R 0013/21 (Antrag auf Überprüfung) of 18.10.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:R001321.20241018
Datum der Entscheidung: 18 October 2024
Aktenzeichen: R 0013/21
Anmeldenummer: 06700603.1
IPC-Klasse: H02P 6/18
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: ROTORLAGENDETEKTION
Name des Anmelders: Robert Bosch GmbH
Name des Einsprechenden: Brose Fahrzeugteile GmbH & Co.
Kommanditgesellschaft, Würzburg
Kammer: EBA
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 112a(2)(c)
Schlagwörter: Antrag auf Überprüfung - schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
R 0009/11
R 0006/17
R 0011/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Der Antrag auf Überprüfung betrifft die Entscheidung T 0329/16 der Technischen Beschwerdekammer 3.5.02 vom 9. April 2021 (im Folgenden: die Entscheidung, die Kammer). Bei der Antragstellerin handelt es sich um die Einsprechende und Beschwerdeführerin.

II. Das Streitpatent hat ein Verfahren zur Bestimmung der Lage eines Rotors einer elektrischen Maschine mit mehreren Statorsträngen zum Gegenstand. Gegen dessen Erteilung hatte die Antragstellerin einen Einspruch erhoben. Der Einspruch war gestützt, inter alia, auf Artikel 100 a) EPÜ. In ihrer Zwischenentscheidung gelangte die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis, dass das Streitpatent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, basierend auf dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag 13 den Erfordernissen des EPÜ genügten. Die Einspruchsabteilung erachtete den Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung sowie denjenigen von Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag 1 als durch die Entgegenhaltung D12 neuheitsschädlich vorweggenommen. Die beiden Anträge lagen sodann dem Beschwerdeverfahren zugrunde, und sind für dieses Überprüfungsverfahren relevant. Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag 1 weist gegenüber der erteilten Fassung des Patents ein zusätzliches Merkmal A7 auf.

III. In der Beschwerdebegründung hatte die Patentinhaberin sich mit der Neuheit des durch den Hauptantrag beanspruchten Gegenstands gegenüber D12 sowie mit dessen erfinderischer Tätigkeit ausgehend von D12 in Kombination mit D9 oder E2 befasst. Zum Hilfsantrag 1 hatte sie argumentiert, dass die Feststellungen der Einspruchsabteilung zur Frage der mangelnden Neuheit vom Merkmal A7 gegenüber D12 unrichtig seien(vgl. Beschwerdebegründung, Punkt Nr. 3.2.1).

Zur erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 hatte die Patentinhaberin Folgendes ausgeführt: ,,Die Zwischenentscheidung umfasst keinerlei Diskussion der erfinderischen Tätigkeit. Da jedoch bereits Anspruch 1 des Hauptantrags auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht und die Änderungen des Anspruchs 1 des Hilfsantrags gegenüber dem Anspruch 1 des Hauptantrags den Gegenstand weiter detaillieren, beruht auch der Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit. Es wird daher bezüglich der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit auf die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit zum Hauptantrag verwiesen."

IV. In der Erwiderung auf die Beschwerde der Patentinhaberin hatte die ebenfalls Beschwerde führende Antragstellerin zur erfinderischen Tätigkeit und Neuheit des Gegenstands des Hauptantrags Stellung genommen. Zum Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 1 hatte sie ausgeführt, dass das Merkmal A7 aus der Druckschrift D12 bekannt sei. Daher sei auch dieser Anspruch nicht neu. Ferner hatte die Antragstellerin in der Zusammenfassung ihrer Beschwerdeerwiderung Folgendes vorgetragen: ,,Wie durch die vorausgegangenen Ausführungen dargelegt wurde, ist der Patentanspruch 1 des Hauptantrags weder neu noch erfinderisch. Darüber hinaus können auch die Hilfsanträge 1-13 nicht die Erfordernisse bezüglich Neuheit und/oder erfinderischer Tätigkeit erfüllen" (vgl. Beschwerdeerwiderung, Punkt III, S. 6). Weitere Ausführungen betreffend die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Hilfsantrags 1 enthielt der Schriftsatz nicht.

V. In ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK vertrat die Kammer die vorläufige Einschätzung, dass der Hauptantrag nicht gewährbar sei, weil dessen Gegenstand durch D12 neuheitsschädlich vorweggenommen sei.

