R 0004/22 (Antrag auf Überprüfung) of 16.9.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:R000422.20240916
Datum der Entscheidung: 16 September 2024
Aktenzeichen: R 0004/22
Anmeldenummer: 08105512.1
IPC-Klasse: B41F 33/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 443 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Anzeigevorrichtung für Bedruckstoffe verarbeitende Maschinen
Name des Anmelders: Heidelberger Druckmaschinen Intellectual Property
AG & Co. KG
Name des Einsprechenden: manroland sheetfed GmbH
Koenig & Bauer AG
Komori Corporation
Kammer: EBA
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 112a(2)(c)
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention R 106
Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms Art 6
Schlagwörter: Nichtzulassung eines Hilfsantrags - Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (nein)
Antrag auf Überprüfung - offensichtlich unbegründet
Orientierungssatz:

Eine Ermessensausübung durch eine Beschwerdekammer bezüglich der Zulässigkeit neuen Vorbringens kann nur überprüft werden, wenn sie willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig ist und damit eine schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf rechtlichen Gehörs vorliegt (Entscheidungsgründe 2.1).

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gibt keine Anhaltspunkte dafür, einschränkende Regelungen wie die des Konvergenzansatzes grundsätzlich in Frage zu stellen oder ihrer Anwendung generell die Vereinbarkeit mit Artikel 6 EMRK abzusprechen. Nach der einschlägigen Rechtsprechung sei im Gegenteil "die Einhaltung formalisierter Zivilprozessregeln, durch die die Parteien die Entscheidung eines Zivilstreits sicherstellen, wertvoll und wichtig, ... da sie in der Lage" ist, "den Ermessensspielraum zu begrenzen, die Waffengleichheit zu gewährleisten, Willkür zu verhindern, die wirksame Entscheidung einer Streitigkeit und die Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist zu gewährleisten und Rechtssicherheit und Achtung des Gerichts zu gewährleisten" (Entscheidungsgründe 2.10).

Das Nemo-Tenetur-Prinzip (das Recht sich nicht selbst belasten zu müssen) gilt nur im Strafverfahren (Entscheidungsgründe 2.11).

Eine bewusste Zurückhaltung der Rückzugposition gemäß Hilfsantrag aus prozesstaktischen Gründen bis zur mündlichen Verhandlung scheint gerade dem Grundsatz der Waffengleichheit zu widersprechen, nachdem die Gegenseite die vermeintliche Schwachstelle des Patents ja bereits frühzeitig offengelegt hat, und damit ihrer Pflicht zur Verfahrensbeförderung nachgekommen ist (Entscheidungsgründe 2.12).

Die Rechtsprechung des EKMR zur Nichtzulassung eines Antrags oder Beweismittels bezieht sich insbesondere auf die Prüfung, ob ein legitimes Ziel in verhältnismäßiger Weise verfolgt wurde oder ob ein ,,übertriebener Formalismus" vorliegt (keine derartigen Umstände in diesem Fall) (Entscheidungsgründe 2.12).

Die Regelungen nach VOBK 2007 bzw. VOBK 2020 galten für beiden Parteien gleich. Die Ausgestaltung der Übergangsbestimmungen in Artikel 25 VOBK 2020 liegt dabei im Ermessensspielraum des Gesetzgebers (Entscheidungsgründe 2.13).

Angeführte Entscheidungen:
R 0010/09
R 0009/11
R 0010/11
R 0011/11
R 0013/11
R 0017/11
R 0004/13
R 0006/17
R 0006/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Antragstellerin (Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin - im Folgenden:,,Antragstellerin") hat einen Antrag auf Überprüfung der Entscheidung

T 1786/16-3.2.05 vom 28. September 2021 gemäß Artikel 112a EPÜ gestellt und begründet. In dieser Entscheidung wurde der Beschwerde der Einsprechenden stattgegeben und das europäische Patent 2 055 483 widerrufen. Der Hauptantrag (Hilfsantrag im Verfahren vor der Einspruchsabteilung) der Antragstellerin wurde als nicht gewährbar befunden und ihr in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereichter Hilfsantrag nicht im Verfahren zugelassen. Die Antragstellerin erhob gegen die Nichtzulassung des Hilfsantrags eine Rüge nach Regel 106 EPÜ. Der Einwand wurde zurückgewiesen.

