

Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin sich darauf beschränkt zu rügen, die im Fall G 1/21 gesetzten, sehr engen Voraussetzungen für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz hätten nicht vorgelegen. Sie hat keine konkreten - wie etwa die vorgenannten - Umstände behauptet, wodurch ihr die Ausübung ihres Rechts auf rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren verweigert worden sei, und für die Kammer sind auch keine derartigen Umstände ersichtlich.

Damit liegt in der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz offensichtlich kein Gehörsverstoß.

[Ende des Auszugs aus der Mitteilung]

In der mündlichen Verhandlung vor der GBK wiederholte die Antragstellerin ihren grundsätzlichen Standpunkt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gegen den Willen eines Beteiligten grundsätzlich gegen das in Artikel 113 (1) EPÜ verankerte Recht auf rechtliches Gehör verstoße, Das gelte ausnahmsweise dann nicht, wenn die in der Entscheidung der GBK im Fall G 1/21 genannten Ausnahmen vorlägen. Die Antragstellerin nahm dabei Bezug auf Nr. 37 (betreffend Vorbringen der Beteiligten wonach Verhandlungen per Videokonferenz nicht gleichwertig ("equivalent") mit Präsenzverhandlungen seien), Nrn38, 40, 41, 42 sowie 45. Unter letzterer Nummer habe die GBK die Präsenzverhandlung als "Goldstandard" bezeichnet; das bedeute, sie habe die Präsenzverhandlung als bewährte und beste Methode angesehen.

Dieses Vorbringen in der mündlichen Verhandlung hat die GBK in ihrer Mitteilung oben unter Bezugnahme auf ihre Entscheidung im Fall R 12/22 behandelt. Hieran hält die GBK fest.

Zu der vorstehenden Aussage in der Mitteilung der GBK, die Antragstellerin hätte keine konkreten Umstände behauptet, wodurch ihr die Ausübung ihres Rechts auf rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren verweigert worden sei, trug die Antragstellerin vor, eine konkrete Beanstandung sei nicht möglich gewesen. Sie habe zu Beginn der mündlichen Verhandlung Umstände vorgetragen , die gegen eine Videokonferenz gesprochen hätten.

Sie wies aber auch die Umstände hin, wonach die Videokonferenz "chaotisch" verlaufen sei und sich die Vertreter der Antragstellerin schwer hätten orientieren können, insbesondere im Hinblick auf die Vielzahl von kleinen Bildschirmen.

Aus Sicht der GBK hätten gerade diese Umstände die Vertreter der Antragstellerin veranlassen müssen, ab dem Zeitpunkt, ab dem sie es als unzumutbar empfand, der Verhandlung in Form einer Videokonferenz zu folgen und in ihr aktiv die Interessen der Antragstellerin zu vertreten, das zu rügen. Eine allgemeine Beanstandung zu Beginn der Verhandlung, die Voraussetzungen für die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz seien nicht gegeben, genügte aus den vorgenannten Gründen (wonach eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich mit dem Recht auf rechtliches Gehör vereinbar ist) nicht.

[Fortsetzung von Teil B der Mitteilung]

Zu Buchstabe a)

Verfahrensmangel: Änderung des Formats der mündlichen Verhandlung ohne Begründung

Die Antragstellerin rügt, die - ohne Begründung und ohne Möglichkeit zur Gegenstellungnahme ergangene - Beschwerdekammermitteilung vom 16. November 2021 mit der Anordnung, wonach die für den 23. November 2021 angesetzte mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchgeführt werden sollte, sondern die Beteiligten zu einer Verhandlung per Videokonferenz geladen würden.

Mangels Begründung hätten die Vertreter der Patentinhaberin keinerlei Möglichkeit gehabt, sich mit dieser Entscheidung bzw. Anordnung auseinanderzusetzen.