Zum Hilfsantrag 1 ließ die Kammer die Frage offen, ob das Merkmal A7 durch D12 offenbart sei: ,,Bei der aus D12 bekannten Methode wird die Lage des PM-Rotors anhand der Erkenntnis bestimmt, dass der Quotient aus Spannungsraumzeigerbetrag und zeitlicher Änderung des Stromraumzeigerbetrages mit der doppelten Periodizität einer Polteilung zwischen einem Höchstwert zwischen zwei benachbarten Magneten und einem Tiefstwert in der Magnetmitte schwankt. Es wird in verschiedenen Strängen wiederholt gemessen, und aus dem ermittelten Quotienten ein komplexer Kennwert gebildet, dessen Argument mit dem doppelten Wert der elektrischen Polradlage gamma verknüpft ist. Die Frage ist, ob die Bildung dieses Kennwerts die Bestimmung des größten gemessenen Stroms involviert. Die Kammer möchte das eventuell in der mündlichen Verhandlung näher erörtern" (vgl. Punkt Nr. 4.5 der Mitteilung vom 26. Juni 2020).

VI. Nach der vorgenannten Mitteilung reichte die Antragstellerin einen weiteren Schriftsatz ein, in dem sie erneut auf die Neuheit des Hilfsantrags 1 einging. Sie legte dar, warum auch Merkmal A7 sowie die übrigen Merkmale des Anspruchs 1 durch D12 neuheitsschädlich vorweggenommen seien. Auch in diesem Schriftsatz vom 4. März 2021 ging die Antragstellerin nicht auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 ein, falls das Merkmal A7 doch als neuheitsbegründend angesehen werde sollte.

VII. In der mündlichen Verhandlung kam die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass das Merkmal A7 des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 aus D12 nicht bekannt sei. Daher sei der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 gegenüber D12 neu (vgl. Punkte Nr. 6.6-6.8 der Entscheidung).

VIII. Vor diesem Hintergrund wollte die Antragstellerin zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vortragen, ausgehend von D12 als nächstliegendem Stand der Technik in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen bzw. der Druckschrift D9 (vgl. Punkt V der Entscheidung). Außerdem beantragte die Antragstellerin, die Angelegenheit zur Diskussion der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Hilfsantrags 1 an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Die Kammer ließ jedoch die Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit in Bezug auf den Hilfsantrag 1 nicht zu, lehnte den Antrag auf Zurückverweisung ab und entschied in der Sache selbst (vgl. hierzu unten, Punkt XIII).

IX. In Reaktion auf die Entscheidung der Kammer, die Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht ins Verfahren zuzulassen, erhob die Antragstellerin eine Rüge nach Regel 106 EPÜ (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9. April 2021, S. 4). Die Einsprechende rügte die Entscheidung der Kammer, die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit nicht zuzulassen. Sie führte dazu im Wesentlichen aus, ,,dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei, da ihr keine Möglichkeit eingeräumt worden sei, zur Frage der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 Stellung zu nehmen" (vgl. Punkte V und 8.1 der Entscheidung). Wegen des genauen Wortlautes der Rüge wird auf den Anhang zum Verhandlungsprotokoll Bezug genommen. Die Beschwerdekammer wies die Rüge noch in der mündlichen Verhandlung zurück.

X. In der schriftlichen Entscheidung führte die Kammer zur Begründung der Nichtzulassung der Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit aus, dass die Einsprechende diese Einwände bereits in der Beschwerdeerwiderung hätte substantiiert vortragen müssen. Die Patentinhaberin habe in der Beschwerdebegründung ausführlich zur Neuheit des Anspruchs Stellung genommen (vgl. Punkt Nr. 7.7 der Entscheidung). Im Hinblick darauf habe die Einsprechende nicht vertrauen können, dass sich die Kammer der Auffassung der Einspruchsabteilung anschließen werde. Ein bloß allgemeiner Hinweis, wie unter Punkt III der Beschwerdeerwiderung enthalten, dass die erfinderische Tätigkeit der Hilfsanträge 1 bis 13 bestritten werde, stellte nach Auffassung der Kammer keinen substantiierten Vortrag dar. Auch ein Vortrag im Einspruchsverfahren sei nicht ausreichend, da er nicht den Anforderungen des Artikels 12 (3) VOBK 2020 entspräche. Vor diesem Hintergrund kam die Kammer zu dem Schluss, dass die neuen Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit eine Änderung des Vorbringens der Einsprechenden darstellten. Deren Zulassung ins Verfahren gemäß Artikel 13 (1) VOBK sei ins Ermessen der Kammer gestellt (vgl. Punkt Nr. 7.8).