II. Die Antragstellerin stützt sich auf Artikel 112a (2) c) EPÜ und macht geltend, dass die Nichtzulassung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrags ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ schwerwiegend verletze.

III. Mit der im Verfahren vor der Beschwerdekammer angefochtenen Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung wurde das Patent entsprechend einem in der mündlichen Verhandlung vor der Abteilung gestellten Hilfsantrag in geändertem Umfang aufrechterhalten. Erst in der Beschwerdebegründung vom 18. Oktober 2016 machte die Einsprechende 3 (Beschwerdeführerin - im Folgenden: ,,Einsprechende") geltend, dass der Anspruch 1 des Hilfsantrags, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag, nicht die Voraussetzungen des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle - da, nach Auffassung der Einsprechenden, durch die Kombination der Merkmale ,,[1e1]" und ,,[1h]" im Anspruch 1 des Hilfsantrags eine unzulässige Erweiterung vorliege.

IV. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erging am

22. Oktober 2020. In ihrer vorläufigen Stellungnahme in der Mitteilung der Beschwerdekammer vom 25. Juni 2021 gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammer (VOBK 2020) führte die Kammer aus, dass

- der Einwand der Einsprechenden zu den Merkmalen ,,[1e1]" und ,,[1h]" bereits im Einspruchsverfahren in Bezug auf das Patent in der erteilten Fassung hätte vorgebracht werden können,

- die Zulassung daher gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 im Ermessen der Kammer stünde und in der mündlichen Verhandlung zu diskutieren sein werde,

- der Umstand, dass die Antragstellerin den vorliegenden Antrag erst im Laufe der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellt hat, berücksichtigt werden könnte,

- somit zu klären sein könnte, ob der Einwand als eine rechtzeitige und angemessene Reaktion auf die späte Vorlage des geänderten Anspruchssatzes in der letzten Phase des Einspruchsverfahren zu werten wäre,

- sollte der Einwand tatsächlich zulässig sein, insbesondere zu diskutieren wäre, ob das Merkmal ,,[1e1]" in Verbindung mit dem Merkmal ,,[1h]" über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe (Artikel 123 (2) EPÜ),

- in diesem Zusammenhang grundsätzlich anzumerken sei, dass die ursprünglich eingereichten Ansprüche aufgrund der Rückbezüge in den Ansprüchen 2, 3 und 5 möglicherweise keine unmittelbare Basis für eine Kombination des Merkmals ,,[1e1]" mit ,,[1h]" zu bieten schienen, und

- der Beschwerde bezüglich erfinderischer Tätigkeit kein Erfolg in Aussicht gestellt werden könne.

Unter dem letzten Punkt der Mitteilung ,,Vorbereitung der mündlichen Verhandlung" wurde auf die Möglichkeiten einer teilweisen Rückerstattung der Beschwerdegebühr bei rechtzeitiger Rücknahme der Beschwerde oder des Antrags auf mündliche Verhandlung nach Regel 103 (3) und (4) a) und c) EPÜ hingewiesen, und insbesondere auf den Artikel 13 (2) VOBK 2020.

V. In der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2021 ließ die Beschwerdekammer den Einwand der Einsprechenden nach Artikel 123 (2) EPÜ zu und stellte fest, dass der Anspruch 1 des Hilfsantrags, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag, nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle, woraufhin die Antragstellerin einen Hilfsantrag einreichte. Nach Erörterung der Frage, ob die Antragstellerin stichhaltige Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorgebracht hat bzw. das Argument der Antragstellerin erörtert wurde, dass sie nach Artikel 113 (1) EPÜ einen Anspruch darauf habe, zumindest eine Möglichkeit zu erhalten, auf das unvorhersehbare Ergebnis zu reagieren - nämlich dass der von der Einsprechenden nach Artikel 123 (2) EPÜ erhobene Einwand in der mündlichen Verhandlung zugelassen worden sei - teilte die Beschwerdekammer mit, sie beabsichtige den in der mündlichen Verhandlung gerade gestellten Hilfsantrag nicht zuzulassen. Die Antragstellerin erhob gegen die Nichtzulassung des Hilfsantrags eine Rüge gemäß Regel 106 EPÜ. Die Beschwerdekammer wies diese zurück (vgl. S. 7 des Protokolls) und schloss die Verhandlung.