Bewertung

[a) Die vorläufige Meinung der GBK]

Wie oben ausgeführt, stellt die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz gegen den Willen der Antragstellerin im vorliegenden Fall keine Ausnahme vom Grundsatz dar, dass eine derartige Durchführung das Recht auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Gleiches muss damit für das Verfahren der Entscheidungsfindung betreffend die Art der Durchführung der Verhandlung - in Präsenz oder per Videokonferenz - gelten, also für die Frage, ob die Ausübung des der Kammer nach G 1/21 (Nr. 50) zustehenden Ermessens mit Artikel 113 (1) EPÜ vereinbar war. Im Einzelnen stellt sich daher weder die Frage, ob

- das Ermessen vorliegend korrekt ausgeübt wurde, insbesondere ob die Anordnungen der Beschränkung der Anwesenheit pro Beteiligtem auf zwei Personen und die Maskenpflicht selbst bei mündlichem Vortrag zur Änderung des Formats als eine Ermessenserwägung führen durften (geltend gemacht unter dem Verfahrensmangel "Anordnungen für die Teilnahme an der ursprünglich anberaumten Präsenzverhandlung", siehe nächste Überschrift),

- die Ermessenserwägungen in Fällen wie dem vorliegenden überhaupt und sogar stets offenzulegen sind oder

- das Ergebnis von Ermessensentscheidungen ohne Weiteres revidiert und ins Gegenteil verkehrt werden darf, und damit, ob

- der Antragstellerin Gelegenheit zur Stellungnahme zur Ermessensausübung hätte gegeben werden müssen.

Anders als bei der Frage der Zulassung neuen Vorbringens (siehe z.B. R 12/22, Abschnitt 3.2.4), kann es demnach nicht darauf ankommen, ob die Ausübung des Ermessens offensichtlich unrichtig war.

Denn anders als im Falle der Ermessensausübung beim Thema Zulassung, die zu einer rechtswidrigen Nicht-Zulassung - und damit einem Gehörsverstoß - führen kann, kann eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen, wenn - wie hier - ein konkreter Mangel der Videokonferenz während derselben nicht behauptet wurde.

Die Beteiligten wurden im Übrigen zur Frage der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz gehört, so dass auch insofern kein Gehörsverstoß vorliegt. Die Antragstellerin hat sich hierauf auch nicht berufen.

b) Die Reaktion der Antragstellerin auf die vorläufige Meinung

In der mündlichen Verhandlung vor der GBK vertrat die Antragstellerin den Standpunkt, die Änderung des Formats der Verhandlung vor der Beschwerdekammer ohne Begründung der Ermessensausübung durch die Mitteilung vom 16. November 2021 sei ein Akt der Willkür. Nach Nr. 50 von G 1/21 müssten bei der Ermessensausübung gute Gründe für eine Videokonferenz gegeben werden. Es sei nicht erkennbar gewesen, warum die Umladung erfolgt sei. Diese Entscheidung im Vorfeld der mündlichen Verhandlung sei daher unheilbar verfahrensfehlerhaft.

c) Das Vorgehen der Beschwerdekammer bezüglich der Umladung

In der vorgenannten Mitteilung vom 16. November 2021 heißt es:

Die für den 23. November 2021 angesetzte mündliche Verhandlung wird nicht als Präsenzverhandlung durchgeführt werden. Die Parteien werden zu einer Verhandlung per Videokonferenz geladen.

Abhängig von der Antragslage der Parteien wird unter Umständen zunächst zu diskutieren sein, ob die Verhandlung in der Sache an diesem Tag stattfinden kann, oder ob sie auf einen späteren Zeitpunkt als Präsenzverhandlung verschoben wird. Es wird erwartet, dass die Parteien auf eine Verhandlung in der Sache vorbereitet sind für den Fall, dass die Kammer die Durchführung einer solchen Verhandlung am 23. November 2021 beschließt.

Die Frage des Formats der Verhandlung - als Videokonferenz oder in Präsenz - wurde - wie in dieser Mitteilung angekündigt - in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2021 erörtert. Im Protokoll der Verhandlung liest man auf Seite 3, letzter voller Absatz:

Es wurde diskutiert, ob die mündliche Verhandlung per Videokonferenz durchgeführt werden kann, oder ob dem Antrag der Beschwerdeführerin vom 10. November 2021 auf Verlegung der mündlichen Verhandlung stattgegeben werden soll. Nach Beratung der Kammer gab der Vorsitzende bekannt, dass die Kammer zu dem Schluss gekommen ist, den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung abzulehnen.

d) Bewertung

Die Umladung

Bei der Ladung zu einer Verhandlung per Videokonferenz in der Mitteilung vom 16. November 2021 handelt es sich um eine verfahrensleitende Verfügung.