Die Kammer sah keinen überzeugenden Grund für diese Änderung des Vorbringens im spätestmöglichen Verfahrensstadium der mündlichen Verhandlung, da

- es eine vorhersehbare Möglichkeit sei, dass eine Kammer von den Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung abweiche, und

- die Einsprechende nicht auf Punkt Nr. 4.5 der Mitteilung vom 26. Juni 2020 der Kammer reagiert habe, der auf den Diskussionsbedarf bezüglich Merkmal A7 und die Frage der Neuheit von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 hingewiesen hatte (Punkt Nr. 7.8).

Zudem war für die Kammer zu berücksichtigen, dass die Patentinhaberin keine Möglichkeit gehabt habe, sich auf die in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebrachten Einwände vorzubereiten (ibidem).

XI. Zur Begründung der Ablehnung des Antrags auf Zurückverweisung führte die Kammer aus, dass dieser Antrag gegenstandslos geworden sei (vgl. Punkt Nr. 7.9), da die Einwände zur erfinderischen Tätigkeit nicht zugelassen worden seien.

XII. Die Kammer führte zur Rüge nach Regel 106 EPÜ aus, dass der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht das Recht eines Beteiligten umfasse, in jedem beliebigen Stadium des Verfahrens einen neuen Sachvortrag einführen zu dürfen (vgl. Punkt Nr. 8.1). In diesem Zusammenhang erwähnte sie Artikel 114 (2) EPÜ, welcher die Möglichkeit der Nichtberücksichtigung von verspätetem Vorbringen vorsehe. Die Bestimmungen der Artikel 12 und 13 VOBK 2020 konkretisierten nach Ansicht der Kammer diesen allgemeinen Grundsatz für das Beschwerdeverfahren. Da die verspätet vorgebrachten Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht ins Verfahren zugelassen worden seien, seien die Parteien zu diesem Vorbringen nicht zu hören gewesen (ibidem). Die Rüge sei demnach zurückzuweisen gewesen.

XIII. Die Kammer hob die angefochtene Entscheidung auf und wies die Sache an die Einspruchsabteilung zurück mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang gemäß dem Hilfsantrag 1 aufrechtzuerhalten.

XIV. Die Antragstellerin stützt ihren Antrag auf Artikel 112a 2) c) EPÜ und macht einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ geltend. Sie beantragt

- die Entscheidung T 0329/16 der Beschwerdekammer 3.5.02 vom 9. April 2021 aufzuheben und die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der nach Regel 12b (4) EPÜ zuständigen Beschwerdekammer anzuordnen,

- nach Regel 108 (3) Satz 2 EPÜ anzuordnen, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen, sowie

- die Rückzahlung der Überprüfungsgebühr.

XV. Die schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liege darin, dass es der Antragstellerin verwehrt worden sei, die Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit vorzubringen. Die diesbezügliche Ermessensentscheidung sei aus den folgenden Gründen rechtsfehlerhaft.

XVI. Erstens sei die Auffassung der Beschwerdekammer unbegründet, dass das Vorbringen zur erfinderischen Tätigkeit die Patentinhaberin überrascht hätte, da sie keine Gelegenheit gehabt habe, sich darauf vorzubereiten (S. 12 des Überprüfungsantrags). Die Patentinhaberin selbst habe ,,die erfinderische Tätigkeit des Hilfsantrags 1", ausgehend von D12 u.a. in Kombination mit D9, diskutiert (S. 13 des Überprüfungsantrags; gemeint ist jedoch offensichtlich der Hauptantrag, vgl. S. 7-8 des Überprüfungsantrags). Sowohl die Frage der Neuheit des Hauptantrags als auch die des Hilfsantrags 1, ausgehend von D12, seien im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörtert worden. Eine anschließende Diskussion der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von demselben Dokument D12 als nächstliegenden Stand der Technik hätte somit lediglich an die bereits geführte Diskussion der Neuheit angeknüpft und gegebenenfalls ergänzend auf das allgemeine Fachwissen des einschlägigen Fachmanns zurückgegriffen.