VI. Zur Begründung ihrer Ermessensausübung bei der Zulassung - gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 - des Einwands der Einsprechenden gemäß Artikel 123 (2) EPÜ, führte die Beschwerdekammer in den Entscheidungsgründen (1.) - zusammengefasst - aus, dass

- die Einsprechende den Einwand bereits im Einspruchsverfahren, spätestens in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, hätte geltend machen können und sollen,

- der Einwand zum einen aufgrund des Verhaltens der Einsprechenden erstmals im Beschwerdeverfahren zu prüfen war,

- zum anderen zu berücksichtigen war, dass die Antragstellerin ihren Hilfsantrag erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellt hätte, und die Einsprechende ihren Einwand, wenn auch nicht unmittelbar danach in der mündlichen Verhandlung vor der Abteilung, so doch mit der Beschwerdebegründung erhoben habe, und

- der Einwand prima facie relevant wäre und keinen neuen komplexen Sachverhalt darstellte.

VII. Zur Begründung ihrer Ermessensausübung, den Hilfsantrag gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht zuzulassen, führte die Beschwerdekammer in den Entscheidungsgründen (3.) - zusammengefasst - aus, dass

- das Argument der Antragstellerin, wonach die Zulassung des Einwands der Einsprechenden gemäß Artikel 123 (2) EPÜ aufgrund einer Änderung der Verfahrenssituation außergewöhnliche Umstände darstelle, nicht überzeugend sei,

- die Antragstellerin in ihrer Beschwerdeerwiderung nicht inhaltlich zu dem Einwand Stellung genommen und keine geänderten Ansprüche eingereicht, sondern lediglich die Nichtzulassung des Einwands beantragt und begründet hätte,

- die Mitteilung der Kammer keinen neuen Einwand enthalte,

- in der mündlichen Verhandlung keine neuen Einwände oder Fragen behandelt worden seien,

- die Antragstellerin, aufgrund der Beschwerdebegründung und der Mitteilung der Kammer, damit rechnen musste, dass der Einwand in der Verhandlung zugelassen werde,

- die Beschwerdebegründung und die Beschwerdeerwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten müssten (mit Hinweis auf Artikel 12 (2) VOBK 2007 und Artikel 12 (3) VOBK 2020), und,

- da die Antragstellerin keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 darlegen konnte, es nicht zweckdienlich war, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 genannten Kriterien für die Zulassung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrags heranzuziehen.

VIII. Zur Begründung der Zurückweisung des Einwands nach Regel 106 EPÜ hat die Kammer in den Entscheidungsgründen (4.) außerdem - zusammengefasst - ausgeführt, dass

- aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ kein Recht abgeleitet werden könne, zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens Anträge stellen zu können,

- die Antragstellerin im vorliegenden Fall verpflichtet gewesen wäre, in unmittelbarer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung geänderte Ansprüche als Rückzugpositionen - unter Berücksichtigung der von der Einsprechenden erhobenen Einwände - einzureichen, und

- der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ durch Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht eingeschränkt werde.

IX. Zur Begründung ihrer auf Artikel 112a (2) (c) EPÜ gestützten Rüge, die Nichtzulassung des Hilfsantrags verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ in schwerwiegender Weise, hat die Antragstellerin - zusammengefasst - vorgetragen, dass

- die Beschwerdekammer fälschlicherweise davon ausgegangen sei (Punkt 3.3 der Entscheidungsgründe), dass im vorliegenden Fall kein außergewöhnlicher Umstand nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorliege, obwohl eine für die Patentinhaberin nicht vorhersehbare Änderung der Verfahrenslage eingetreten sei,

- es für die Antragstellerin keine Veranlassung gegeben habe, auf die Beschwerdebegründung der Einsprechenden oder die Mitteilung der Beschwerdekammer unmittelbar mit einem Hilfsantrag zu reagieren, da noch nicht klar war, ob der Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ zum Verfahren zugelassen werden würde,

- der Einwand der Einsprechenden nach Artikel 123 (2) EPÜ von der Einspruchsabteilung und von der Beschwerdekammer bis zur mündlichen Verhandlung nicht als prima facie relevant erkannt worden sei,

- das Argument und die Begründung, den Antrag der Beschwerdeführerin trotz verspäteten Vorbringens als prima facie relevant zuzulassen, erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2021 vorgebracht und diskutiert worden seien - sie seien deshalb nicht vorhersehbar gewesen,