Es trifft zwar zu, dass nach Nr, 50 von G 1/21 "die Entscheidung, ob gute Gründe [für die Nichtdurchführung einer Präsenzverhandlung vorliegen], eine Ermessensentscheidung ... sein muss" (Übersetzung der erkennenden GBK). Dennoch bleibt es bei den obigen Ausführungen, unter Buchstabe a): Selbst bei rechtswidriger Ausübung des Ermessens bei der Findung der verfahrensleitenden Verfügung kann kein Gehörsverstoß vorliegen, wenn das Ergebnis dieser Ermessensausübung, d.h. Verfügung, die die mündliche Verhandlung als Videokonferenz im Einzelfall durchzuführen, - wie hier - keinen Gehörsverstoß darstellt.

Die Frage, wann eine Erörterung der Frage der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mit den Beteiligten stattfindet, betrifft die Verfahrensökonomie. Wird sie im Vorfeld der Verhandlung erörtert, kann das die Terminierung der mündlichen Verhandlung verzögern. Geschieht dies nicht und wird eine Videokonferenz ohne Gelegenheit zur Erörterung verfügt, so kann nach einer Debatte zu Beginn der Videokonferenz entschieden werden, dass diese als Präsenzverhandlung durchzuführen ist. Gleichzeitig kann ein - ggf. kurzfristiger - Termin hierfür vereinbart werden.

Vorliegend enthielt die verfahrensleitende Verfügung noch keine abschließende Anordnung der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz, sondern machte eine derartige Anordnung vom Verlauf einer möglichen Debatte zu dieser Thematik abhängig. Die abschließende Anordnung erfolgte erst nach ebendieser Debatte in der mündlichen, als Videokonferenz begonnenen und - nach Ablehnung des Antrags auf Verlegung - in diesem Format endgültig fortgesetzten Verhandlung.

Bei dieser Sachlage kann in der vorläufigen Anordnung der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz kein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör erblickt werden: Die Antragstellerin hatte zu Beginn der Verhandlung Gelegenheit, zu deren Format Stellung zu nehmen. Der Vorwurf der Willkür entbehrt damit jeglicher Grundlage.

Die Begründung der Ermessensausübung in der Entscheidung

In der mündlichen Verhandlung vor der GBK hat die Antragstellerin auch die Begründung der Ermessensentscheidung zugunsten einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz in der zu überprüfenden Entscheidung beanstandet. Wesentliche Argumente seien nicht berücksichtigt worden, darunter auch die Komplexität der Sache, oder falsch gewichtet worden, wie die Anreise zur Verhandlung. Es liege daher ein eklatanter Begründungsmangel vor.

Bewertung

Nachdem die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz im vorliegenden Fall nicht gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoßen hat, könnte eine - auch offensichtlich, wie geltend gemacht - fehlerhafte Ermessensausübung zugunsten einer Videokonferenz, wie bereits in der Mitteilung angenommen, an sich keinen Gehörsverstoß begründen.

Auf eine weitergehende Prüfung wird daher verzichtet. Es sei lediglich auf die Grundsätze hingewiesen, die unten bei der Prüfung der Begründung für die fehlende Neuheit wiedergegeben sind. Danach müsste sich eine offenkundige Fehlerhaftigkeit der Ermessensausübung dem Durchschnittsleser aufdrängen. Davon geht die GBK im Hinblick auf die ausführlichen Erwägungen unterschiedlicher Gesichtspunkte auf mehr als drei Seiten (unter Nr. 1, Seiten 15 bis 18 oben) nicht aus - ohne dass das, wie ausgeführt - überhaupt relevant wäre.

[Fortsetzung von Teil B der Mitteilung]

Verfahrensmangel: Anordnungen für die Teilnahme an der ursprünglich anberaumten Präsenzverhandlung

Lt. Antragstellerin hätten die Anordnungen, die Teilnehmerzahl pro Beteiligtem auf zwei Teilnehmer zu beschränken und zum anderen auch während des mündlichen Vortrags eine Gesichtsmaske tragen zu lassen, jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt und seien vor allem nicht vom EPA in ständiger Rechtsausübung praktiziert worden. Ohne diese Anordnungen hätte keinerlei Veranlassung bestanden, von einer Präsenzverhandlung abzugehen.

Bewertung

Die Frage, ob diese Anordnungen gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoßen haben, bedarf keiner Beantwortung. Denn die Maßnahmen entfalteten als solche wegen der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz keine Wirkung; sie wurden hierdurch überholt.

Dass wegen dieser Anordnungen die Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt wurde, mag zutreffen (Entscheidungsgründe Nr. 1, 4. Absatz), ist aber irrelevant, wie bereits oben bezüglich der Ermessensausübung der Kammer betreffend das Format der mündlichen Verhandlung ausgeführt.