XVII. Zweitens sei die Ansicht der Kammer, dass für die Einsprechende eine Obliegenheit bestanden habe, entsprechende Einwände bezüglich mangelnder erfinderischer Tätigkeit bereits in der Beschwerdeerwiderung zu erheben, nicht gerechtfertigt. Die Ausführungen in Punkt III der Beschwerdeerwiderung, die die Kammer als unzureichend substantiierten Vortrag angesehen habe, sollten im Zusammenhang mit den weiteren Ausführungen in der Beschwerdeerwiderung betrachtet werden. Die Antragstellerin habe ausgehend von D12 ausführlich zur mangelnden Neuheit und erfinderischen Tätigkeit des Hauptantrags vorgetragen. Darüber hinaus habe sie zum Hilfsantrag 1 vorgetragen, dass das zusätzliche Merkmal A7 ebenfalls in D12 offenbart sei und dass auch Anspruch 1 des Hilfsantrags gegenüber D12 nicht neu sei. Da folglich das zusätzliche Merkmal A7 bereits in D12 (als nächstliegendem Stand der Technik bezüglich der erfinderischen Tätigkeit) beschrieben worden sei, hätte sich ein darüber hinausgehendes Vorbringen zur erfinderischen Tätigkeit erübrigt, da der Angriff und die Argumentation mit denen des Hauptantrags identisch gewesen wären (vgl. S. 14 des Überprüfungsantrags).

XVIII. Drittens, und damit zusammenhängend, sei die Auffassung der Kammer, dass die Einwände der mangelnden erfinderischen Tätigkeit eine Änderung des Vorbringens darstellten und deren Zulassung in das Verfahren im Ermessen der Kammer stünde, ebenfalls unbegründet, weil

- diese Einwände bereits im Zusammenhang mit dem Hauptantrag diskutiert und vorgebracht worden wären und

- die Frage der Neuheit des Hilfsantrags 1 ausgehend von D12 ausführlich diskutiert worden wäre.

Die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit, ausgehend von denselben Offenbarungsstellen von D12 als nächstliegendem Stand der Technik und unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens, stelle daher keine Änderung des Vorbringens dar, sondern, wenn überhaupt, nur eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Argumentation, die sich mit der erfinderischen Tätigkeit und der Neuheit des Hauptantrags sowie der Neuheit des Hilfsantrags 1 befasst habe (vgl. S. 15 des Überprüfungsantrags).

XIX. Schließlich hat die Antragstellerin in ihrem Überprüfungsantrag Bedenken gegen die Entscheidung geäußert, die Angelegenheit nicht zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Sie wies darauf hin, dass die Einspruchsabteilung den Hilfsantrag 1 bereits als nicht neu betrachtet habe, weshalb dessen erfinderische Tätigkeit nicht geprüft worden sei. Die Antragstellerin kritisiert, dass die Frage der Zulassung der Einwände zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit vor der Entscheidung über den Antrag auf Zurückverweisung entschieden worden sei. Sie argumentiert, dass sich bei einer Zurückverweisung die Frage der Zulässigkeit der angeblich neuen Einwände zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit überhaupt nicht gestellt hätte.

XX. Mit Mitteilung gemäß Artikel 13 und 14 (2) VOGBK vom 30. November 2023 teilte die Große Beschwerdekammer der Antragstellerin ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit. Sie wies inter alia darauf hin, dass zu erwarten sei, dass der Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen werde.

XXI. Der Antragstellerin wurde gleichzeitig Gelegenheit gegeben, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Mitteilung Stellung zu nehmen. Mit Schriftsatz vom 8. März 2024 nahm die Antragstellerin ihren Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zurück. Zur vorläufigen Einschätzung der Großen Beschwerdekammer hat sie keine Stellung genommen.

Entscheidungsgründe

Entscheidung im schriftlichen Verfahren

1. Nach Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung ergeht die vorliegende Entscheidung im schriftlichen Verfahren. Dabei wurden das umfängliche Vorbringen der Antragstellerin und der Inhalt der öffentlichen Verfahrensakte berücksichtigt. Die Antragstellerin wurde in der Mitteilung gemäß Artikel 13 und 14 (2) VOGBK über die wesentlichen Erwägungen der Großen Beschwerdekammer informiert. In der Sache hat sie keine Stellungnahme eingereicht. Nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage bestätigt die Große Beschwerdekammer ihre frühere Einschätzung anhand der folgenden Erwägungen.