- die entsprechende Reaktion in Form eines Hilfsantrages auf dieses erstmals im gesamten Einspruchs- und Beschwerdeverfahren gebrachte Argument der Patentinhaberin und Antragstellerin gemäß Artikel 113 EPÜ hätte zugelassen werden müssen,

- bei Hilfsanträgen und Behebungen eines Mangels nach Artikel 123 (2) EPÜ die Gegenseite regelmäßig erkennen könne, ob die Patentinhaberin dieses Problem ebenfalls sieht und dies entsprechend deutlich macht,

- in einem fairen Verfahren keine der Parteien gezwungen sei, während des Verfahrens von sich aus auf Vorrat Anträge zu stellen, die die eigene Position untergraben und damit der Gegenseite in die Hände zu spielen,

- hätte die Patentinhaberin den Hilfsantrag sofort als Reaktion auf das erste Vorbringen der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung gestellt, die Patentinhaberin die Beschwerdekammer höchstwahrscheinlich auf das Problem aufmerksam gemacht hätte, da der Hilfsantrag, welcher das Problem nach Artikel 123 (2) EPÜ beseitigt, das Problem klar aufzeige,

- eine derartige Verpflichtung gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße,

- die Auffassung der Beschwerdekammer zur Folge hätte, dass die Patentinhaberin grundsätzlich gezwungen wäre, in einem frühen Stadium des Beschwerdeverfahrens auf jede noch so unwahrscheinliche, von den Einsprechenden angesprochene Schwachstelle mit Hilfsanträgen zu reagieren, und damit die Einsprechenden und auch die Beschwerdekammer auf diese Schwachstellen hinzuweisen,

- ein solches Vorgehen auch nicht dem Gebot eines effizienten Verfahrens diene,

- es nicht Aufgabe der Patentinhaberin sei, die Aussicht auf Erfolg von Argumenten der Einsprechenden zu beurteilen,

- die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung verkannt habe, dass es im Sinne des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und unter Berücksichtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ zwingend geboten ist, Ungerechtigkeiten, die aus dem Wechsel der VOBK (hier VOBK 2007 zu VOBK 2020) entstehen könnten, nach Artikel 113 (1) EPÜ entsprechend zu berücksichtigen,

- die Beschwerdekammer den neuen Einwand gemäß Artikel 123 (2) EPÜ nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 zugelassen habe, weil er angeblich prima facie relevant sei, diese Begründung als äußerst großzügig zugunsten der Einsprechenden angesehen werden müsse und die Beschwerdekammer dann nicht zu Ungunsten der Patentinhaberin den Artikel 13 (2) VOBK 2020 sehr eng auslegen und den Hilfsantrag der Patentinhaberin wegen angeblich fehlender außergewöhnlicher Umstände zurückweisen dürfe,

- die Beschwerdekammer in ihrer Mitteilung den Hauptantrag der Patentinhaberin als neu und erfinderisch angesehen und unter Punkt 14 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung der Beschwerdeführerin nahegelegt habe, die Beschwerde zurückzunehmen um so eine teilweise Rückerstattung der Beschwerdegebühr zu erhalten, wobei bei dieser Sachlage die Patentinhaberin erst recht keinen Grund gehabt habe, vorsorglich einen Hilfsantrag zu stellen,

- die Nichtzulassung des Hilfsantrags das Verfahren nicht effizienter gemacht habe: der Hilfsantrag unterscheide sich vom Hauptantrag lediglich durch die Streichung einer Alternative in Anspruch 1. Diese Änderung sei für alle Beteiligten leicht verständlich und bedürfe keiner aufwendigen Prüfung die Behandlung und Zulassung des Hilfsantrags hätte weniger Zeit in der mündlichen Verhandlung in Anspruch genommen als die Rüge nach Regel 106 EPÜ und die Diskussion und Entscheidung der Beschwerdekammer darüber, und

- da die Folge der Nichtzulassung des Hilfsantrags der vollständige Widerruf des Patents gewesen sei, ein absolut schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ vorliege, denn eine schwerwiegendere Folge als der vollständige Widerruf des Patents könne es in einem Patentverwaltungsverfahren für eine Patentinhaberin nicht geben.