Demnach liegt offenkundig wegen der geltend gemachten Verstöße nach Buchst. a) und b) von Nr. 3 und 4 des Überprüfungsantrags kein Verfahrensmangel nach Artikel 112a (2) (c) EPÜ vor.

2.2.2 Verfahrensmängel betreffend die Beurteilung der Neuheit: Begründungsmängel

a) Vorliegend relevante Grundprinzipien betreffend die Überprüfung der Begründung von Entscheidungen einer Beschwerdekammer nach Artikel 113 (1) EPÜ

Begründung und Berücksichtigung

Der Orientierungssatz 1 von R 12/22 lautet:

Die Begründungspflicht von Entscheidungen der Beschwerdekammern nach Regel 102 g) EPÜ ist nicht von Artikel 112a (2) d) EPÜ umfasst. Begründungsmängel sind nur unter den Voraussetzungen von Artikel 112a (2) c) i.V.m. 113 (1) EPÜ relevant. Diese Voraussetzungen sind [u.a.] im Orientierungssatz von R 10/20 genannt. (Entscheidungsgründe II.2.B)

"Korrelat" zum Äußerungsrecht nach Artikel 113 (1) EPÜ ist die Pflicht zur Begründung einer Entscheidung nur unter diesen Voraussetzungen. Als "Korrelat" allgemein kann man das Recht auf Berücksichtigung des Geäußerten, d.h. dessen Kenntnisnahme und Erwägung (Prüfung, ob das Vorbringen relevant und ggf. richtig ist) ansehen. (Entscheidungsgründe ebenda)

Bezüglich des Kriteriums der Berücksichtigung ist der Orientierungssatz von R 10/20 (zu Abschnitt B. II.3.2.1.1 und 3.2.1.2) relevant. Er lautet:

Artikel 113(1) EPÜ verlangt, dass die Kammer Vorbringen eines Beteiligten in der Sache berücksichtigt hat, d.h.

- erstens, dass sie das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis genommen und

- zweitens dieses Vorbringen erwogen hat, d.h. geprüft hat, ob es relevant und ggf. richtig ist.

Es wird vermutet, dass eine Kammer das Vorbringen eines Beteiligten in der Sache berücksichtigt hat, welches sie in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hat. Denn dann ist anzunehmen, dass es aus ihrer Sicht nicht relevant war. Diese Vermutung kann widerlegt sein, wenn Anzeichen für eine Nicht-Berücksichtigung vorliegen, z.B. wenn eine Kammer in den Entscheidungsgründen das Vorbringen eines Beteiligten nicht behandelt, welches objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles ist, oder derartiges Vorbringen von der Hand weist, ohne es zuvor auf seine Richtigkeit zu überprüfen.

(Siehe Nr. 3.2.1.1; Weiterführung von R 8/15, R 10/18 und R 6/20)

Der Charakter eines Vorbringens als objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles muss sich aufdrängen. Das folgt daraus, dass das Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ grundsätzlich nicht der Überprüfung des materiellen Rechts dient, weswegen Ausnahmen von diesem Grundsatz nur unter strengen Voraussetzungen zuzulassen sind.

(Siehe Nr. 3.2.1.2)

Behandlung des im Rahmen der Erwägung als relevant erkannten Vorbringens

Sofern und soweit die Kammer eine Begründung gegeben - und damit die jeweilige Frage als relevant eingestuft - hat, gilt:

In R 8/15 befand die Große Beschwerdekammer, dass Artikel 113 (1) EPÜ enger auszulegen ist als Regel 102 g) EPÜ. Nach dieser Regel muss eine Kammer ihre Entscheidung begründen, ein Verstoß gegen diese Regel ist aber für sich genommen kein Überprüfungsgrund. Die Begründung kann daher zwar unvollständig sein, doch solange sie den Schluss zulässt, dass die Kammer im Laufe des Beschwerdeverfahrens einen bestimmten von ihr für relevant befundenen Punkt sachlich geprüft hat, liegt kein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ vor. (Leitsatz 2).

Eine widersprüchliche Begründung könnte nach den vorstehenden Grundsätzen nur dann beanstandet werden, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit wären, dass die Kammer das Vorbringen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hätte und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles gewesen wäre. Ebenso wie die objektiv entscheidende Bedeutung für den Ausgang des Falles sich aufdrängen muss, muss sich auch aufdrängen, dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend ist mit einer Nicht-Begründung, indem sie beispielsweise völlig konfus ist. Dann könnte anzunehmen sein, dass die Kammer das Vorbringen nicht erwogen, d.h. in der Sache (ernsthaft) auf seine Relevanz und ggf. Richtigkeit geprüft hätte (siehe R 12/22, 3.2.5., Seite 47).