Zulässigkeit

2. Der Überprüfungsantrag ist nicht offensichtlich unzulässig im Sinne von Regel 109 (2) a) EPÜ.

Begründetheit

Nicht-Zulassung der Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1

3. Laut Protokoll über die mündliche Verhandlung vor der Kammer wurden die Parteien zur Frage der Zulassung der Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit und zum Zurückverweisungsantrag gehört (siehe erster Absatz auf Seite 4 des Verhandlungsprotokolls). Dies wird von der Antragsstellerin auch nicht bestritten.

4. Der Antrag ist darauf gerichtet, die betreffende Ermessensentscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit überprüfen zu lassen. Nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer sind Ermessensentscheidungen über die Zulassung neuen Vorbringens oder neuer Anträge nur eingeschränkt überprüfbar. Im Verfahren nach Artikel 112a EPÜ soll und darf danach allenfalls geprüft werden, (i) ob der Beteiligte zur Frage der Zulassung gehört worden ist und/oder (ii) ob ein Ermessensfehler vorliegt. Die letztgenannte Prüfung darf sich allenfalls auf zwei Aspekte beziehen, nämlich darauf, ob überhaupt ein Ermessen bestand und die Kammer diesen Umstand auch erkannt hat (Ermessensüberschreitung bzw. -nichtgebrauch), sowie darauf, ob die Ausübung des Ermessens willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig war (Ermessensmissbrauch bzw. -fehlgebrauch) (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, V.B.3.4.3, unter Hinweis auf R 6/17, Punkt Nr. 3.5; R 9/11, Punkt Nr. 3.2.3; R 11/20, Punkt Nr. 5). Im vorliegenden Verfahren scheint kein rechtlich relevanter Mangel in der Ermessensentscheidung der Kammer vorzuliegen.

5. Erstens hat die Kammer zutreffend erkannt, dass die Entscheidung über die Zulassung des Vorbringens zur erfinderischen Tätigkeit in ihrem Ermessen lag. Ein substantiierter Vortrag gegen die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 war in der Beschwerdeerwiderung der Antragstellerin nicht enthalten (vgl. oben, Punkt IV). Der in der mündlichen Verhandlung beabsichtigte Vortrag der Antragstellerin zur erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 hätte daher keine bloße Weiterentwicklung des gegen die erfinderische Tätigkeit des Hauptantrags oder die Neuheit des Hilfsantrags 1 gerichteten Vorbringens darstellen können. Ein solcher Vortrag hätte nämlich darauf eingehen müssen, warum sich eine Merkmalskombination, die das Merkmal A7 einschließt, in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben würde. Dies war für den Anspruch 1 des Hauptantrags, der das betreffende Merkmal nicht enthält, irrelevant. Dieser Vortrag wäre auch nicht identisch mit dem Vorbringen gewesen, das sich gegen die Neuheit des Hilfsantrags 1 richtet. Neuheit und erfinderische Tätigkeit sind zwei getrennt zu betrachtende Einspruchsgründe. Die Fragen, ob Merkmal A7 offenbart ist oder ob eine Kombination, die dieses Merkmal einschließt, naheliegt, erfordern zwei methodisch und inhaltlich unterschiedliche Prüfungen. Dies gilt selbst dann, wenn der Angriff auf die erfinderische Tätigkeit und der Angriff auf die Neuheit sich auf dieselbe Offenbarungsstelle und allgemeines Fachwissen stützen. Auch in diesem Fall wäre zu prüfen, welche technische Wirkung das neuheitsbegründende Merkmal hat, wie die technische Aufgabe zu formulieren ist und welche Veranlassung der Fachmann hatte, die beanspruchte Lehre zur Lösung der betreffenden Aufgabe vorzuschlagen. Diese Fragen sind für die Prüfung, ob ein Gegenstand unmittelbar und eindeutig aus einer Offenbarung abgeleitet werden kann, irrelevant.

Die Schlussfolgerung der Kammer, dass die neuen Einwände eine Änderung des Vorbringens der Antragstellerin darstellten, deren Zulassung in das Verfahren gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020 in ihrem Ermessen stand, war daher rechtsfehlerfrei.