X. In ihrer Besetzung nach Regel 109 (2) a) EPÜ hat die Große Beschwerdekammer einen Mittelung gemäß Artikel 13 und 14(2) der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) erlassen und die Antragstellerin zu einer mündlichen Verhandlung geladen.

Die Große Beschwerdekammer hat der Antragstellerin mitgeteilt, dass sie der vorläufigen Meinung sei, dass der Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet zu verwerfen sei. Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 25. Juni 2024 zu dieser Mitteilung Stellung genommen.

XI. Die mündliche Verhandlung fand am 16. September 2024 statt.

Die Antragstellerin beantragte

- die Aufhebung der Entscheidung T 1786/16,

- die Wiedereröffnung des Verfahrens vor der zuständigen Beschwerdekammer und

- die Rückzahlung der Antragsgebühr.

Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Große Beschwerdekammer ihre Entscheidung.

Entscheidungsgründe

1. Eine Rüge nach Regel 106 EPÜ wurde erhoben, die Beschwerdekammer hat den Einwand zurückgewiesen, und auch die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt.

2. Begründetheit

2.1 Die Antragstellerin macht geltend, dass die Nichtzulassung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrags ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ in schwerwiegender Weise verletze.

Die Nichtzulassung beruht auf der Ausübung des Ermessens nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 der Beschwerdekammer. Eine Ermessensausübung durch eine Beschwerdekammer bezüglich der Zulässigkeit neuen Vorbringens kann nur überprüft werden, wenn sie willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig ist und damit eine schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf rechtlichen Gehörs vorliegt (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, V.B.3.4.3; R 10/09, R 9/11; R 10/11, R 17/11, R 6/17 und R 6/20). Ein Überprüfungsantrag darf keinesfalls dazu instrumentalisiert werden, die Anwendung des materiellen Rechts überprüfen zu lassen. Aus dieser fehlenden Zuständigkeit der Großen Beschwerdekammer folgt, dass sie nicht befugt ist, die normale Ausübung des Ermessens durch eine Kammer,zu überprüfen (ibid.). Bei Fragen der Zulassung neuer Anträge ist das rechtliche Gehör in der Regel gewahrt, wenn der betroffene Beteiligte Gelegenheit hatte, sich zur Ausübung des Ermessens bei der Abwägung der Zulassungskriterien ausreichend zu äußern (R 10/11, R 11/11, R 13/11, R 4/13).

2.2 Die Antragstellerin hat nicht gerügt, dass sie zur Frage der Zulässigkeit des Hilfsantrags nicht gehört worden sei. Das Protokoll der mündlichen Verhandlung und die zu überprüfende Entscheidung bestätigen auch, dass sie tatsächlich angehört wurde, zuerst vor der Stellungnahme der Kammer und dann nochmals im Zusammenhang mit der Rüge.

2.3 Kern der konkreten Ermessensausübung der Beschwerdekammer nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 war die Frage, ob die Antragstellerin ausreichend Anlass und Gelegenheit gehabt hatte, den Hilfsantrag zu einem früheren Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens zu stellen (Punkt 3.5 mit Verweis auf Punkt 3.3 der Entscheidungsgründe). Die Antragstellerin argumentiert zusammenfassend, dass es keine Veranlassung gab, den Hilfsantrag vor der Entscheidung der Beschwerdekammer in der mündlichen Verhandlung - den Einwand der Einsprechenden gemäß Artikel 123 (2) EPÜ zuzulassen - einzureichen.

Es lässt sich feststellen, dass sich die Beantwortung der genannten Kernfrage bzw. die Begründung der Nichtzulassung durch die Beschwerdekammer auf die tatsächlichen Prozesshandlungen der Parteien bezogen. Nach der Auffassung der Großen Beschwerdekammer - und ohne die Ausübung des Ermessens der Beschwerdekammer zu überprüfen - unterlagen sie auch im Rahmen einer ordentlichen und konkret bezogenen Prüfung der Frage, ob die Antragstellerin stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt hat, dass außergewöhnliche Umstände - nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 - vorlagen. Von daher fehlen bereits Anhaltspunkte für eine Schlussfolgerung, dass die Ermessungsausübung der Beschwerdekammer willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig war.