Im Rahmen von Artikel 112a EPÜ führt die GBK auch keine vollständige Überprüfung einer Entscheidung auf deren Vereinbarkeit mit dem EPÜ oder anderem Recht durch.

In der EPA-Publikation "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage 2022 (im Folgenden: "Rechtsprechung"), heißt es in Abschnitt V.B.3.4.3:

Der Überprüfungsantrag darf keinesfalls dazu instrumentalisiert werden, die Anwendung des materiellen Rechts überprüfen zu lassen. ... Die Große Beschwerdekammer ist gemäß Art. 112a EPÜ nicht befugt, die Entscheidung in der Sache zu prüfen und im Überprüfungsverfahren inhaltlich auf einen Fall einzugehen ...

Der Zweck des Überprüfungsverfahrens besteht nicht darin zu beurteilen, ob die von der Kammer angegebenen Gründe angemessen sind oder nicht ...; die Große Beschwerdekammer kann die sachliche Beurteilung einer Kammer nicht durch ihre eigene ersetzen ... Die Große Beschwerdekammer kann im Überprüfungsverfahren nicht als eine dritte Instanz bzw. als ein übergeordnetes Berufungsgericht fungieren ...

Keine Pflicht zur vorherigen Ankündigung des Ergebnisses

Die wesentlichen Erwägungen der Entscheidung der Kammer müssen nicht vorab bekanntgegeben werden, um den betroffenen Beteiligten die Möglichkeit einzuräumen, diese zu kommentieren (siehe Rechtsprechung, Abschnitt V.B.4.3.5). Ausreichend ist, wenn die Beteiligten die Gelegenheit hatten, zu allen tatsächlichen und rechtlichen Aspekten Stellung zu nehmen, wie das Artikel 113 (1) EPÜ verlangt.

Keine überraschende Entscheidung

Der Inhalt einer Entscheidung darf die Beteiligten allerdings - objektiv - nicht überraschen. So heißt es unter der Überschrift ,,Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ - überraschende Entscheidungsbegründung" in der Entscheidung im Fall R 3/15 unter Nr. 4.1:

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ erfordert es, dass die Entscheidung nur auf Gründe gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Dies bedeutet insbesondere, dass ein Beteiligter nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel in der Entscheidungsbegründung überrascht werden darf ...

Dass die Überraschung objektiv vorliegen muss, hat die GBK jüngst bestätigt (in R 8/19 vom 12. April 2024, Nr. 9).

b) Anwendung der vorliegend relevanten Grundprinzipien

Die Anforderungen der vorstehenden Grundprinzipien sind bezüglich der drei beanstandeten Begründungsmängel offenkundig erfüllt.

Die gerügten Begründungsmängel

Diese sind (s.o. Abschnitt I.2.4);

- Verneinung einer Verschiebung der Nutzen/Risiko-Abwägung mit der pauschalen und nicht weiter substantiierten Behauptung, dass dies nicht überzeugend sein soll

- Argumentationslinie beruht auf einander widersprechenden bzw. zumindest inkonsistenten Annahmen

- Begründung zur mangelnden Neuheit in eklatantem Widerspruch zur einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer im Fall G 2/08

Bewertung

- Die Antragstellerin hebt auf Mängel der von der Beschwerdekammer gegebenen Begründung zu der - von der Kammer damit als relevant eingestuften - Frage der Beurteilung der Neuheit der zu überprüfenden Entscheidung ab und räumt damit selbst die Berücksichtigung, d.h. die Kenntnisnahme und das Erwägen, ihre Vorbringens ein.

- Soweit - wie oben wiedergegeben - eine "Verschiebung der Nutzen/Risiko-Abwägung in Abrede gestellt [wird], und zwar mit der pauschalen und nicht weiter substantiierten Behauptung ...", könnte darin, falls zutreffend, eine unvollständige Begründung zu sehen sein, welche im Hinblick auf die Berücksichtigung des Vorbringens unschädlich wäre.