6. Zweitens hatte die Kammer sowohl die richtigen Kriterien für die Zulassung dieses Vorbringens angewandt als auch die richtigen Fragen geprüft, einschließlich der Frage, ob dieses Vorbringen früher hätte vorgebracht werden müssen. Da die Patentinhaberin in der Beschwerdebegründung zur Neuheit des Hilfsantrags 1 vorgetragen hatte, hatte die Antragstellerin Anlass, den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit vor der mündlichen Verhandlung vorzubringen, und zwar bereits in ihrer Beschwerdeerwiderung. Darüber hinaus hätte die Antragstellerin zumindest nach der Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 und damit vor der mündlichen Verhandlung versuchen können und müssen, schriftsätzlich zur erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 vorzutragen. Mit diesem Vortrag wartete die Antragstellerin jedoch bis zum spätestmöglichen Verfahrensstadium der mündlichen Verhandlung. Die Kammer konnte keinen Grund für diese späte Änderung des Vorbringens erkennen.

Diese Analyse sowie die dabei berücksichtigten Gesichtspunkte und Kriterien stehen in vollem Einklang mit den einschlägigen Rechtsgrundlagen (Artikel 13(1) und (2) VOBK). Die daraus resultierende Zulassungsentscheidung ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.

Nicht-Zurückweisung an die Einspruchsabteilung

7. Die Antragstellerin hat auch die Entscheidung kritisiert, den Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 1 als gegenstandslos abzuweisen, obwohl die Rüge gemäß Regel 106 EPÜ nicht darauf gerichtet war (vgl. die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer vom 30. November 2023, Punkt Nr. 23). Das eigentliche Unbehagen der Antragstellerin an der Entscheidung der Kammer scheint jedoch darin zu liegen, dass das Patent aufgrund des Hilfsantrags 1 aufrechterhalten wurde, ohne dass zumindest eine Instanz - sei es die Einspruchsabteilung oder die Beschwerdekammer - den Gegenstand dieses Hilfsantrags auf erfinderische Tätigkeit geprüft hätte, obwohl mangelnde erfinderische Tätigkeit ein Einspruchsgrund gegen das erteilte Patent war. Dieses für die Antragstellerin unzufriedenstellende Ergebnis resultiert jedoch aus der besonderen Verfahrenskonstellation. Die Kammer war mit der Situation konfrontiert, dass die Antragstellerin im spätestmöglichen Verfahrenszeitpunkt, nämlich im fortgeschrittenen Verlaufe der mündlichen Verhandlung, Einwände der mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstandes von Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag 1 überhaupt erstmals erhoben. Die Patentinhaberin wandte sich ihrerseits gegen eine Zulassung und Berücksichtigung dieser Einwände, und die Beschwerdekammer ließ diese, wie dargelegt, verfahrensfehlerfrei nicht in das Verfahren zu. Die Nichtzurückverweisung stellt sich als eine verfahrenslogische Folge der Nichtzulassung der Einwände dar, wie dies der Vorsitzende der Beschwerdekammer in der mündlichen Verhandlung auch zum Ausdruck gebracht hat (siehe Absatz 2 auf Seite 4 des Protokolls über die mündliche Verhandlung). Insofern liegt die Ursache für das "Unbehagen" der Antragstellerin auch in ihrer Verantwortungssphäre für eine sachgerechte Verfahrensführung. Zwar mag die Vorgehensweise der Kammer, den Hilfsantrag 1 ohne weitere materielle Prüfung als gewährbar zu erachten, unter dem Gesichtspunkt des Artikel 101 (3) EPÜ bedenklich erscheinen (dazu ausführlich die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer vom 30. November 2023, Punkte Nr. 24-25). Letztere Vorgabe sowie mögliche Verstöße dagegen sind jedoch für das Überprüfungsverfahren irrelevant.

8. Im Ergebnis vermag die Große Beschwerdekammer auch bezüglich der von der Antragstellerin beanstandeten Entscheidung der Kammer, die Angelegenheit nicht zur weiteren Prüfung und Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, einen schwerwiegenden Verfahrensmangel zu erkennen, der einen zulässigen Überprüfungsgrund im Sinne von Artikel 112a (2) EPÜ begründende könnte und eine Aufhebung der Entscheidung der Beschwerdekammer rechtfertigen könnte.

Schlussbemerkungen

9. Nach alledem ist der Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet anzusehen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Antrag auf Überprüfung wird einstimmig als offensichtlich unbegründet verworfen.

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