2.4 Wie in der Entscheidungsbegründung der Beschwerdekammer erwähnt (Entscheidungsgründe 1.3), war - bei der der Prüfung der Zulassung des neuen Einwands der Einsprechende gemäß Artikel 123 (2) EPÜ - eine Berücksichtigung auch der prima facie Relevanz im Einklang mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Vor diesem Hintergrund kann die Argumentation der Antragstellerin, dass das Vortragen und die Begründung der prima facie Relevanz erst bei der mündlichen Verhandlung für sie nicht vorhersehbar seien, nicht überzeugen. In dieser Hinsicht hervorzuheben ist, dass die einschlägige Prüfung sich auf einem Vergleich der Kombination von Merkmalen im Anspruch 1 des Hilfsantrags der Antragstellerin mit ihrer ursprünglich eingereichten Fassung bezog. Die Beschwerdekammer hatte zur Vorbereitung der Verhandlung mitgeteilt (siehe oben, Punkt IV.), dass in diesem Zusammenhang grundsätzlich anzumerken sei, dass die ursprünglich eingereichten Ansprüche aufgrund der Rückbezüge in den Ansprüchen 2, 3 und 5 möglicherweise keine unmittelbare Basis für eine Kombination des Merkmals ,,[1e1]" mit ,,[1h]" zu bieten schienen. Die für die Prüfung maßgeblichen tatsächlichen Grundlage war der Antragstellerin also wohl bekannt.

2.5 Die Antragstellerin macht außerdem geltend, dass die Verpflichtung, auf das erstmalige Vorbringen der Einsprechenden in ihrer Beschwerdebegründung sofort mit einem Hilfsantrag zu reagieren und damit Schwachstellen im eigenen Patent offenlegen zu müssen, dem Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspreche. Sie argumentiert, dass ein Zwang, in einem frühen Stadium des Beschwerdeverfahrens mit Hilfsanträgen reagieren zu müssen, nicht dem Gebot eines effizienten Verfahrens diene. Sie trägt weiter vor, es sei im Sinne des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und unter Berücksichtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ zwingend geboten, Ungerechtigkeiten, die durch den Wechsel der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern während des Verfahrens entstehen können, zu berücksichtigen - die Zulassung des Einwands der Einsprechenden nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 sei als äußerst großzügig zu Gunsten der Einsprechenden anzusehen; der Hilfsantrag der Antragstellerin dürfe dann mit einer ganz engen Auslegung des Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht zurückgewiesen werden.

2.6 Diese Argumente der Antragstellerin beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Artikel 13 (2) und den Übergangsbestimmungen in Artikel 25 VOBK 2020 einerseits und dem Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ anderseits. Sie veranlassen die Große Beschwerdekammer zu den folgenden Erläuterungen.

2.7 Die Große Beschwerdekammer weist zunächst darauf hin, dass der Gesetzgeber beim Erlaß von Regelungen zur Umsetzung von Bestimmungen des EPÜ, wie beispielsweise der VOBK auf der Grundlage des Artikels 23 (4) EPÜ, über einen weitreichenden Ermessensspielraum verfügt (siehe R 6/20, Reasons for the Decision, 3.2.2).

2.8 Die einschlägigen Bestimmungen der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern wurden vom Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation am 26. Juni 2019 genehmigt, gestützt auf das Europäische Patentübereinkommen, insbesondere auf Artikel 23 Absatz 4, und auf Regel 12c Absatz 2 der Ausführungsordnung zum Europäischen Patentübereinkommen (Amtsblatt EPA, 2019, A63).

2.9 In den Erläuterungen zu den Änderungen wird aus der Tatsache, "dass die Aufgabe der Kammern in erster Linie darin besteht, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen", die Konsequenz gezogen, "dass die Beteiligten mit zunehmendem Fortschreiten des Beschwerdeverfahrens immer weniger Möglichkeiten zur Änderung ihres Vorbringens erhalten" (CA/3/19, Punkt 48). Es wird betont, dass es selbstverständlich ist, "dass bei der Anwendung des Konvergenzansatzes das in Artikel 113 EPÜ garantierte rechtliche Gehör der Beteiligten sowie ganz allgemein ihr Recht auf ein faires Verfahren zu beachten sind"(Punkt 51).