- Unschädlich wären auch - falls zutreffend - die geltend gemachten "widersprechenden bzw. zumindest inkonsistenten Annahmen", da diese keiner Nicht-Behandlung der fraglichen Thematik gleichkommen, sondern eine Prüfung in der Sache und keine sich aufdrängende fehlende Begründung darstellen. Die geltend gemachte Überraschung durch die schriftliche Entscheidung aufgrund der angeblich widersprüchlichen Argumentation ist daher rein subjektiv und damit ebenfalls unerheblich.

- Unschädlich wäre auch der behauptete "eklatante Widerspruch zur einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer G 2/08", da ein derartiger Widerspruch ggf. eine - nicht überprüfbare - fehlerhafte Rechtsanwendung bedeuten würde.

Schließlich mussten die wesentlichen Erwägungen der Entscheidung der Kammer nicht vorab bekanntgegeben werden.

c) Ergebnis

Die vorstehende Erörterung hat gezeigt, dass die geltend gemachten Begründungsmängel betreffend die Beurteilung der Neuheit offenkundig keinen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör darstellen.

[Ende des Auszugs aus Teil B der Mitteilung]

d) Die Reaktion der Antragstellerin auf die vorläufige Meinung

In der mündlichen Verhandlung bekräftigte die Antragstellerin ihre Kritik an der Begründung fehlender Neuheit. Die Begründungsmängel führten zwar nicht zur Annahme einer Nicht-Begründung. Es lägen aber grobe Widersprüche vor, eine Verkettung inkonsistenter Annahmen sowie eine eklatant falsche logische Verknüpfung.

Zu der in der Mitteilung verneinten Frage, dass die Begründungsmängel (die einer fehlenden Begründung gleichzustellen wären) ins Auge sprängen, vertrat die Antragstellerin die Auffassung, dass diese Mängel für den Fachmann augenfällig seien (siehe Seite 20 der Mitteilung, oben, erster Spiegelstrich; hier oben b), dritter Spiegelstrich unter "Bewertung").

e) Bewertung

Nach Auffassung der GBK muss es sich bei der relevanten Person, der eklatante Begründungsmängel ins Auge springen müssen, um den Durchschnittsleser und nicht den Fachmann handeln. Eine auch nur ansatzweise technische Beurteilung darf hierfür nicht erforderlich sein. Offensichtlich fehlerhafte Brüche in der Argumentation müssen vielmehr ohne Fachkunde einleuchten. Denn andernfalls würde ein Graubereich der inhaltlichen Überprüfung entstehen, und es könnte zu der - im Rahmen von Art. 112a EPÜ grundsätzlich nicht vorgesehenen - inhaltlichen Überprüfung der Entscheidung kommen. Dass die geltend gemachten Begründungsmängel dem Nicht-Fachmann ins Auge sprängen, hat die Antragstellerin nicht behauptet.

Die GBK bleibt damit bei ihrer Auffassung (oben b), dritter Spiegelstrich), dass - falls zutreffend - die geltend gemachten "widersprechenden bzw. zumindest inkonsistenten Annahmen" unschädlich wären. Denn diese würden keiner Nicht-Behandlung der fraglichen Thematik gleichkommen, sondern eine Prüfung in der Sache und keine sich aufdrängende fehlende Begründung darstellen.

3. Zusammenfassung

Nach alledem erweist sich der Überprüfungsantrag - soweit er nicht offensichtlich unzulässig ist -

- gemäß Artikel 112a (2) d) EPÜ, "insbesondere auch in Verbindung mit Regel 104 b) EPÜ)", und

- gemäß Artikel 112a (2) c) EPÜ wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Artikel 113 EPÜ)

als offensichtlich unbegründet.

III. Gesamtergebnis

Aufgrund der Ergebnisse der vorstehenden Untersuchung ist der Überprüfungsantrag gemäß Regel 109 (2) a) EPÜ als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor den Beschwerdekammern gemäß Artikel 112a (5) Satz 2 und Regel 108 (3), Satz 1, EPÜ kommt nicht in Betracht, da sie nur im Falle eines begründeten Überprüfungsantrags vorgesehen ist. Mangels Wiederaufnahme des Verfahrens ist auch eine Anordnung, dass Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen sind, nicht möglich. Schließlich kann die Erstattung der Antragsgebühr nach Regel 110 EPÜ nicht angeordnet werden, da das Verfahren vor den Beschwerdekammern nicht wiedereröffnet wird.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Antrag auf Überprüfung wird einstimmig teilweise als offensichtlich unzulässig und im Übrigen als offensichtlich unbegründet verworfen.

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