2.10 Die Große Beschwerdekammer findet in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keine Anhaltspunkte dafür, einschränkende Regelungen wie die des Konvergenzansatzes grundsätzlich in Frage zu stellen oder ihrer Anwendung generell die Vereinbarkeit mit Artikel 6 EMRK abzusprechen. Nach der einschlägigen Rechtsprechung - in Bezug auf zivilprozessrechtliche Regelungen - sei im Gegenteil "die Einhaltung formalisierter Zivilprozessregeln, durch die die Parteien die Entscheidung eines Zivilstreits sicherstellen, wertvoll und wichtig, - da sie in der Lage" ist, "den Ermessensspielraum zu begrenzen, die Waffengleichheit zu gewährleisten, Willkür zu verhindern, die wirksame Entscheidung einer Streitigkeit und die Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist zu gewährleisten und Rechtssicherheit und Achtung des Gerichts zu gewährleisten" (Zubac v. Croatia, 5 April 2018, § 96 - deutsche Übersetzung der Großen Beschwerdekammer).

2.11 Das Argument der Antragstellerin, Schwachstellen des eigenen Patents offenlegen zu müssen, widerspreche dem Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK, erinnert zudem etwa an das ebenfalls durch Art. 6 § 1 EMRK geschützte Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen. Allerdings gilt, wie auch in der juristischen Literatur ausgeführt, das Nemo-Tenetur-Prinzip nur im Strafverfahren (siehe z.B. Karpenstein, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: Kommentar. 3rd ed., C.H. Beck 2022, pp. 235-238,

§ 140).

2.12 Die Große Beschwerdekammer stellt fest, dass die Antragstellerin auf keine Rechtsprechung hingewiesen hat, die ihre Behauptung stützen würde, dass eine Verpflichtung zur Einreichung eines Hilfsantrags vor der Zulassung eines Einwands, der ausführlich diskutiert worden ist und dadurch die Schwächen des Patents bereits offengelegt hat, eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit darstellen würde.

Vielmehr scheint eine bewusste Zurückhaltung der Rückzugposition gemäß Hilfsantrag aus prozesstaktischen Gründen bis zur mündlichen Verhandlung gerade dem Grundsatz der Waffengleichheit zu widersprechen, nachdem die Gegenseite die vermeintliche Schwachstelle des Patents ja bereits frühzeitig offengelegt hat, und damit ihrer Pflicht zur Verfahrensbeförderung nachgekommen ist. Im Übrigen bezieht sich die Rechtsprechung des EGMR zur Nichtzulassung eines Antrags oder Beweismittels eher insbesondere auf die Prüfung, ob ein legitimes Ziel in verhältnismäßiger Weise verfolgt wurde oder ob ein ,,übertriebener Formalismus" vorliegt (siehe RTBF v. Belgium, 29 March 2011, §§ 72 - 75 und Efstratiou et al. v. Greece,

19 November 2020, §§ 40 - 53). Die Große Beschwerdekammer kann keine derartigen Umstände in diesem Fall erkennen.

2.13 Die Argumentation der Antragstellerin scheint schließlich darauf hinzudeuten, dass es aufgrund der Anwendung des VOBK 2007 und des VOBK 2020 unterschiedliche Regeln für die Antragstellerin und die einsprechende Beschwerdeführerin gab. Die Große Beschwerdekammer möchte in dieser Hinsicht darauf hinweisen, dass Art. 12 (4) VOBK 2007 für die Eingaben beider Parteien auf der ersten Ebene des konvergenten Ansatzes galt, d. h. für die Beschwerdebegründung, einschließlich des neuen Einwandes nach Art. 123 (2) EPÜ, und die Erwiderung der Antragstellerin. Beide Eingaben wurden vor dem Inkrafttreten der VOBK 2020 eingereicht. Die Regelung nach Art. 13 VOBK 2020 für die weiteren Eingaben mag zwar die Kriterien für die Zulassung weiteren Vorbringens verschärft haben, galt aber für beide Parteien gleich. Der abgelehnte Antrag wurde erst in der mündlichen Verhandlung im September 2021 eingereicht. Die Ausgestaltung der Übergangsbestimmungen in Artikel 25 VOBK 2020 liegt dabei im Ermessensspielraum des Gesetzgebers (vgl. obigen Punkt 2.7).

2.14 Aus den vorstehenden Erwägungen zieht die Große Beschwerdekammer den Schluss, dass der Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden ist und deshalb der Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist

(R. 109 (2) a) EPÜ)

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Antrag auf Überprüfung wird einstimmig als offensichtlich unbegründet verworfen.

Quick Navigation